Wandler - Zeitschrift für Literatur

3 REZENSIONEN

Alte Pfade. Einstürzende Satzbauten. Drei Literaturzeitschriften.

Godom und Somorra

Zu "Drei traurige Tiger" von Guillermo Cabrera Infante

Vorhang auf. Licht. Willkommen im Havanna Neunzehnhundertdreiundfünfzig, der Traumstadt des Glücks, der Schuld verlorener Jugend...noch vor dem Prolog, das Straßengitter des mythischen Ortes, zu allererst aber ein Zitat Lewis Carrolls: "Und sie versuchte sich vorzustellen, wie eine Kerzenflamme aussieht, nachdem sie ausgegangen ist". - die trüben Londoner Exiltage sind dem Cabrera Infante vegetarische Kost, Diät für Raubkatzen - mit Londoner Gier bemüht er Vergangenheit. Für junge Leser haben Brücken, Züge etwas Blaugrünes, das Gehalt von Auf- bzw. Ausbruch; Dampf und Fahrt. Wie zwingend, daß sich Erzählung rückwärts aufrollt...oder wir gedenken Herrn Codaks, entwickelt..."wer denn bleiben kann, verbleibe. Gehen soll, wer gehen muß!"

Ein Stundenbuch der zweiten Tageshälfte:

Die Agierenden sind Nachtgesellen, Männer, die Orte wechseln. Bewegung ersetzt Handlung, das Tätige sind die Gespräche, der Sprachwitz in den Graden der Gedankenschärfe - fortschreitende Trunkenheit begleitet zunehmende Nüchternheit. Der Memorabilia-Apparat Cabrera des Jüngeren funktioniert durch Sehschlitze, Wahrnehmung, durch ein verengtes Blickfeld gehandikapt, dafür jede einzelne Pore überlebensgroß wiedergebend: "Ich wollte ihm sagen, daß ich Zahlen nicht nur zeichnen, sondern auch zusammenzählen kann, aber ich öffnete nicht den Mund, sondern die Tür, auf deren Glas tavirP stand". Aus dem Katalog der Themen sind Frauen, Musik, Kino und Literatur wesentlich. Dem ist beizupflichten. Den Begegnungen mit dem Teil Mensch, das damals noch überwiegend Kleid oder Rock trug, ist nicht durch Belesenheit beizukommen. Hier übt das Rätsel - Reiz und Zier sind Worte aus denselben Buchstaben gebildet. Männer tauft er Lenin Riefenstahlin und Sal Bader. Aber seinen weiblichen Geschöpfen beliebt es dem Dichter betörende Namen zu geben, die heißen Minerva Eros und tanzen Bolero, auch wenn der darauf folgende Satz sie mit einem Walfisch vergleicht.

Hai NooN vier Wochen später.

Als Buchstabencomic so genial, so enervierend - ein Werk versteckter Hinweise für Adepten schöner Künste. Marlowe - Chris, nicht Phil - trägt zur Rechtfertigung bei: "Zwar hab Unzucht ich begangen, doch war's in einem andern Land, und außerdem die Maid ist tot". Hier beginnt der Bachanal genannte letzte Abschnitt, die mäandernde Fahrt durch die Kapitale mit ihren Barstops. Exzustände münden in der Rekonstruktion verflossener Reden. Außer "le gusta este jardîn" kenne ich keinen Satz in spanischer Sprache, wahrscheinlich verliert die Übersetzung durch des Autors Lust zur Frappanz - Bizeps unter gutem Tuch lassen Tätowierungen nur erahnen. Auch Russisch könnte helfen, wo im irisierenden Ton behauptet wird, sein Idiom umgedreht gelesen, klingt lautmalerisch wie Kirchensowjetisch - zu Habana hat man für Modulation ein Ohr.

