Der Brennende Busch


Judy Wilson - Eine andere Art Endlosigkeit

Der Geburtshelfer dreht dir das Baby zu, eine Art Vorführung, sein behandschuhter Griff fast mechanisch. Hinter dem winzigen roten verzerrten Gesicht - ein Sohn - lächelt der Doktor, daß sich seine dicken Lippen gegen die Infektionsmaske drücken. Du murmelst: "Mein Baby, mein armes Baby, armes, armes Baby", und streckst dich, um eine glitschige Ferse anzufassen, winzige Zehen. Später, viel später, wirst du dich daran erinnern, wie merkwürdig dieser Moment war, diese Worte. Mein armes Baby. Von all den Sachen, die ich hätte sagen können, wirst du denken, aber du wirst es dir aus dem Kopf schütteln - nur ein Zufall.

Dein lächelnder, kahl werdender Ehemann lehnt sich gegen das Kreißbett und streicht dir das Haar von der Stirn bis es dich irritiert. Du guckst ihm zu und lächelst. Er hat seine neun Monate alte Wette gewonnen, daß es ein Junge sein würde. Die Schwestern nehmen das Baby mit in die entfernte Seite des Raumes. Du machst dir keine Sorgen. Sie kümmern sich um ihn. Der Doktor kümmert sich um dich, die Nachgeburt, die Naht. In seinem charmanten südafrikanischen Akzent sagt er dir, daß er aus der Mitternachtsmesse gepiepst worden ist - daß er wusste, er müsste sich beeilen, weil du zwei Wochen überfällig warst. Er ist angenehm und seine Hände bewegen sich warm, rasch. Viele Babies, sagt er dir, und kein einziges Mal war er spät dran. Er zieht dir eine grüne Decke über die Beine, tätschelt deinen Fuß und läßt dich und deinen Mann alleine im Kreißsaal. Die Schwestern sind schon mit dem Baby verschwunden - wann denn? fragst du dich.

"Warum ruhst du denn nicht ein bißchen?" sagt dein Mann, und obwohl er immer ein zärtlicher Mann war, hast du seine Augen noch nie so weich gesehen. "Die bringen das Baby bestimmt gleich zurück. Die machen ihn sauber. Ich wecke dich", sagt er. Du schließt die Augen gegen das Chrom und die Lichter des Zimmers, nur einen Augenblick, denkst du.




Du hörst eine andere Stimme neben dem Bett. Der Kinderarzt, den du ausgesucht hattest, steht neben dir in einem grauen Duke-Sweatshirt, kein Make-Up, und macht höfliche Konversation mit deinem Mann, aber sogar in deinem Tran weißt du, daß es seltsam ist, daß sie um drei Uhr nachts ins Krankenhaus gerufen wurde. Es muß etwa drei Uhr sein. Sie sieht, daß du die Augen öffnest und beginnt mit ihrer Erklärung - warum sie hier ist. Da ist irgendetwas nicht in Ordnung mit dem Baby, deshalb haben sie sie gerufen. Die Schwestern sind ein bißchen panisch geworden, sagt sie. Nichts sehr schlimmes, hätte auch bis zum Morgen warten können. Aber die Schwestern, die waren nervös. Dann kommt sie zum Kern der Geschichte. Das Baby hat eine kleine Öffnung in der oberen Mundhöhle, eine Gaumenspalte, aber keine besonders ernste. Betrifft die Lippen oder das Zahnfleisch gar nicht. Einfacher chirurgischer Eingriff bringt das in Ordnung, nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste. Sie macht sich etwas mehr Sorgen, sagt sie, über den Kiefer - der ist etwas unterentwickelt, gibt dem Baby nicht viel Platz zum Atmen, außer wenn es auf dem Bauch liegt. Der Name für das Problem, sagt sie, ist Pierre Robin Syndrom.

"Haben sie den Kiefer nicht bemerkt?" fragt sie. "Haben sie das Baby nicht gesehen?"

Du stotterst, "Nur für einen Moment - ich dachte, er sah in Ordnung aus, aber ich habe ihn nur ein paar Sekunden gesehen".

Dein Mann hört auf, dein Haar zu streicheln und läßt seine Ellenbogen auf die Kante des Bettes sinken, seinen Kopf zu deinen Füßen gedreht, und du kannst seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen.

"Tut mir leid, ich dachte, sie hätten es wahrscheinlich bemerkt und würden sich Sorgen machen. Ich werde die Schwester bitten, ihn herein zu bringen", sagt sie. "Es ist eigentlich nichts furchterregendes, nur ein bißchen komisch".

Als sie das Zimmer verläßt nimmt eine unangenehme Stille ihren Platz ein. Es gibt überhaupt nichts, das du deinem Mann zu sagen hast während er auf das Bett starrt und mit den Fingern mit der Decke spielt. Überhaupt nichts kann oder sollte gesagt werden. Du wünschst dir, er wäre weg; genaugenommen wünschst du dir, er würde gehen, bevor sie mit dem Baby kommen. Du willst nicht, daß er es sieht, darauf reagiert. Du willst nicht wissen, was er davon hält, von dir - deinem grössten Reinfall.

