Der
Brennende
Busch


Harald Taglinger

Spucknapf




Auf dem Nachttisch meiner zerkrebsten Großmutter stand ein Spucknapf. Meistens lungerte er dort ziemlich nah an der Kante herum; leicht erreichbar für die faden Knöchel der alten Frau. Auf dem Möbel neben dem Sterbebett, wo das Schutzglas schon fast aufzuhören drohte und die Ecken aus gepreßtem Fichtenholz nicht mehr in einer geraden Linie zusammenliefen.

Dieser Spucknapf besaß eine zerrissene Haut aus weißem Emaille, und er war angeschlagen am oberen, blauen Rand. Leicht hing dieser Rand über. Vorher war es ein Milchpott gewesen, den meine Mutter ihrer Mutter wortlos zur Seite stellte. Jetzt glitt der Rotz meiner Großmutter dort hinein und blieb liegen. Meine Großmutter hatte immer rissige Lippen und das Geschwür im ganzen Hals. Nichts konnte sie schlucken. Und wenn das doch einmal passierte, dann zerfraß ihr Speichel die Lungen. Ich habe ihr Husten aber nur ganz selten gehört. Man gewöhnt sich an ihn, wie an einen Windstoß vor dem Haus.

Meine Großmutter war mit der Welt,
in der sie abstarb, nur noch durch einen brüchigen, roten Gummischlauch verbunden, der ihr aus dem erneut geöffneten Bauchnabel starrte. Dort floß ihr statt durch die Gurgel jeder Schluck direkt in den Bauch zu. Immer kurz nach dem Mittagessen begann die ewig gleiche Prozedur. Die käsige Bettdecke wurde von meiner Mutter beiseite geschoben, das Nachhemd meiner Großmutter wurde von oben (Um Himmels willen, ja von oben !) bis zum Bauch zerknöpft. Die vier Windeln rund um den Schlauch wurden mit den Blut- und Eiterstreifen zu Boden geworfen und durch neue ersetzt. Dann begann die Fütterung.

Es war immer ein flüssiger, zäher Brei, der mit einer fettigen Plastikspritze in den Schlauch geschoben wurde. Meine Mutter erfüllte stumm und sachlich diese Art von Gegengeschäft, das die beiden wie einen Abwasch nach unserem Mittagessen verrichteten. Nie habe ich damals gemerkt, daß sie unwissentlich die Zeit verdrehten und mit einer künstlichen Nabelschnur die Tochter zur Mutter degradierten. Ich sah zu, jedesmal, ich kaute stumm an meiner Nachspeise und hatte keinen Spucknapf. Das ärgerte mich. Ich war noch ziemlich jung.

Und ich war nicht viel älter, als ich mir ein trotziges Herz gönnte und am nervösen Mittagsschlaf meiner Mutter vorbei ins Dunkle schlich. Dort glitt ich vorsichtig in das staubige Schlafzimmer. Dort starb meine Großmutter täglich.Ich tapste auf Zehenspitzen an den weißen Überdecken und dem Geruch aus schlechten Zähnen vorbei. Auf den Spucknapf schlich ich zu. Wenn ich mich leise auf die vorderen Zehenkanten stellte, konnte ich in ihn hineinsehen. Also heftete ich meine Finger an die Leisten des zu hohen Nachttisches und übersah das leise Röcheln meiner Großmutter. Ich hob vorsichtig die Nase, um mein Gesicht über den ein wenig zu hohen Rand des Spucknapfes zu bringen und blickte auf eine zähe Schicht, die schmierig die Hälfte des Bechers füllte. Ich traute mich nicht, das Emaille auch nur einen Fingernagel weit zu bewegen. Es wäre zu laut gewesen.

So aber stellte ich mir vor, wie ich den ganzen Napf mit meinen kleinen Händen zu heben begann und ihn langsam an den Mund führte. Ich stellte mir vor, wie die zähe Masse sich aus dem Boden löste und langsam auf meine Lippen zuglitt. Ich stellte mir vor, wie die kleinen Bröckchen oben zu schwimmen kamen und sich mir zuerst näherten. Ich stellte mir vor, wie es naß und kalt auf mich zuschmierte. Und sobald ich mir vorstellen konnte, wie ich den Speichel an mir spürte, war mein Denken eine nicht enden wollendes Schlucken. Mein Mund füllte sich, und meine Großmutter glitt in meinen Hals. Die Masse hatte aber kein Ende. Sie gab das Licht nicht mehr frei und schien auch nicht durch meinen Hals hindurch zu wollen. Sosehr ich auch schluckte, es blieb doch ein zäher Brei, der nicht in mir weiterging. Die Zunge glitt vom Strom ab und konnte den kalten Speichel nicht mit dem meinen zerteilen. Ich war wie aufgespießt. Ich schrie. Ich wollte kräftig sein. Und ich schrie. Ich war noch jung.

Und die Tür ging auf und übernahm meinen Schrei. Meine Mutter hetzte auf die Leiche im alten Ehebett zu und flennte und zerrte und riß mir die Augen zu und war hilflos und schrie und preßte mich an sich. Der Junge. Aber ich schwöre: Ich habe den Spucknapf nicht berührt.

Meine Großmutter hat mir kurz vor ihrem Tod ein grünes Hemd geschenkt.


Grafik: Iska Jehl
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