Der uns das mitteilt, Arsenio Cué, Schauspieler seines Zeichens und als solcher ein Mimenmonster. Biegsam wie das Glied eines Eunuchen, tritt er als Buster Kueton entgegen, schlüpft in die Rolle Cuérd Jürgens, spaltet sich in Edgar Allen Cué, mutiert zu Cuésimodo, begegnet als Robinson Cuésoe und Gary Cuéper. Und die Leserwelt staunt ob des Hintersinns auf der 254sten Seite, wir erfahren dort das Wabensechseck als Würfel mit abhandener Tiefe. Nein, Herrn Cabrera, mehr Dandy denn Dichter, können wir nicht gerecht werden - seine Kenntnisse sind unseren um Dimensionen voraus. Trotzdem. Dennoch. Verzeiht seinen Mangel. Sagt nicht wie Hamlet zu Laertes: "Ich bitt' Euch sehr, laßt Eure Hand von meiner Gurgel"...lest!

Cabrera Infante: Drei traurige Tiger. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Tb 1714. DM 22,80.

Peter Stolz

Brecht sprengt seinen Sarg

Seit 1993 treten Peter Dempf, Uta Fuchs-Prestele und Armin Strohmeyr als Gruppe WiderWort in Augsburg immer wieder mit Lesungen an die Öffentlichkeit. Anläßlich der groß angelegten städtischen Veranstaltungsreihe "Bertold Brecht '95" publizierte die Gruppe jetzt ihr erstes Buch, eine thematisch gegliederte Sammlung von Gedichten und Kurzprosa mit dem Titel. "Die Vaterstadt, wie find ich sie doch?" Der Untertitel "Brechts Rückkehr" verheißt dem kritischen Beobachter des Augsburger Brechtspektakels zunächst wenig Gutes, scheint diese Reihe doch kaum eine kritische Auseinandersetzung mit Brechts Texten - und der Frage nach ihrer heutigen Relevanz - zu suchen; vielmehr zielt sie offenbar eher auf eine von Brechts Erben und dem Lektorat des Suhrkamp-Verlages diktierte, schulmäßige Rezeption des "Klassikers" ab, dem dadurch freilich viel von seiner (gerade auch politischen) Brisanz genommen wird. Soll die fiktive Beschreibung einer heutigen Rückkehr Brechts in seine Geburtsstadt diese Entschärfung nun doch durch die Anreicherung mit touristisch verwertbarem Lokalkolorit vollenden?

Dem ist zum Glück nicht so. Zwar konstruieren die ersten Geschichten des Bandes in der Tat die Möglichkeit einer Rückkehr Brechts ins Augsburg der Gegenwart; dieser verhältnismäßig enge Rahmen wird aber in den folgenden Teilen weitestgehend gesprengt. Ausgehend von Örtlichkeiten und Personen seines Lebens in Augsburg wird zunächst eine Annäherung an die Figur Bertold Brecht gesucht. Nach einem kurzen Vorspann, der jeweils die zugrundeliegenden biographischen Fakten benennt, entwickeln die drei AutorInnen von diesem Material ausgehend ihre eigene Veranschaulichung dieser nüchternen Daten. Atmosphärisch dichte Texte, die entscheidende Momente einer Lebensgeschichte sinnlich greifbar machen, indem sie darauf verzichten, Details über irgendeine mehr oder minder interessante historische Persönlichkeit zu referieren, sondern den Dichter Brecht selbst als literarische Figur konstruieren. Die Gruppe WiderWort eignet sich Brecht gewissermaßen an wie dieser sich Texte aneignete, um Neues daraus zu machen (und liefert, nebenbei bemerkt, eine äußerst produktive Deutung der vielbemühten und gern kritisierten Brechtschen "Plagiat"-Ästhetik, so etwa in "Und wenn er ein Schwein wäre?"); dabei erschließen ihre Lesarten dieser Figur und deren sozialem und politischen Umfeld dem Leser mehr neue und aktuelle Bedeutungsebenen als alle ideologisch-moralisierenden (schon seit 39 Jahren hinfälligen) Debatten über den Lebenswandel eines gewissen Eugen Bertold Brecht.