Dann hälst du das Baby in den Händen - das ist es was du wolltest, seit Monaten, seit Jahren, dein halbes Leben lang, dein Baby in den Händen halten - und du schielst, studierst sein Gesicht, aber du kannst es nicht sehen, das Problem, die sogenannte Merwürdigkeit. Na klar, er schreit und sein Gesicht ist zusammengepresst in einem Ausbruch und du denkst, vielleicht ist das der Grund, aber als du deinen Mann anschaust, weisst du es - er sieht es. Und du blinzelst die Tränen weg und guckst nochmal, versuchst ganz objektiv zu sein, aber du kannst es nicht sehen. Der Arzt gibt dir einen medizinischen Handschuh und sagt: "Ziehen sie den an. Sie können einen schmalen Spalt in seinem Oberkiefer fühlen. Ich möchte, daß sie es fühlen. Ich möchte nicht, daß sie denken, es sei schlimmer, als es ist". Du hälst das Baby mit deinen Schenkeln während du in den rechten Handschuh schlüpfst. Deine Fingerspitze scheint zu groß zu sein als du sie in seinen winzigen warmen Mund schiebst, und du fühlst es, die kleine, V-förmige Öffnung im Oberkiefer, die sich nach hinten verbreitert. Du lächelst, weil es nicht so schlimm ist. Überhaupt gar nicht so schlimm, und das Problem mit dem Kiefer, na, das kannst du nichteinmal sehen. Sie sehen es natürlich, das weisst du, aber es kann nicht so schlimm sein wenn du es nicht sehen kannst.

Du zerrst den Handschuh runter und hältst ihn an deine Wange, atmest seinen Neugeborenen-Geruch ein und flüsterst ihm zu: "Ja, das kriegen wir in Ordnung. Wir machen es alles besser. Es macht gar nichts, nein, gar nichts", und er hört auf zu weinen. Im Augenwinkel siehst du, wie dein Mann dich anguckt, und du möchtest ihm eine langen - für den Ausdruck in seinem Gesicht. Du möchtest ihm sagen: "Dann hau halt ab, wir kriegen das schon hin - du brauchst dir über uns keine Sorgen machen". Die Ärztin sagt: "Der Kiefer wird wachsen und sich von selbst korrigieren, aber den Spalt müssen wir in einem Jahr operieren".

"In einem Jahr?" sagst du. "Wieso ein Jahr? Können sie das nicht jetzt - naja, ich meine nicht jetzt gleich. Aber in ein, zwei Monaten?" Du drehst das Baby in deinen Armen, so daß er flach liegt, und auf einmal kämpft er um Atem und das Weinen geht wieder los. Und zum ersten mal denkst du, daß du es sehen kannst, der zu kleine Unterkiefer, ein winziges Gesicht mit einem riesigen Überbiß. Die Ärztin sagt dir, daß Baby über die Schulter zu legen: "Dürfen ihn nicht auf den Rücken legen. Sein Kiefer setzt sich und unterbricht den Luftstrom".

"Zwöf bis achzehn Monate", sagt sie. "Das ist das Alter für diese Art Operation. Außerdem hat er auch das Atmungsproblem, und das könnte gefährlich sein, was die Betäubung angeht". Sie hat diese nervige Art, ihr blondes Haar mit den Fingerspitzen hinter die Ohren zu schieben. Dein Mann hat dir jetzt den Rücken zugedreht und schaut in Richtung einer Wand mit einem Regal voller grüner Decken und kleiner Kisten, und die Hand in seiner Tasche lässt sein Kleingeld und seine Schlüssel durch das Zimmer klingeln.

"Sie werden lernen, für ihn zu sorgen, ihn zu füttern, wie sie ihn halten und drehen müssen, damit er nicht zu viele Probleme kriegt. Morgen ist früh genug. Im Moment können sich die Schwestern um ihn kümmern, und sie bringen wir in ein Zimmer".

Du küsst das Baby auf die purpurne Wange und, obwohl du ihn behalten willst, reichst du das Baby der Schwester.

Als du wieder alleine bist mit deinem Mann dreht er sich dir zu und gibt dir einen trockenen Kuss auf die Wange, streicht mit seinen Lippen darüber, und sagt: "Ich gehe wohl besser die Anrufe machen". Er sieht weinerlich aus, und du weißt, daß er die Anrufe nicht machen wird, wenn er von dir wegkommt, jedenfalls nicht gleich. Er wird im Auto sitzen und heulen und mit der Faust aufs Lenkrad hauen. Das weißt du - das kannst du kommen sehen. Das würdest du an seiner Stelle machen.




