Cleome Meine Mutter kam raus auf die Veranda, wo ich auf der Schaukel saß und einen Stoß Broschüren las. Die Broschüren waren in einer gelben Telephonbuch-Plastiktüte gewesen, die ich an der Haustürklinke gefunden hatte. Strassenkarten von Vicksburg, Eintrittskarten für den Militärpark und die Plantagenführungen, Broschüren des Geschäftsviertels, ein Gutscheinbuch auf dem stand: "Für Sie in Ihrem neuen Zuhause - Brock Möbel". Wir wohnten schon acht Jahre in dem Haus. Ich blickte zu meiner Mutter auf, die in der Verandatür stand, ihre Haar platt auf einer Seite. Sie hatte Kissen-Falten im Gesicht und diesen benommenen Ausdruck von jemandem, der mitten am Tag fest geschlafen hat. "Was denn?", sagte ich. Sie konzentrierte sich für einen langen Moment auf mich und sagte: "Hast du schon mal von Leuten gehört, die im Schlaf einen Orgasmus hatten?" "Was?", sagte ich. "Ich meine Sex-Träume", sagte sie. "Ich weiß, was du meinst". Ich hob meine Hand in einer abwehrenden Geste. "Bitte". Sie blickte über den Garten, augenzwinkernd, sich den Arm reibend. Sie sah erstaunt aus, vielleicht darüber, was sie gesagt hatte, sie, die niemals auch nur die fundamentalsten Tatsachen des Lebens mir gegenüber erwähnte. Drei Jahre lang waren lautlos Bücher auf dem Kaffeetisch und dem Regal im Flur aufgetaucht. Veränderungen, Veränderungen, Veränderungen. Dein Körper und Du. "Tut mir leid", sagte sie. "Ich dachte nur, das wäre vielleicht etwas, das ich dich fragen könnte". "Du meintest, ich wüsste das?" sagte ich. "Du hattest eine Sex-Frage, und da bin ich dir sofort eingefallen?" Sie fuhr sich mit der Handfläche von der Stirn zum Kinn, über ihren Hals und unter den Kragen. Ich erinnerte mich plötzlich an ihr Wort für Stirn: Stärn. Laß mich mal Deine Stärn fühlen. Sie starrte, immernoch schläfrig, ohne zu blinken. Sie schüttelte den Kopf. "Ich weiß gar nicht, was ich mir dabei gedacht habe", sagte sie. "Vergiß es einfach." "Auch wenn ich tausend Jahre alt werde, Mama, das würde ich nicht so einfach vergessen." Ich lehnte mich nach vorne um die Gutscheine vom Boden aufzusammeln. Als ich meine Finger unter ihnen entlangfuhr stieß mir etwas unter den Zeigefingernagel und ich jaulte, schüttelte meine Hand. "Mist". "Was hast du denn gemacht?" Ich drückte meinen Zeigefinger mit der anderen Hand. "Splitter", sagte ich. "Dein armer Finger, brauchst du eine Pinzette?", sagte sie. "Ich hole die Pinzette". Ich saß da und hörte, wie die Küchenschubladen auf ihren Leisten fuhren und das Geräusch der Kühlschranktür, die sich aufschälte und dann zuschmatzte. Sie kam mit der Pinzette zurück, einem Fläschchen Mercurocrome und einem Eiswürfel in einem Nest aus Küchenkrepp. "Halte dir das einen Moment lang auf den Nagel", sagte sie als sie mir das Eis reichte. "Brauchst du eine Nadel?" "Himmel, nein", sagte ich. Sie hockte sich neben die Schaukel und lehnte sich auf ihren Arm, eine fünfzigjährige Frau, drei mal verheiratet - geschieden, verwitwet, verwitwet. Ihr weiß-blondes Haar, fein und toupiert, hob sich mit einer Briese aus dem Hintergarten von ihrem Kopf ab. Die Briese roch nach frisch umgegrabener Erde, geschnittenem Gras und wilden Zwiebeln, die mit dem Gras geschnitten worden waren. "Das Eis ist schlimmer als der Splitter", sagte ich. "Das ist zur Betäubung, bevor ich da die Pinzette reinschiebe". Sie nahm sich eine der Vicksburg-Broschüren. Sie öffnete sie und hielt sie