Klaus Peter Knoll
Briefe aus der japanischen Provinz
1. Ankommen
When the difficulty of living in the world grows unbearble, one longs to move to a more comfortable
place. When one realizes that wherever he might move, it will still be hard to live there, it is then that poems
are born, and pictures Natsume Sôseki |
Am Flughafen stand das Empfangskommitee bereit: Dreiviertel der hiesigen Germanistik gaben sich die Ehre. Unsere vierzehn Koffer wurden ausgiebig, wenn auch verhalten, bestaunt. Mit zwei Taxis gings in die Stadt. Die Taxis fahren hier mit Flüssiggas, weshalb sie so gut wie keinen Kofferraum haben. Wir mußten uns also das Fahrgastabteil mit dreien unserer Kisten teilen, während der Fahrer nähere Bekanntschaft mit Dorlis Benetton-Koffer machte. Die Bekanntschaft muß, zumindest was die Linkskurven anbelangt, nachgerade innig genannt werden, dennoch war nicht der leiseste Hauch von Mißstimmung auszunehmen. Wahrscheinlich liegt es an den weißen Handschuhen. Im Ernst: es sind Wunderdinger, die gegen jegliche Unbill immunisieren. Aber als Japan-Neuling weiß man das noch nicht. Man weiß gar nichts, egal, wieviel man gelesen, gesehen, gehört hat. Und nichteinmal das weiß man.
Der Institutsvorstand lud uns ins Café des Grand Hotel ein. Daß meine Gefährtin einen anderen Familiennamen trug als ich, stiftete mehrmals Verwirrung. Schon bereute ich, daß wir nicht zwei Wochen vor dem Abflug geheiratet hatten, "nicht für ein Papierl!" Zwar sprang ich dem hohen Kollegium einige Male hilfreich bei, konnte aber nur wenig ausrichten. "Frau Kuno- äh Fräulein Knorr - äh Fräulein..." - "Dolores Uchôa di Nascimento." - "Ah, Danke! Also Fräulein Ujoda Demashi...?" - "Uchôa di Nascimento." - "Ah, noch einmal Danke! Fräulein Ushodidanashido - äh -?" "Ach bitte, sagen Sie einfach Dolores", sagte Dorli, und die Germanistik schwitzte, weil das auch nicht einfacher war. "Fräulein äh Doruresu wie lange haben Sie in Salzburg äh gewohnt?" Es dauerte nicht lange, und ich schwitzte auch. Dazu kam strafverschärfend eine dünne, "kohi" genannte, bonbonfarbene Brühe, glutheiß und von einer Scheußlichkeit, von der ich nicht gedacht hätte, daß man sie noch überbieten könnte. Aber man kann. Davon wird später vielleicht noch die Rede sein. Die Sandwiches jedenfalls waren pappig, vornehm im Geschmack, man hätte auch sagen können "neutral" und zudem sehr zurückhaltend belegt. Man darf hier nichts übertreiben, das wußten wir schon. Ich glaubte überhaupt, schon fast alles über das Land der aufgehenden Sonne zu wissen.
Die Germanistik war äußerst besorgt um uns, schließlich waren wir ja neu in Japan. "Leider", sagte der Chef, "müssen Sie für die drei nächsten Tage in das Hotel, sie wissen..." Wir nickten. "Es wurde Ihnen schon reserviert... gegenüber." Unsere Augen folgten seiner andeutungsweise ausgestreckten Hand: "Station Hotel, nicht so teuer wie hier..."
Das Station Hotel verfügt über vier der acht Stockwerke des häßlichsten Gebäudes am ganzen Bahnhofsplatz: ein ehemals hellbeiger Kasten, der sich mittlerweile gewittrig-dunkelgrau verfärbt hat. Auf jedem Stock gibt es zwei Zimmer, sechs oder sieben Quadratmeter. Aber so rechnet man in Japan nicht. Zimmergrößen werden in Tatami gerechnet, und da auf jedem Tatami ein ausgestreckter Japaner Platz hat, wenn er sich nicht absichtlich größer macht, als er in Wirklichkeit ist, reicht also unser Vier-Tatami-Zimmer... erraten. Unsere bescheidenen Habseligkeiten verwandelten das Etablissement augenblicks in einen Klettersteig mit der anheimelnden Atmosphäre einer Gepäckaufbewahrung.