Eine mollige, grauhaarige Schwester rollt einen Kinderwagen aus durchsichtigem Akryl in dein Zimmer, dein Sohn auf seinem Bauch, Arme und Beine untergeschlagen wie ein fetter, ruhender Frosch. Zufrieden. Eine blaue Karte ist am Bein des Beckens festgeklebt - Tisdale-Baby. Die Schwester hebt das Kopfteil deines Bettes. Sie atmet laut. "Haben sie ein bißchen geschlafen?" fragt sie, aber sie wartet nicht auf eine Antwort, und angeschaut hat sie dich auch noch nicht. "Na, da werden sie sich dran gewöhnen müssen - ohne viel Schlaf auszukommen. Dieser kleine Mann hier wird zu den seltsamsten Zeiten ihre Aufmerksamkeit verlangen", sagt sie und kichert, und du kannst sie nicht ausstehen. Wie kann sie es wagen, Annahmen zu machen? Wie kann sie es wagen, dir zu sagen, wie schwer es sein wird? Verdammt noch mal, sie hat dich ja noch nicht einmal angeguckt, weiß nichts vom Leid nichteinmal deiner ersten Nacht. Sie hebt das Baby hoch, "Komm, Schlafmütze", und reicht ihn dir. Sein Kopf fühlt sich warm an in deiner Hand, sein kleiner bewindelter Hintern fast schwerelos in der andern. Er beugt seinen Rücken, streckt die Arme hoch, die Faust fest geballt, und dann streckt er die Beine, und du kennst diese Bewegungen, hast sie von Innen gefühlt. Sofort, wie ein Schlafender der sich fallend glaubt, zieht er die Hände und Füsse wieder ein, ein schreckliches Runzeln im Gesicht, die roten Lippen zittern, und du hälst ihn schützend an deine Brust, küsst seinen flaumigen Kopf, erforschst die Formen seines Rückens mit den Fingerspitzen, und sein Weinen ermattet zu einem ernsten Schnüffeln. Du hebst ihn höher, so daß sein Kopf auf deiner Schulter liegt, sein Körper sich an deinen schmiegt, und sein Atem wärmt deinen Nacken. Er hat das gleiche blaue Plastik-Band an seinem Ärmchen wie du: Junge Nr. 1821. Die Schwester steht neben dem Bett und hält eine seltsame Flasche mit einem roten, unnatürlich geformten Mundstück.

"Eine Flasche für gespaltene Mundhöhlen", sagt sie, leichtfertig. Sie schiebt ihre schwere Brille auf ihrem Nasenrücken hoch, schnüffelt, räuspert sich, und sagt: "Die Flasche ist breit und flach, flexibel", und sie hält sie vor dich und drückt, eine Demonstration, die besser für eine sechsjährige geeignet wäre. Du küsst deinem Sohn auf die Wange und fährst mit dem Finger über die Wölbung seines Ohres.

"Sehen sie, der Nippel ist ebenfalls flach und hat vorne kein Loch. Statt dessen ist das Loch hier". Sie hält die Flasche einen halben Meter vor dein Gesicht und zeigt auf das Loch, das sich auf der Seite des flachen, breiten Nippels befindet. "Ihr Baby kann nicht saugen, also müssen sie die Flasche immer für ihn drücken, während er ißt. Sie müssen lernen, wie sie den Fluß regulieren, den Rythmus des Drückens, so wie es ihm passt - je nach dem wie schnell er schluckt, wie oft er Pausen einlegt - darauf kommt es an." Sie schaut dich zum ersten Mal an, holt einen Moment Luft, als ob sie etwas gefragt hätte und eine Antwort erwarte. Genervt nickst du, damit sie fortfährt. "Das Loch sollte zur Zunge hin zeigen, damit die Milch nicht in die Nebenhölen läuft. Fangen sie langsam an, sonst überfluten sie seinen Mund mit Milch. Er wird das zusammen mit ihnen lernen. Sie beide müssen diese Sache miteinander klarmachen." Dann füllt sie die Flasche mit Babynahrung aus einer kleinen Glasflasche, und du denkst, aus so einer Flasche trinken wohl die anderen Babies. Sie hält die Flasche zu dir herunter und sagt: "Passen sie auf, daß sie ihn immer hochhalten wenn sie ihn füttern. Und wenn sie ihn auf den Kinderwagen legen, drehen sie ihn auf den Bauch. Er kann ja sonst nicht atmen." Du nimmt die warme Flasche, und sie sagt: "Soll ich hierbleiben, oder wäre es ihnen lieber, wenn ich ginge?"

Du lächelst und sagst: "Sie können gehen. Wir kommen schon klar."

Als sie geht, nimmst du die Flasche zwischen die Schenkel damit sie nicht umfällt und hälst deinen Sohn vor dich, um ihn anzusehen. Sein Kiefer ist jetzt offensichtlich nicht normal, aber alles andere an ihm ist wunderschön und perfekt. Seine Augen sind groß und rund und dunkel und du weisst, daß diese Augen dominieren werden, wenn der Kiefer ersteinmal wächst. "Was für ein hübsches Baby du bist, weist du das? Weist du, wie sehr deine Mami dich liebt, weißt du das?" Wieso flüstere ich, fragst du dich. Schließlich ist er jetzt wirklich. Trotzdem, du bist dir bewußt, daß du gar nichts Wichtiges zu sagen hast, während du da sitzt und ihn anstarrst und den Saum seines Hemds hebst - du möchtest alles an ihm sehen.

"Hast du Hunger, kleiner Mann?" fragst du und setzt seinen Hintern auf deine Beine, hälst seinen Hinterkopf um ihn aufrecht zu halten. Du nimmst die Flasche, deine Hand zittert, aber du gibst vor, dir ganz sicher zu sein, denn es bleibt dir ja nichts anderes übrig. Du musst das Baby füttern. Sie werden dich mit ihm heimschicken, und dann musst du ihn füttern. Allein.