Eine eigenständige Deutung der Figur Brecht ist freilich nur die Ergänzung einer Auseinandersetzung mit Brechts Texten. Sie sind es nun einmal, die einen Autor für den Leser interessant machen - oder auch nicht. Was das WiderWort-Buch hier aus der Fülle von literarischen Beiträgen zu Brecht heraushebt, ist die Tatsache, daß nicht immer wieder in geradezu philologischer Weise auf einige "klassische" Stellen angespielt wird, sondern daß vielmehr die kritische Grundhaltung von Brechts Schreiben auch auf politische Probleme der Gegenwart angewandt wird, die sich - jeder historischen Brecht-Rezeption zum Trotz! - heute immer noch genauso benennn lassen wie zu Brechts Lebzeiten: Krieg, Frieden, Asyl, Antigone als Symbolfigur des Widerstands.

Dabei ist ein Grundton, der das ganze Buch durchzieht, in den im engeren Sinne politischen Texten aber besonders auffällt, der einer schmerzlich empfundenen Abwesenheit: während das Weiterbestehen der politischen Probleme kritisiert wird, erscheint die radikale Opposition dagegen, wie sie sich an der Figur Brechts festmacht, nur noch als Erinnerung an eine andere geschichtliche Phase. "das waren zeiten" heißt es ausdrücklich in einem Gedicht. An einer anderen Stelle wird das Schwinden von Alternativentwürfen zum kritisierten Zustand benannt: "Der Sozialismus, Darling / war ein Irrtum uns / gehört die Welt/verbrieft und versiegelt / verzinst und verspiegelt".

Doch auch ein nostalgisches Betrauern nicht mehr gegebener Möglichkeiten - das auf umgekehrtem Wege ja auch nur die Unantastbarkeit des Klassikers bestätigen würde - ist der Gruppe WiderWort fremd. Die lebendigsten Spuren ihrer Auseinandersetzung mit Brecht finden sich vielleicht gar nicht in der Thematik ihres Buches, sondern in ihrer Arbeitsweise. Die Bezugnahmen auf die Texte der anderen Gruppenmitglieder, die kritische Fortschreibung fremder Ansätze, die sich in "Brechts Rückkehr" finden, dokumentieren (brechtisch gesprochen) einen kollektiven Produktionsprozeß, in dem Literatur nicht aus der unhinterfragbaren Genialität des "unerreichbaren Heros" entspringt, sondern in einem solidarischen und eben deshalb auch zur (Selbst-)Kritik fähigen freien Dialog entsteht, dessen Form vielleicht auf die Möglichkeit einer freieren Gesellschaft, wie sie in irgendeiner Form auch Brecht vorschwebte, zumindest symbolisch noch verweist: "Uns zum gedenken daß / niederschreibbar ist was je nur / von menschen erträumt werden konnte".

Peter Dempf, Uta Fuchs-Prestele, Armin Strohmeyr: "Die Vaterstadt, wie find ich sie doch?" Brechts Rückkehr. Zu beziehen über den Verlag Günter Dienelt, Lilienthalstr. 8a, D-92421 Schwandorf/Bayern. 120 S., 15 DM.

Gerald Fiebig

Der deutsche Fänger im Roggen

Das berühmteste Buch des publicityscheuen Jerome D. Salinger ist nun schon 44 Jahre alt, aber noch immer, sagt man, ist The Catcher in the Rye (1951) für ganze Generationen von Jugendlichen so etwas wie ihre Bibel, ein Buch, in dem sie sich selbst wiederentdecken und das sie darum lieben. Die Erzählung des jungen Holden Caulfield, der aus dem Internat fliegt und auf seiner ausgedehnten Heimreise versucht, mit sich selbst ins reine zu kommen, jemand zu finden, mit dem er reden kann, jemand, der ihn versteht, muß bei der Jugend hierzulande wohl ähnlich den Nerv getroffen haben: die kursierende Taschenbuchauflage (Rowohlt) hat die Million längst überschritten. Offenbar hat also auch die deutsche Fassung etwas von den Qualitäten des Originals bewahren können.