An Schlafen war nicht zu denken: Aufregung, Zeitverschiebung und dazu ein penetrantes elektrisches Vogelgezwitscher, das alle zwei Minuten an- und ausging. Erst am übernächsten Tag fand sich die Lösung: Die Fußgängerampeln begleiteten ihre Grünphase so musikalisch. Und das in zweierlei Melodei: Amseln für die Nord-Süd-Routen, spatzenartig die Ost-West-Querungen. Heute weiß ich: Das ist in der ganzen Stadt so. Damit orientieren sich die Blinden. Es gibt zwar keine Blinden hier, zumindest habe ich das ganze Jahr keinen gesehen, aber Braille-Aufschriften verzieren alle Amtsstuben, jeden öffentlichen Lift, und, wenn ich mich richtig erinnere, sogar das Bahnhofsklo. Aber so gescheit waren wir noch nicht. Im Gegenteil, wir waren noch ausgesprochen dumm. Ich spürte das auch. Allerdings dachte ich noch, das würde sich bessern. Mittlerweile bin ich zumindest in diesem Punkt klüger geworden: Indem ich nämlich eingesehen habe, daß die Japaner recht haben, wenn sie ihre Erklärungen abschließend so zusammenfassen: "But you cannot understand - you are not Japanese." Dabei bemühen sie sich ganz gewaltig, sind jederzeit zu ausschweifenden Exkursen über Grundstückspreise oder Feinheiten des Shintoismus bereit, aber am Ende hat man wieder nur ein paar Details mehr im Kopf. Ein konsistentes Japan-Bild gibt es höchstens als Fiktion. Das wußten wir natürlich noch nicht. Wir wußten noch nicht mal, daß unser Abendessen fast die Hälfte des mitgebrachten Geldes verschlingen würde, weil ich als Japanexperte mit Dorli unbedingt und ausführlich sushi essen mußte und zwar nicht als set, mit fixem Preis, sondern selbstverständlich "echt japanisch", also an der Theke hilflos stottern und mit dem Zeigefinger auf das unschuldige Glas losgehen: "This one please and can you tell me what that is?"
Am nächsten Morgen jedoch waren wir ganz gerührt, weil Professor Nakamura sich den ganzen Tag freigenommen hatte, uns bei den wichtigsten Besorgungen behilflich zu sein. Insbesondere brauchten wir ein Bett. Das ist auch für einen japanischen Professor eine größere Unternehmung. Es gibt nämlich bei den hiesigen futons die verschiedensten Maße und Qualitäten. Er ließ es sich nicht nehmen, uns zunächst drei verschiedene Geschäfte vorzuführen: Einen Spezialisten mit astronomischen Preisen, Ausstatter für höhere Töchter, ein solides Fachgeschäft für die qualitätsbewußte Hausfrau und einen Supermarkt mit Möbelabteilung. Nachdem wir uns solcherart einen Überblick über das Angebot und nebenbei auch die Stadt verschafft hatten, waren wir alle drei erschöpft. Der Chef lud uns zum Mittagessen ein, udon, die lokale Spezialität: dicke Weizennudeln in Hühnerschweinefleischgemüsesuppe. Ich befürchtete, auch er würde sich in Unkosten stürzen.Werch ein Illtum! Nach zwanzig Minuten forschen Fußmarsches hatten wir seine Lieblings-Lokalität erreicht: Einen desolaten Bretterverschlag, dessen Linoleumfußboden kurz nach der Jahrhundertwende das lezte Mal einen Putzfetzen gesehen haben dürfte. Ich war schockiert. Heute weiß ich: das gehört so. Ich weiß zwar noch immer nicht, warum, aber die hochgelobten undonya sehen alle aus, als hätten sie grad den letzten Weltkrieg hinter sich. Es ist eine japanische Besonderheit. Wie auch immer: Für achtzig Schilling wurden drei Leute in fünf Minuten satt. In einer richtigen undonya muß man schnell essen, weil man sonst den Betrieb stört, weil die Japaner alle zur gleichen Zeit Mittagspause haben und im allgemeinen nur dreißig Minuten, eine Stunde höchstens, weshalb ich mir den Gaumen und den oberen Teil der Speiseröhre auf Tage hinaus verbrannte. Auch das gehört so, und daß man gewaltig schlürft ebenfalls. Vermutlich kühlt das eifrige Schlürfen die heißen Nudeln im entscheidenden Moment auf erträgliche Temperatur ab, und es war alles nur meine Schuld, weil ich mich nicht getraut hatte, es meinem Professor gleichzutun. Eigentlich sind udon wirklich gut, wenn man sich nur mit dem Mute der Verzweiflung darauf stürzt.
Der Kauf einer beschlafbaren Unterlage beanspruchte noch den Rest des Tages und unserer Nerven, sodaß das Abendessen an diesem Tag wegen Erschöpfung ausfallen mußte.
2. Übersiedlungsgut (Erster Teil)