Du achtest darauf, daß das Loch zur Zunge zeigt, als er den Nippel in den Mund nimmt. Zuerst machst du gar nichts, als er seine Lippen darum legt, und dann krampft er sein Gesicht zusammen um zu weinen, also drückst du vorsichtig seitlich auf die Flasche. Er reagiert nicht, und der Nippel scheint einen Schrei zurückzuhalten. Du nimmst ihn raus und schaust ihn und seinen schreienden Mund an. Kein Anzeichen, daß Milch aus der Flasche kam. Du atmest tief und stellst dir vor, daß die Schwestern sich vor der Tür versammeln und darauf warten, das Baby schreien zu hören und hereinzustürzen. Du hälst den Nippel an sein Zahnfleisch, und er nimmt ihn, seine Lippen schließen sich darum, du drückst die Flasche wieder, diesmal ein bißchen fester. Er hört sofort auf zu weinen, aber er schlägt seitlich mit den Armen, die Finger ausgestreckt. Sein Kopf drückt nach hinten gegen deine Hand, die Augen weit offen, und er ist verkrampft und steif. Du nimmst die Flasche heraus und siehst, wie Milch aus seinen Nasenlöchern rinnt, und er sieht aus, als wäre er gerade untergetaucht worden. "Oh Gott", flüsterst du, und die Flasche fällt die aus der Hand. Du wischst die Milch mit deinem Krankenhausmantel ab, zitterned, und legst ihn über deine Schulter, tätschelst ihm den Rücken, hörst auf seinen Atem, wünschst dir, er würde sich entspannen, wünschst dir, es wäre einfacher. Dann hörst du es - wie er seinen Atem fängt - gefolgt von zorningem Gejammer, während er sich an dich krallt. Du weinst und wippst im Bett vor und zurück. Deine Nähte fühlen sich an wie Dornen, und du weisst, daß du es nochmal versuchen musst. Aber du wippst und tätschelst, wippst und tätschelst, weinst, bis die Kinderärztin hereinkommt, und du hasst sie dafür, daß sie einfach so hereinkommt. Sie lächelt und du weisst, daß du wie ein Idiot aussehen mußt wie du da sitzt und wippst und tätschelst während dein Baby schreit und schreit und die Flasche zwischen deinen Beinen aufs Bettzeug ausläuft.

"Klappt nicht so gut?" fragt sie und nimmt das Baby und die Flasche, steckt ihm den Nippel in den Mund. Sobald sie auf die Flasche drückt, kommt dem Baby Milch aus den Nasenlöchern. Sie wischt sie weg, gibt ihm einen Moment, um Atem zu holen, lächelt immer weiter, und versucht es nochmal. Beim zweiten Drücken schluckt das Baby, und auch beim dritten und vierten, aber bei jedem Mal legt er den Kopf zurück und seine Hände greifen in die Luft, als ob er sich darauf vorbereitet, wieder überwältigt zu werden. Nach etwa zwölf Schluck legt sie das Baby über ihre Schulter, reibt ihm über den Rücken, und setzt sich seitlich aufs Bett. "Er wird das lernen", sagt sie, und jetzt liebst du sie. "Ich wollte mit ihnen über den Spalt reden - deswegen komme ich". Sie steht wieder auf mit dem Baby und greift nach der Wand, nimmt einen Plastikhandschuh aus dem quadratischen Halter. Sie reicht dir den Handschuh, und du sagst: "Ich hab's doch schon gefühlt". Sie schüttelt den Kopf: "Es ist jetzt anders". Du ziehst den Handschuh über, während sie fortfährt: "Der Schädel und die Gesichtsknochen sind während der Geburt verdichtet. Jetzt, wo die Knochen ihre normale Form annehmen, scheint der Spalt etwas größer zu sein. Da wollte ich schon, daß sie es fühlen, aber ich meine, sie sollten es jetzt auch fühlen".

Wieder lehnst du das Baby an deine Schenkel und schiebst den behandschuhten Finger in seinen Mund. "Himmel", sagst du als du die Lücke zwischen seinem oberen Zahnfleisch fühlst. "Es ist weg. Er hat keine Decke im Mund". Du kannst dir nicht vorstellen, wie man das reparieren könnte. Da ist nichts, womit man etwas machen könnte. "Können sie das in Ordnung bringen?", fragst du.

Die Kinderärztin lächelt und zieht die Haare mit den Fingern hinters Ohr. "Selbstverständlich, man kann ja heutzutage einen ganzen Mund bauen. Aber das Füttern wird schwerer werden, und er wird Probleme mit den Ohren kriegen. Außerdem haben Kinder, die mit einem Defekt geboren sind, manchmal noch andere Defekte, die man zuerst nicht erkennt. Wir müssen da aufpassen". Sie streichelt seine Wange mit ihrem Handrücken. "Er sieht müde aus, Mama".

Du hörst auf, sie anzustarren, während du immer noch an "Defekt" und "andere Defekte" kaust, und ziehst den Handschuh aus. Du hebst das Baby an deine Brust und legst dich in die Kissen zurück. Seine winzigen Knie drücken sich rund und weich an dich. Du fragst dich, ob er genug zu essen hatte, aber er schläft jetzt und du willst ihn nicht wecken. Mit einer Hand ziehst du die Decke über seinen Rücken und du kannst seinen Atem gerade noch fühlen. Die Kinderärztin sagt: "Wir unterhalten uns später weiter". Du lächelst Auf Wiedersehen und beobachtest, wie sie die Tür zuzieht, schaust rüber zur geschlossenen Jalousie vor dem langen Fenster. Das Sonnenlicht scheint an den Rändern durch. An der Wand beim Fenster hängt ein Bild, aber die weichen Pastelltöne sehen ohne Licht grau aus. Mit deinem Baby warm auf der Brust fragst du dich, wo dein Mann ist.

