Klaus Peter Knoll
Briefe aus der japanischen Provinz

7. Fuzzy Logic



Photo: kpk

Der Entdecker der fuzzy logic war ein radfahrender Japaner, oder besser ein Beobachter dieser seltsamen Spezies. Denn solange ein Japaner auf dem Fahrrad sitzt, kann er weder etwas beobachten noch entdecken. Er befindet sich nämlich in tiefer Trance, einem Zustand, der sich nur mit den Geisterfahrten eines sibirischen Schamanen vergleichen läßt, der zu diesem Behufe freilich erst mehrere Fliegenpilze zu sich nehmen muß (Achtung: Haut vorsichtig und vollständig entfernen! Für Flugverlängerung unmittelbar nach Landung die eigene Pisse zu sich nehmen, der halluzinogene Treibstoff wird anscheinend vom Körper nicht oder nur unzureichend abgebaut, funktioniert nach Auskunft der Ethnologen etliche Male...). Die hiesigen Radfahrer sind aber sicher keine Fliegenpilzfresser, eher schon Valium-Zombies, wenn man unbedingt einen pharmakologischen Anhaltspunkt braucht.

Aber nun endlich zur Sache: Man kennt das ja: Man marschiert auf dem Gehsteig friedlich vor sich hin, biegt ein Besoffener um die Ecke und hält genau auf einen zu. Ich beweg mich ein bißl nach links, er ein kleines bißl nach rechts, wieder Kollisionskurs, also zurück nach Mitte, er tut nix, ich geht weiter nach rechts, aber da hat er schon nachgezogen, dann neigt er auch noch zum Überkorrigieren, gleich wird er die Hauswand streifen. In der Zwischenzeit bin ich auf Mittelkurs gegangen, aber in die Hauswand ist er doch nicht gekracht, ausgewichen im letzten Moment. Nur: das bedeutet für mich wieder Alamrstufe rot. Ich werd langsam unruhig, während das UFO noch gar nichts zu bemerken scheint. Er ist so damit beschäftigt, die Herrschaft über seine schlingernde Untertasse zu behalten, daß er mich wahrscheinlich noch gar nicht gesehen hat. Ich hab ihn aber schon lang im Auge. Außerdem sind es nur noch sieben, acht Meter bis zum unvermeidlichen Zusammenstoß. Während ich äußerlich noch ganz ruhig bin, läuft der Navigationscomputer schon auf Hochtouren. Den Radfahrer läßt das alles kalt. Er denkt noch nichtmal an die Folgen: Gefährliche Körperverletzung mit Todesfolge, Totschlag im Affekt... Aber das könnte höchstens ich selbst bekommen, weil ich mich schon achthundertvierzigmal drüber geärgert habe, daß sie nicht nur auf dem Geshsteig fahren, sondern ganz und gar hirnlos sich auf dem Gehsteig dahinwurschteln, und dem nächsten, der mich anrempelt, werd ich eine Fotzen verpassen, die sich gewaschen hat. Aber dieser hier wird nicht der Nächste sein, oder vielleicht doch, seine Chancen auf eine pickerte Gnackwatschn stehen plötzlich wieder sehr gut. Er weiß überhaupt nicht, was er tut. Blicklos starrt er in die Ferne, während ich einen Fred Astaire aufs Pflaster legt, der sich gewaschen hat. Zwei Meter, eineinhalb, eine Fahrradlänge, aus. Aber da ist er aus den Weiten der sibirischen Steppe zurückgekehrt und hat mit traumwandlerischer Sicherheit im letzten Augenblick ein bißl an der Balance gerissen und hat es wieder einmal grad noch geschafft.

Der größte denkbare Kontrast zu dieser unwürdigen Szene ist die Begegnung zweier japanischer Radfahrer auf dem Gehsteig. Und nur dort können sie sich begegnen. Wer wie ich sich erdreistet, auf der Straße zu fahren, wird angehupt, daß es eine Freude ist. Wenn ich nicht schon ein rindsledernes Trommelfell hätt... Also: Bei der innerjapanischen Begegnung spielt sich zwar navigatorisch alles ganz genauso ab wie zuvor, es unterbleiben jedoch all die unwürdigen Anzeichen von Nervosität, Angst, Zorn etc. Man hält aufeinander zu, man probiert, linksrum, rechtsherum, mitte-links, rechtsaußen, aber man läßt sich nix anmerken. Nein, man merkt auch nix, wirklich nicht. Außerdem läuft alles in Zeitlupe ab. Man hat unglaublich viel Zeit, allerhand Lösungen auszuprobieren. Und wenns einmal gar nicht mehr geht, bremsen beide, steigen ab, entschuldigen sich wortlos per Verbeugung jeder beim andern, und schieben sich aneinander vorbei. Das Erstaunliche ist nur: es geht eh immer. Aber wie sie das machen, ab wann z.B. links wirklich links bedeutet und nicht nur ein bißl links, wann aus dem ziemlich links ein ganz links geworden ist oder ein doch lieber zurück zur Mitte, also das kann man nur mehr mit fuzzy logic entschlüsseln.