eine Armlänge weg, hob ihr Kinn als ob sie ihre Brille aufhätte. "Das kann ich nicht lesen. Was steht da?" "Da steht, willkommen in unserer Stadt". "Hmm", sagte sie. "Stell dir mal vor". Sie faltete die Broschüre und warf sie zu dem Haufen auf dem Boden. Sie nahm ein Blatt mit Eintrittskarten für Brimstone Park, die Dragster-Rennbahn. "Erinnert mich an den Jungen mit dem du mal ausgegangen bist, der bei Firestone gearbeitet hat". "Mark Ransom?" "Ja, der", sagte sie. "Der hat immer an Autos rumgebastelt". "Das trifft auf jeden zu, aber du meinst Mark Ransom". Ich zuckte die Schultern. "Der war nicht so ganz beisammen". "Ich dachte, das wäre ein netter Junge", sagte sie. "Er konnte nett sein". Sie lächelte, nicht für mich. "Er erinnerte mich an jemanden, in den ich mal verliebt war", sagte sie. "Jedenfalls hatte er hübsche Hände", sagte ich. Ich nahm den Eiswürfel weg. Meine Fingerspitze war runzlig und weiß. Ein dunkler Holzspan reichte einen halben Zentimeter in das rosane Oval meines Nagelbetts. Ich begann, an dem Splitter zu arbeiten. Mark hatte tatsächlich schöne Hände, lange Finger, nicht zu knöchelig, schmale Handflächen. Seine Monde waren immer schwarz mit Motorschmiere. Wenn er an etwas arbeitete, bewegten sich diese Hände wie elegante Spinnen, er konnte reden und gleichzeitig mit der Ratsche überall am Motor arbeiten, ohne auch nur hinzugucken. "Der gute alte Mark", sagte ich. "Seine Mutter arbeitete in der Cafeteria in der Schule", sagte Mama. "Winzig kleine deutsche Frau". Sie zeigte zwei Zentimeter mit ihrem Daumen und Zeigefinger, stand auf und ging zur Mosquitotür. Sie stand da mit einer Hand an der Hüfte und einer Faust auf ihrem Kopf und schaute dabei zu, wie die Nachbarskatze durch den Garten einem Käfer hinterhersprang. "War das nicht der Junge, der dich zum Fluß mitgenommen hat, und dann kamst du heim und hast geheult?" "Genau der", sagte ich. Ich legte die Pinzette hin und ließ die Muskeln meiner Hand spielen. "Ein paar Leute waren im Fluß ertrunken, und ich hatte Angst, aus dem Boot zu steigen. Der ist ganz wütend geworden". "Weil du Angst hattest?" Ich lehnte mich in der Schaukel zurück und zog, indem ich meinen wunden Finger von den anderen weghielt, meine Haare nach hinten und knotete sie zusammen. Deutlich wie ein Kodak-Foto konnte ich die Sandbank im braunen Fluß sitzen sehen, all diesen schönen blonden Sand, Schatten in den gekräuselten Dünen wie in der Wüste. Der Fluß hatte den ganzen Sommer lang niedrig gestanden, und Bänke wie diese lagen frei. Man konnte nicht sehen, da&sz der Fluß manchmal unter die Sandbänke grub bis sie schließlich in die Strömung abbrachen wie überladene Regale. Leute flußabwärts waren beim Spielen im trockenen Sand ertrunken. Wir waren in Marks Boot, oder vielmehr ich wars, und Mark war auf der Sandbank und hüpfte darauf herum so feste er konnte und rief häßliches Zeug. "Ich konnte es sehen", sagte ich. "Genau vor mir würde sich ein grosses Loch auftun und ihn verschlucken". "Das war also ein Vollidiot", sagte Mama leise. Sie schaute mich noch einen Moment an, dann drehte sie sich wieder dem Garten zu. Ein großer Stärling, metallisch-braun, lief übers Gras und zog einen Streifen Plastik hinter sich her, und das zerbrechliche Tschirpen eines Insekts stieg von den Cleomen beim Zaun auf. "Was machen wir bloß im August", sagte sie.
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