Die Schwester kommt zurück und steht am Bett. "Wie hat das geklappt?", fragt sie.

"Prima", sagt du und streichelst das Haar auf dem Kopf des Babys.

"Ich hab ihn zetern gehört. Mit seiner Lunge ist aber alles in Ordnung, oder?" Sie atmet, als ob sie joggen gewesen wäre.

"Zetern tun sie doch alle. Als er erstmal anfing, hat das gut geklappt", sagst du.

Sie lächelt, schaut auf die fast volle Flasche auf dem Nachttisch, und greift nach dem Baby. Sie hebt ihn von deiner Brust und sagt: "Mal sehen, ob wir nicht noch etwas in ihn reinkriegen für sie. Machen sie sich nur keine Sorgen".




Das Telefon an deinem Bett klingelt, ein fremdatiges Geräusch, gar nicht wie daheim, und du zögerst, bevor du dran gehst. Es ist dein Bruder. "Gratuliere. Du hast's endlich geschafft". Er hüstelt sporadisch - kurze, trockene Huster am Ende jedes Satzes - eine Angewohntheit von ihm.

"Du weißt doch - oder?", fragst du.

"Ja", sagt er und ist still.

Du setzt dich im Bett auf, wobei die Naht zieht und brennt, und sagst: "Ich möchte, daß du mir ein paar Bücher aus der Bibliothek holst, an der Uni. Medizinische Bücher. Alles, was du über gespaltenen Gaumen und Pierre-Robin-Syndrom finden kannst."

"Kein Problem", sagt er, und er klingt fast fröhlich. "Nach meiner ersten Vorlesung gehe ich zur Bibliothek und bring sie bei dir vorbei. In etwa zwei Stunden. Ok?" Dann, fast wie nachgeschoben, sagt er, "Mama sagt, ich soll dir ausrichten, sie und Paps kämen am Nachmittag vorbei, vielleicht so gegen zwei. Ich weiß nicht, wo sie bleiben wollen. Hab nicht gefragt. Wahrscheinlich bei Schwester".

"Wunderbar", sagst du, und dein Kopf dröhnt. Du legst dich wieder in die Kissen.

Als du auflegst fühlst du die Erschöpfung. Dein Mann hat die Anrufe gemacht - soviel weißt du wenigstens. Vielleicht ist er arbeiten gegangen. Du überlegst dir, daheim anzurufen, aber du willst dich nicht bewegen. Du willst schlafen und die Augen schließen, aber statt dessen weinst du. Du willst das nicht, du bist es leid, es ist kein gutes, reinigendes Weinen mehr, nur noch verbraucht, ein endloser Kummer den du nicht mehr kontrollieren kannst und der dir keine Ruhe bringt, keinen Frieden.

Die nächste Schwester, die mit dem Baby hereinkommt, ist jung und mindestens zur Hälfte durch ihre eigene Schwangerschaft durch. Sie ist effizient und höflich, und du denkst, daß es dir nichts ausmachen würde, wenn sie mit dir sprechen würde, aber das macht sie nicht. Das Füttern steigert sich zu einem Alptraum, die Milch kommt dem Baby ständig zur Nase heraus, und du fühlst dich wie ein Folterknecht. Du versuchst, dich daran zu erinnern, wie die Kinderärztin es gemacht hat, und ihre Methode zu imitieren, aber er arbeitet gegen dich. Er weigert sich, zu schlucken. Die nette Schwester kommt zurück. "Hat er etwas von ihnen angenommen?", fragt sie.

"Bestimmt nicht genug", sagst du. "Vielleicht könnten sie im Säuglingssaal fragen, ob sie ihn noch ein bißchen mehr füttern können". Du beobachtest, wie sie mit ihm umgeht, wie vertraut sie mit ihm ist, und vorsichtig, die Art, wie sie ihn wickelt und auf den Tisch legt. Du denkst, aus der wird eine gute Mutter.

"Na ja", sagt sie. "Ich kann mal schauen, was sie sagen, aber es kann sein, daß sie ihn gleich zurück schicken. Die sind ziemlich beschäftigt da unten. Und er braucht lange, wissen sie". Sie schaut auf ihre dünne Uhr, schreibt etwas auf ein metallenes Täfelchen, und schiebt das Baby weg.




Dein Bruder kommt rein, mit zwei dicken Büchern unterm Arm, legt sie auf den Nachttisch und küsst dir auf den Kopf. Du wünschst, du hättest dir die Haare gekämmt. Irgendwas. Du hast nicht mal drüber nachgedacht, seit du mit stolzen Wehen ins Krankenhaus gegangen bist. Du stellst dir vor, daß du wohl gestrahlt haben musst, hochmütig voller Selbstbewusstsein in deinem gebügelten Schwangerschaftskleid. Himmel, du hattest dir sogar die Zeit genommen, zu duschen und die Beine zu rasieren.

