Klaus Peter Knoll
Briefe aus der japanischen Provinz

3. Sakura



Japan.
Schon bei der Ankunft
Überall Kirschblüten.
(Issa, 1763-1827)
Wieder dies Blabla
über die Seele Japans
und die Kirschblüten
(Ueda Akinari, 1734-1809)


Kennen Sie sakura? Schon seit Tagen spricht Mushimoto-sensei von der Kirschblüte. Kommt sie heute?

Vielleicht noch nicht, aber bald! Noch ein, zwei Tage, höchstens drei. Gegen zehn Uhr abends im Fernsehen dann plötzlich eine live-Schaltung nach Kyushu, in den äußersten Süden. Nacht, außen. Ein Mädchen im weiß-roten Kimono läßt eine Salve enthusiastischen Geplappers los, steht offenbar unter Drogen, lacht, verheddert sich, lacht erneut, der Moderator im Tokyoter Studio stellt eine Frage, wieder Lachen, Kopfnicken, Ekstase. Der Scheinwerfer bewegt sich in den Garten hinter ihr, die Kamera folgt, die ersten Kirschbäume blühen. Schön, wie die zarten Blüten aus dem Schwarz auftauchen - aber kann ein Fremder die Hysterie begreifen, von der die ganze Nation erfaßt wird, hingerissen von der Symbolik einer kurzen Blüte ohne Frucht, deren schönstes Ende mit einem kalten Wind kommt, der die Pracht als Teppich auf die Straße wirft und in wenigen Stunden vernichtet? Welches wiederkehrende Naturschauspiel könnte in Europa zu wochenlangen Berichten, Vorhersagen und Analysen in allen Medien Anlaß geben? Täglich veröffentlichen die Zeitungen jetzt Landkarten mit dem aktuellen Verlauf der Kirschblütenfront, im Fernsehen treten schon seit Monaten Experten ausgefallener Disziplinen auf, die z. B. aus dem Gewicht der Knospen Rückschlüsse ziehen auf den diesjährigen Verlauf der Schauspiels. Wer eine neue Methode der Vorhersage erfindet, wird mit Interviews überhäuft. Der Fremde steht bei diesem Treiben etwas abseits. Er kann vielleicht begreifen, warum sakura an ein Heldenleben denken läßt, wird aber bei dem Wort "Held" möglicherweise Bilder und Ereignisse der jüngeren Geschichte mitdenken, zumindest die Kamikaze, vielleicht auch die Annexion Koreas und den Überfall auf die Mandschurei oder das Gemetzel von Nanjing, das in den japanischen Geschichtslehrbüchern, wenn überhaupt, dann höchstens mit dem Wort "Zwischenfall" erwähnt wird: Massenvergewaltigungen, Bajonettübungen am lebenden Objekt, 300.000 Tote in sechs Wochen. Aber man muß wohl in einer Sprache aufgewachsen sein, die zumindest fünf verschiedene Formen für "ich" kennt, damit Melancholie und Grausen einander nicht in die Quere kommen. Das Fernsehen jedenfalls zaubert an die Küsten von Südwest nach Nordost bis über Tokyo hinaus hellrosa Blütensymbole: die Wetterprognose für morgen.

4. Übersiedlungsgut (Zweiter Teil)

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