Etwas -, in der Tat! Denn wenn ich mir das Original daneben halte, habe ich, obwohl kein Übersetzer, sondern nur ein »normaler Leser«, den Eindruck, mit dem Fänger im Roggen ein anderes Buch vor mir zu sehen, oder sagen wir: zumindest eine gereinigte, geglättete Fassung. Es steht alles drin, no fear, nichts ist gekürzt oder gestrichen, das nicht; es ist nur alles viel artiger, gehobener ausgedrückt. Der hinreißend lässige Schnodderton Holdens, eben dieser typische Teenagerjargon, den jugendliche Leser als den ihren wiedererkannten, ist im Deutschen doch sehr eingeebnet. Die erste deutsche Übertragung von 1954, die ich nicht kenne, wurde von Heinrich Böll überarbeitet, einem ja durchaus des Englischen (und vielleicht auch des Amerikanischen) fähigen und sowieso ehrenwerten und anerkennenswert couragierten Mann. Hat er eine ehemals noch zahmere Fassung realistischer geformt oder gehen etwa - furchtbarer Gedanke - die Glättungen auf sein Konto?

Das alles ist im einzelnen durchaus geringfügig und es mag kleinlich erscheinen, wenn man den anklagenden Finger auf diese oder jene Wortwahl legt, aber es ist eben die Summe aller dieser Einzelheiten, die aus einem drastischen Slang ein nur leicht flott getöntes Hochdeutsch macht. Holdens dauernden Schnack "that kills me" kann man vielleicht noch mit "das wirft mich um" übertragen, aber "that knocked him out" heißt nicht "das überwältigte ihn selber", sondern "das haute ihn um", und "the most terrific liar" ist nicht nur "der größte Lügner", sondern "der fürchterlichste Lügner". Für weitere Belege schlage ich einfach wahllos das 24. Kapitel auf:

Da heißt "Mr. and Mrs.Antolini had this very swanky apartement over on Sutton Place" eben nicht "... hatten eine sehr elegante Wohnung am Sutton Place", denn 'swanky' ist amerikanischer Slang für 'luxuriös' und man müßte also einen entsprechenden Ausdruck im Deutschen wählen, und daher vielleicht sagen: "... hatten so eine schnieke (oder: piekfeine) Wohnung drüben am Sutton Place". Und wenn Holden von Phoebes "Christmas dough" spricht, dann ist das nicht ihr "Weihnachtsgeld" (hört sich ja an wie ihre Lohntütenzulage! Aber Phoebe ist 'n Schulkind), sondern Mäuse, Knete, Piepen, Moneten oder Zaster, egal, jedenfalls nicht "Geld".

Wenn Holden allen möglichen sympathischen Leuten das Beiwort 'Old' verleiht ("Old Mr.Antolini"), dann kann man das nicht einfach weglassen und "Mr.Antolini" sagen, damit geht eine wichtige Färbung verloren.

Besonders in direkter Rede wird die Einebnung der Sprache deutlich. Auf die Frage, wie's ihm und seiner Frau gehe, antwortet Antolini: "We're both just dandy", auf deutsch: "Beiden vorzüglich"! Statt dieses steifen Stiefels müßte es eher heißen: "Uns beiden gehts pfundig" (oder "prima" oder "Klasse"). Und ebenso ist Holdens Auskunft nicht "Hin und wieder rauche ich mäßig", so bräsig spricht man vielleicht bei Stifter, aber Holden sagt: "Just once in a while. I'm a moderate smoker", nämlich "Ab und zu. Ich bin kein großer Raucher", meinetwegen auch "... bin 'n mäßiger Raucher"; aber das ist was anderes, wie ein sprachlich nicht ganz Unempfindlicher vielleicht bemerken wird.