Dein Bruder drückt deinen Arm ohne zu merken, daß dir das weh tut, daß deine Muskeln wund sind vom stundenlangen Ziehen an den Griffen des Kreißbetts. Du lächelst, als er dir sagt, daß er das Baby gesehen hat.

"Er ist ein schönes Baby. Zuerst hatte ich Angst, ihn mir anzuschauen. Nach dem, was dein Mann gesagt hat. Und die Bilder hier in den Büchern - ich war mir nicht so sicher, was ich sehen würde". Seine Augen sind ehrlich, ein warmes braun, und das Hüsteln ist verschwunden.

"Er ist wunderbar, nicht", sagst du. Du setzt dich aufrecht hin und fährst dir mit den Händen durch die verfilzten Haare. Er nickt, und du bist froh, daß er gekommen ist.

"Wie heißt er denn? Dein Mann sagte, er wüsste es noch nicht".

"Wüsste es noch nicht? Natürlich weiß er das, das war doch schon immer klar". Du lachst nervös. "Er ist Dean Jr. Wieso hat er dir das nicht gesagt? Was hat er denn genau gesagt? Er wüsste es noch nicht?" Deine Stimme ist zu laut für das enge Krankenhauszimmer.

"Genaugenommen hat er gar nichts gesagt. Nur mit den Schultern gezuckt", sagt er und imitiert deinen Mann, und obwohl dein Bruder jung und sinnlich ist, gar nicht wie er, kannst du dir genau vorstellen, wie dein Mann das macht.

"Wo ist er denn? Weisst du das?", fragst du. Du merkst zum ersten mal, wie flach dein Bauch geworden ist. Wenn du deine Hand drauflegst siehst es fast so aus, als wärst du nie schwanger gewesen.

Dein Bruder zieht den Besucherstuhl näher ans Bett, lehnt seine Ellenbogen auf die Knie, schaut runter auf den grauen Fließenboden und sagt: "Ich nehme an, er ist daheim. Ich hab ihn heute morgen um sieben in ein Taxi gesetzt. Sein Auto stand noch bei mir, als ich los bin".

"Muß schön sein", sagst du und lehnst dich auf die Kissen, aber sie fühlen sich platt und steif an. Dein Bruder steht auf und geht ans Fenster, öffnet die Jalousie, und es kommt Farbe in das Gemälde. Du fährst dir wieder mit den Fingern durchs Haar und du fühlst dich, als würde das endlose Heulen wieder anfangen. "Verdammt noch mal, ich will eine Dusche", sagst du.




Bis deine Eltern am Nachmittag kommen, hast du geduscht, einen steifen grünen Morgenmantel aus dem Nachttäschchen angezogen, die Haare geflochten und das Baby nochmal gefüttert, diesmal etwas erfolgreicher. Du hast immer noch nicht richtig geschlafen, und du bist grantig, sogar als du sie begrüßt - deine Küsse steif und deine Umarmungen hastig. Aber du hältst die Hand deines Vaters während du an die Kissen gelehnt sitzt, mit frischem Bettzeug, das die Schwestern präzise geglättet und gefaltet haben. Die Decke fühlt sich rauh an auf deiner Haut - deine Ellenbogen sind wundgerieben. Du nimmst die Lotion-Flasche vom Tablett auf dem Nachtisch und reibst deine Hände und Ellenbogen ein. Dein Vater nimmt die Flasche und reibt dich weiter ein, massiert das fettige Rosa in deine Haut.

Deine Nichte, die Tochter deiner Schwester, sitzt auf deiner Mutters Schoß, und ihre perfekten blonden Locken haften am weinroten Pulli deiner Mutter. Die Hand des Kindes spielt mit der Kette deiner Mutter während sie dich anstarrt. Sie sagt: "Was ist denn mit ihren Augen los?" Die Arme deiner Mutter drücken sie, eine liebevolle Geste, und, etwas lauter als flüsternd sagt sie: "Sie hat geweint. Das tut weh, wenn man ein Baby hat, und sie hat geweint". Dann küsst deine Mutter ihr auf die Wange und schaut dich an, immer noch lächelnd, selbstgefällig in ihrer Korrektheit. Das Kind starrt dich wieder an und du kannst dir nicht vorstellen, wieso deine Mutter sie mitgebracht hat.

"Wo ist deine Mama?", fragst du sie.

Sie schaut zu deiner Mutter hoch, die jetzt die Hände des Kindes in ihren eigenen hält, und dein Mutter schaut zurück zu ihr und sagt: "Sag ihr, daß die arbeitet. Sag: 'Sie kommt, wenn sie mit der Arbeit fertig ist'.

Das Kind guckt auf seine Hände und sagt: "Bei der Arbeit. Sie kommt, wenn . . . ", und ihr Gesicht dreht sich wieder deiner Mutter zu, fragend. Deine Mutter flüstert ihr ins Ohr, und das Kind beendet den Satz: ". . . wenn sie fertig ist". Deine Mutter drückt sie nochmal, und sie schauen sich gegenseitig an, geben sich schnell ein Küßchen, und dann lächeln sie.

Die wendest dich deinem Vater zu. "Hast du das Baby gesehn?"