P.S.: Erst heute morgen - nach bald einem Jahr Japan - wurde ich Zeuge des statistisch längst Überfälligen: An der Ecke krachen zwei Fahrräder ineinander, die Burschen fliegen, der eine schafft einen regelrechten Salto, humpelt zu seinem Turnschuh, der Unfallgegner, wie das bei uns heißen würde, hält ihm mit Verbeugung den anderen engegen, man klaubt die Fahrzeuge auseinander, verbeugt sich dabei etliche Male. Es wird nichteinmal gemurmelt. Oder wenn, dann so leise, daß ich es aus zehn Metern schon nicht mehr hören kann. In einer halben Minute ist alles vorbei. Niemand hat sich auch nur umgedreht. Bloß ich habe wieder mal gegafft als hätte ich eben eine Begenung mit einem Außerirdischen gehabt.

P.P.S.: Zwei Jahre hat es gedauert, bis sich neulich die Gelegenheit ergab, mich mal auf einem echt japanischen Fahrrad fortzubewegen. Seither ist mir vieles klarer. Der Sattel ist immer auf niedrigste Höhe gestellt, sodaß auch ein nur mittelgroßer Japaner beim Treten die Knie bis zur Kinnlade heben muß, der Lenker etwas erhöht und nah am Sitz, was eine aufrechte, mitunter auch zurückgeneigte Position des oberkörpers erzwingt, die Ellbogen streckt man bequemerweise etwas zur Seite. Derlei Kleinigkeiten waren mir schon früher gelegentlich aufgefallen, aber welch wundersamer Effekt sich ergibt aus dem Zusammenspiel der verrosteten mechanischen Teile mit der ausgefeilten Rahmengeometrie, das kann niemand ermessen, der nicht selbst so ein Gefährt bestiegen hat. Dazu kommt ein Leergewicht von etwa 25 bis 30 Kilo, also ein Mehrfaches dessen, was ein gaijin gewohnt ist. Man steigt auf, nein, man rutscht ohne das Gesäß zu heben ein bißl rüber, ergreift den Lenker, tritt aufs Pedal - und erbleicht. Nichts bewegt sich. Reaktionsschnelle Naturen wie ich bekommen gerade noch rechtzeitig einen Fuß wieder auf die Straße, bevor die Karosse sich gefährlich neigt und mit großem Kraftaufwand abgefangen werden muß. Nur unter Einsatz des gesamten Körpergewichts ist das Ding von der Stelle zu bewegen. Wenn man es dann endlich in Bewegung versetzt hat, dauert es freilich nicht lange, bis man wieder erbleicht. Unerbittlich sind die Gesetze der Massenträgheit, und meine Hochachtung vor den schmetterlingshaft zarten Wesen, die diese zweirädrigen Lokomotiven durch dichtes Fußgängergewül steuern, ja im Notfall sogar in Minutenschnelle zum Stehen bringen können, ist seit meiner Ausfahrt grenzenlos. Das Allerseltsamste sind aber die psychischen Veränderungen, die in mir vorgingen und die ich samt und sonders dem rollenden Material zuschreiben möchte. Ich habe Zustände erreicht auf dieser Fahrt, wie sie mir keine halluzinogene Substanz je verschaffen konnte. Nach wenigen Minuten war ich mit mir und der Welt vollkommen zufrieden, ich begriff augenblicks, daß meine übliche Hast mich auf diesem Panzer nur in den Wahnsinn treiben kann, lehnte mich zurück, die Sonne schien mir ins Gesicht, was ein Tag! So gings dahin, Mit der Welt gings, mit uns zweien, diese Zeile fiel mir wieder ein und das ferne Wochenende, an dem ich dieses magische Gedicht Paul Celans auswendig gelernt hatte und die Workshopleiterin, die derlei seltsame assignments gern vergab und gleich war ich im schönsten Traum, kam vom Hundertsten ins Tausendste und war im Handumdrehen zuhaus. Erst ein beiläufiger Blick auf die Uhr belehrte mich, daß meine Studenten schon einige Zeit auf mich warten mußten. Es wird sie nicht so hart ankommen, dachte ich mir und wuchtete das XXX auf seinen Ständer.

8. I-Go

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