Und "No - heck no" wird "Nein, wahrhaftig nicht"(!) und "G'night" natürlich "Gute Nacht", also Umbiegungen ins Schriftdeutsche allerorten. Und Ausrufe wie "my ass!" heißen dann "Weiß der Himmel!". Wenn schon Himmel, dann doch eher "Himmel Arsch!". "You could tell he was trying to concentrate and all" wird bei Böll zu dem glatten "offensichtlich versuchte er sich sehr zu konzentrieren". Warum nicht "Du konntest richtig sehen, wie er versuchte, sich zu konzentrieren und so" ?

"All old Mr.Antolini had was another highball, though. He makes them very strong, too, you could tell." Schon wieder "you could tell": für Böll kommt das zu oft vor und so läßt er es weg. Aber das ist eine unzulässige »Verbesserung«, wir wollen den originalen Wortlaut, bitte; und "Mr.Antolini nahm nun wieder ein Glas Whisky mit Eis" ist einfach zu ungenau, denn es heißt "Aber alles was old Mr.Antolini (oder 'der alte Mr.Antolini') nahm, war ein weiterer Whisky-Soda", oder meinetwegen auch "mit Eis".

Genug der Haarspaltereien. So könnte man Seite für Seite auseinandernehmen. Ich verkenne nicht, daß vieles im Deutschen schwer adäquat wiederzugeben ist, und Übersetzungen sind sowieso ein heikles Thema und Übersetzer, wie man hört, schandbar unterbezahlt, alles richtig. Trotzdem ärgert es einen, wenn nur Englischkundige ein solches Buch wirklich kennen und genießen sollen; d.h. wirklich kennen und genießen kann man ein Buch natürlich immer nur im Urtext, aber eine Übertragung in eine andere Sprache sollte schon so gut und nah am Original sein wie nur irgend möglich.

Der deutsche Fänger im Roggen soll schon in den 60er Jahren kritisiert worden sein, wie ich vernahm; neu ist meine Entdeckung also offenbar nicht. Aber geschehen ist auch nichts. Mein Brief in dieser Sache an den Rowohlt-Verlag blieb selbstverständlich unbeantwortet und unbeachtet, nach dem Motto: was kümmert es den Mond, wenn ihn die Hunde anbellen. Ist es wirklich zuviel verlangt, dem Buch eine erneute Überarbeitung angedeihen zu lassen, wenn man schon so viel Geld damit verdient hat?! Heinrich Böll wird es nicht mehr kränken, und eine weitere Generation junger (und auch gar nicht mehr so junger) Leute hätte, wenn sie schon nicht zum Original greifen kann oder will, wenigstens etwas Orignal-Ähnliches - von einer Anstandspflicht dem Autor Salinger gegenüber ganz zu schweigen.

Peter Ahrendt

Alte Pfade. Einstürzende Satzbauten.


Drei Literaturzeitschriften.

(wr) Nein, zu verdienen ist mit Literaturzeitschriften nichts, auch wer redlich sich bemüht. Unter den zahlreichen mehr oder weniger schillernden Gewächsen auf dem steinigen Boden des Literaturbetriebs nimmt die jährlich erscheinende Zeitschrift "Muschelhaufen" eine Außnahmestellung ein, indem sie von vornherein auf den Buchhandelsvertrieb verzichtet, der eventuell neue Leserkreise erschließen könnte, und sich nur an einen Freundeskreis wendet. Mit Erzählungen, Kurzprosa, Lyrik, Essays, Rezensionen und Bildreproduktionen präsentiert sie sich insgesamt recht facettenreich, in ihrem Anspruch wirkt sie durchaus symphatisch: kein vollendet professionelles und im Niveau einheitliches Produkt wird angestrebt, sondern bewußt auf eine persönliche Handschrift gesetzt. Was dieser Handschrift leider fehlt, ist der Schwung einer innovativen Linienführung, die sich quer gegen überkommene Schreibweisen legt. Bezeichnend für die Ängstlichkeit gegenüber neuen Pfaden ist ein Gedicht Theo Breuers über "Zettels Traum" von Arno Schmidt: "AUFschlagen / und nichts - als --- / baß (v/erWUNDERt &) / erSTAUNt / RAUNen". Gewiß, wo die Begegnung mit der literarischen Tradition nur in gekünstelte Sprachlosigkeit mündet, kann schwerlich etwas neues entstehen.