Er nickt, grinsend. Er dreht die Kappe auf die Lotion und sagt in einer scherzenden Stimme: "Sieht aus wie ein Baby. Die sehen für mich alle gleich aus". Du lachst, und es fühlt sich gut an zwischen euch. Er stellt die Lotion auf das Tablett auf dem Nachttisch, und du merkst, wie sein Lächeln schwindet und seine Augen ernst auf dir ruhen.

"Ist das schonmal passiert, Paps? In unserer Familie? Weisst du was darüber? Es kommt mir so vor, als hätte mir jemand erzählt, da wäre so was gewesen, vor Jahren mal . . .".

Deine Mutter lacht. Sie hat den Übergang irgendwie verpasst, hat nicht gemerkt, daß dein Vater nicht mehr scherzt, daß es jetzt ernst ist. "Natürlich nicht", sagt sie und wiegt das Kind in ihren Armen vor und zurück, ihre Wangen und ihr fetter Hals plötzlich voller roter Flecken unter dem Blick deines Vaters.

Du ignorierst sie und schaust wieder zu deinem Vater. Er schüttelt den Kopf: "Nicht, daß ich wüsste, Liebling". Und es ist still im Zimmer. Ein Baby heult auf dem Gang. Dein Vater verlagert sein Gewicht und sagt: "Ist es denn was genetisches? Sagen das die Ärzte?" Du deutest auf die Bücher, die neben dir im Bett liegen. "Das sagen die hier". Du hattest nicht viel Zeit, sie dir anzuschauen, viel zu lesen, aber du hast sie mal durchgeblättert, bevor deine Eltern kamen, hast hier und da mal etwas gelesen, und die Bilder waren so schockierend, so grotesk, daß du die Hand deines Vaters weglenkst, als er nach ihnen greifen will. Du sagst: "Nein, Paps, das willst du gar nicht sehen". Ein Baby heult wieder draußen, und du weißt, das es nicht deines ist. "Mein Baby hat es gar nicht so schlimm. Bei ihm ist es gar nicht so schlimm". Du fühlst die verdammten Tränen an deinen Lidern, heiß, und du setzt dich auf und sagst: "Paps, gib mir mal meinen Bademantel. Wir gehen mal nach dem Baby schaun". Er hilft dir in den passenden Bademantel und du krabblest mit den Füßen in die beinahe passenden Pantoffeln. Als du aufstehst und dir den Mantel an der Hüfte zubindest, froh, daß du wieder eine hast, sagt deine Mutter: "Wir warten dann hier", und sie und das Kind glotzen dich an. Du nimmst deinen Vater am Arm und gehst den Gang hinunter zum Säuglingssaal.




Deine Schwester gibt auch einen Auftritt, bestenfalls gekünstelt. Zwischen euch ist nichts als Jahre des Streits um Bundstifte, den Vordersitz im Auto, den Fön, Make-Up, Aufmerksamkeit. Nichts warmes oder liebenswertes in eurem Verhältnis. Du magst sie nicht besonders, ihre Art, ihr besonders geschliffenes Benehmen und ihre Plastik-Küsse. Du weißt, daß sie nicht viel von dir hält, von deiner nicht ganz traditionellen Weltauffasssung. Jetzt hast du's halt.

Nachdem sie gegangen ist, lehnst du dich zurück, um die Bücher zu lesen. Wie ein Masochist saugst du Seite um Seite auf, die schrecklichen Bilder, schwarze gähnende Löcher in Kindergesichtern, entstellende Narben, Kinder die wünderschön gewesen wären, nummerierte Querschnitte der chriurgischen Reperaturverfahren, dicke Schläuche, die aus den Mündern der schweren Fälle quillen, die Zungen ganz hinten im Hals. Du liest über die sicheren Sprachstörungen, den wahrscheinlichen Hörverlust, die mögliche geistige Behinderung. Und du findest heraus, daß man meistens mehr als eine Operation braucht, um einen Spalt wie den deines Sohnes in Ordnung zu bringen - manchmal drei oder vier. Und dann später, mit der Pubertät, wenn er aus seinen chirurgisch geschaffenen Mund herauswächst, dann müssen sie ihm einen neuen bauen, und seine Zunge wird wieder lernen müssen, ihn zu benutzen, wieder zu sprechen. Aber er wird das schaffen, und du auch. Dann wird er sich eine hübsche Braut aussuchen von den Dutzenden, die sich in seine Augen verlieben, und dann musst du ihm den letzten, grössten Schmerz zufügen - denn niemand ausser dir wird das machen. Du wirst neben deinem glücklichen, starken Sohn sitzen und ihm Bücher wie diese zeigen, und er wird die Seiten voller Schrecken durchblättern, und du wirst ihm sagen, wirst ihm sagen müssen - du hast eine fünfzigprozentig Chance, das an dein eigenes Kind weiterzugeben.

Du schließt das Buch in deinem Schoß, die Seiten fallen dir durch die Finger, und du wischst ärgerlich nach den Tränen, aber sie hören nicht auf zu kommen. Du hast jetzt nichts mehr in dir, um sie aufzuhalten.




Dein Gesicht ist immer noch naß, als dein Mann dich wecken kommt, eines der Bücher von deinem Schoß nimmt. Er hat sich umgezogen seit letzter Nacht, aber sein Hemd passt nicht, und du hättest ihm gesagt, er solle andere Schuhe anziehen. Im Licht der Lampe kannst du Falten in seinem Gesicht sehen, die dir noch nie aufgefallen sind, und seine Augen sind schattig, rot gerändert. Du schämst dich fast, weil du kein Mitgefühl für ihn aufbringen kannst. Es fühlt sich so an, als hättest du eine ganze Woche ohne ihn gelebt. Als er die Seiten des Buchs durchblättert, weißt du, daß er nicht sieht, was du gesehen hast. Er liest nichts. Er wird das nicht so verstehen, wie du es verstanden hast. Er wird das einen Tag nach dem andern angehen, denkst du dir.

Er schaut von einer bebilderten Seite auf und sagt: "Wir sollten Gott dankbar sein - es hätte so viel schlimmer kommen können".

Du runzelst die Stirn und sagst: "Gott dankbar sein? Dankbar für was denn? Das er das Schlimmste für das arme Kind da aufgehoben hat?", und du zeigst auf das jämmerliche Baby auf dem Bild. Er schließt das Buch und lehnt sich im Stuhl zurück, schaut dich verblüfft an.

"Und wofür sollten die Eltern von dem armen Baby dankbar sein?" Du starrst ihm direkt in die Augen; jetzt machst du keine Kompromisse.

Er lehnt sich dir zu und flüstert fast: "Keiner weiß, warum diese Dinge passieren, aber - " Hinter seinen Worten kannst du deine Mutter hören.

"Weißt du auch, wieso das keiner weiß? Ist dir nicht klar, wieso da keiner drauf kommt?" Du schreist jetzt fast, und dein Magen krampft sich zusammen. "Weil es unlogisch ist, völlig unverzeihlich!"

Dein Mann steht auf und knallt das Buch auf den Nachttisch. "Das - du - diese Einstellung - das ist wahrscheinlich genau der Grund dafür". Er atmet schwer, sein Gesicht wird rot, und er lehnt sich über dich, die Hände fest auf dem Bett, und er flüstert: "Die Natur hat Wege und Mittel, so etwas zu verhindern. Man nennt das Fehlgeburt, und das ist es ja genau, was dein Körper versucht hat, falls du dich noch erinnerst, im dritten Monat. Aber deine tollen Ärzte wussten ja alles besser, und fürs nächste halbe Jahr hast du Brethin gefuttert, wenn du auch nur den kleinsten Krampf gespürt hast".

Die grauhaarige Schwester kommt durch die Tür, das Baby vor sich herschiebend. Du drehst die Augen zur Decke und atmest tief ein. Dein Mann dreht sich weg, zum Fenster, und reibt sich mit der Hand übers Gesicht.

"Sollen wir's nochmal versuchen?", fragt die Schwester.

Dein Mann geht zur Tür und schaut vorsichtig auf das Baby.

"Ja", sagst du. "Wieso gehst du nicht in die Kirche, oder in Kneipe, was mir wahrscheinlicher vorkommt, und in der Zwischenzeit bleibe ich hier und versuche herauszufinden, wie man unser Baby vernünftig füttert, ohne es zu ertränken". Du weißt nicht, ob er dich gehört hat, weil er längst zur Tür hinaus ist, und die Schwester, die du verabscheust, steht bei dir mit deinem Baby auf dem Arm, und schaut dich über ihre Brille an. Du hälst die Arme für das Baby auf, und nachdem sie es dir gereicht hat, geht sie einen Schritt zurück und sagt sanft: "Wissen sie, ich würde es gerne sehen, wenn dieser Knirps in ein glückliches, stabiles Zuhause käme. Er hat es schon schwer genug".

Du blickst zu ihr auf. Unglaublich, denkst du, und du sagst: "Na, wenigstens sind sie nicht da, und das ist doch schon mal was, nicht wahr". Und du kannst kaum glauben, daß du das gesagt hast, du hättest das nie gesagt, aber da - es ist passiert.

Während du das Baby in Fütterungsposition bringst, siehst du sie aus dem Augenwinkel. Sie stellt die Flasche auf den Nachttisch und geht auf stummen Sohlen heraus, ihre bestrumpften Schenkel aneinanderreibend. Du nimmst die Flasche, drehst sie so, daß das Loch zur Zunge des Babys zeigt, und als er sie eifrig in den Mund nimmt, sagst du: "Da. Jetzt ist alles klar." Du drückst die Flasche vorsichtig, die Arme fliegen hoch und der Kopf drückt zurück. Du nimmst die Flasche heraus, nimmst ein Tuch vom Nachttisch, und wischst die Milch von seiner Nase. Du hälst ihn an dich, die Wärme seines Kopfes an deiner Wange, sein Mund dicht an deinem Ohr, damit du hören kannst, wie er Atem holt. Und in dem Moment, als du das winzige Keuchen hörst, fühlst du ein Glück das du nicht kanntest. Du küsst seine Wange, seine Augen, seine Nase, seinen roten milchigen Mund, und lehnst ihn wieder in deinen Schoß. Du hälst den Nippel an seinen Mund, und er nimmt ihn. Nochmal.





© 1997 Der Brennende Busch ~ Alle Rechte vorbehalten ~ Übersetzung: Jürgen Fauth

 

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