Während der "Muschelhaufen" mit seiner diesjährigen Doppelnummer 33/34 bereits auf etliche Wachstumsringe zurückblicken kann, feiern die Herausgeber der Zeitschrift "Der innere Raum" in ihrem Editorial erleichtert die Geburt ihrer Erstausgabe: "es ist geschafft". Ihr Titel signalisiert Konzentration auf eine abgegrenzte Atmosphäre, könnte also ein spannendes Panoptikum im Fahrwasser der Tradition der Moderne vermuten lassen, etwa ein Laboratorium der Brüche und Verwerfungen zweifelhafter Subjektivität. Die Beiträge der vorwiegend jüngeren Autoren und Autorinnen bewegen sich allerdings überwiegend an der Nahtstelle einer mißverstandenen Gesellschaftskritik auf einem recht dürftigen Niveau. Der Erzähler oder das lyrische Ich spricht immer schon aus einer Sphäre des "Guten", das sich in der vordergründigen Attitüde gefällt, die Schlechtigkeit der Welt zu entlarven: der "Spießer" muß ebenso dran glauben wie der Neckermanntourist oder der leitende Angestellte, der die wahren Werte des Lebens verkennt. Solche Klischees sind natürlich billig zu haben. Sie entwerfen eine holzschnittartige Pseudokritik, die sich immunisiert gegen jegliche Anflüge von Selbstreflexion und Widersprüche und wenig mehr zurückläßt als langweilige Texte.

Vor dem Hintergrund solcher Produktionen wecken Bemühungen, die bezeichnenden wie auch die kontextuellen Funktionen des Wortes zu unterlaufen, durchaus Symphathie. A.J. Weigonis Versuch in seinem Lyrikspagat "vorläufiges zum ästheTrick des widerspruchs oder die ver(fuß)ballhornung von mühStick", die Grenzen der Lyrik zu sprengen und gleichzeitig Lyrik zu schaffen, erhält seinen Sinn nur durch den negativen Bezug auf ihn: "this is not schwitters speaking - this is the zuphallsgenerator". Dechifrierungsversuche dieser Art von einstürzenden Satzbauten laufen notgedrungen ins Leere. Möglich, daß hier - wie im Klappentext die "Sinnfrage" dann doch wieder positiv zu erklären versucht wird - eine "wildgewordene Signifikantenkette" der "Dezentrierung des Subjekts" huldigt. Doch ist das schmale Bändchen ein Musterbeispiel dafür, daß diese behauptete "Wildheit" in sich implodiert wie die Bildröhre eines Fernsehgeräts. Was zurückbleibt, ist die Schwärze der gedruckten Buchstaben. Interessant werden solche Zertrümmerungsbemühungen erst da wieder, wo das pseudophilosophisch-artifizielle zurücktritt hinter den Bewußtseinsstrom einer Assoziationskette, die versucht, in der Zerstörung der schal gewordenen Hülle von Überlieferungen einen wie auch immer beschaffenen substantiellen Kern freizulegen.

Muschelhaufen Nr. 33/34. Jahresschrift für Literatur. Hg. von Erik Martin. Siegen, 1995

Der innere Raum. Zeitschrift für Literatur. Nr. 1, 1. Jahrgang. Hg. von Ingo Hut und Franz Ralf Willms. Aachen 1995

A.J. Weigoni: "vorläufiges zum ästheTrick des widerspruchs oder die ver(fuß)ballhornung von mühStick". Mettmann o.J.
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