Der Brennende Busch

Wolfgang Burger: Blinde Spiegel

Das Messer ist schwer. Es ist ein gutes, teures Messer. Eine dicke Klinge, sicher zwei Handbreiten lang, ein kräftiger Holzgriff. Ein zuverlässiges Werkzeug. Obwohl schon ein paar Jahre alt und viel in Gebrauch, fast ohne Beschädigung. Solingen steht auf der Klinge, zwei gekreutzte Schwerter. Der Stahl ist vollkommen blank und jetzt auch naß vom Spülwasser, ein perfekter Spiegel. Er wendet es langsam hin und her und beobachtet die zuckenden Lichtreflexe. Irgendein Chrom-Molybdän-Stahl, geschmiedet natürlich. Nur in der Oberfläche gehärtet, damit er zäh bleibt. Er legt das Messer langsam ins Spühlwasser zurück, obwohl es schon sauber ist, und beginnt, die Teller abzuwaschen. Langsam, gründlich. Penibel, wie sie sagen würde. Sie sieht es nicht. Sie sitzt mit dem Rücken zu ihm auf einem Stuhl am Eßtisch, die Beine hochgelegt, sieht durch die Balkontür nach draußen und summt vor sich hin. Dieses gemeinsame Abendessen gehört dazu, seit Jahren. Der Tagesausklang, Abstand gewinnen, Ruhe finden. Heute ist alles anders: Bernauer ist vom Auftrag zurückgetreten.

Sie sieht nicht nach draußen. Draußen ist es längst dunkel. Sie beobachtet ihn im spiegelnden Glas der Balkontür. Er hat ein Problem. Und, wie immer, er redet nicht drüber. Männer reden ja immer nur über Erfolge, nie über Probleme. Sie muß warten. Wenn sie ihn darauf anspricht, gibt er eine ausweichende oder grobe Antwort und sagt erst recht nichts. Unten fährt ein Auto vorbei, langsam, auf Parkplatzsuche. Es scheint ein bißchen zu regnen. Sie hätte ihm ja auch was zu erzählen, das mit Harald. Aber heute nicht, obwohl sie es versprochen hat, nein heute nicht. Er hat schon Probleme genug, da kann sie nicht auch noch... Nein, besser morgen. Jetzt nimmt er schon zum zweiten Mal dieses schreckliche Ding aus dem Wasser, dieses Angebermesser. Sie selbst benutzt es nie, sie hat Angst davor, nimmt lieber das kleine mit dem braunen Holzgriff, aber er schneidet selbst Petersilie mit diesem mörderisch scharfen Riesending. Wie er aussieht, so nachdenklich. Es muß ein großes Problem sein.

Bernauer hat zweimal gemahnt und Termine gesetzt. Jetzt ist nichts mehr zu machen. 200 Takte pro Minute hatten sie zugesagt. Schon bei 160 kriegen sie Probleme mit den Toleranzen, und bei 180 fliegen ihnen die Teile aus den Spannzangen. Es sollte der Auftrag seines Lebens sein, der Durchbruch, aber sie haben's vermasselt. 870.000 Mark an Vorinvestitionen sind hin. Die Firma ist hin, das Haus, das Auto, alles. Und er muß es ihr sagen, und er kann nicht. Warum? Kann er nicht als Geschäftsmann alles, hat er nicht alles gekonnt? Kann er nicht vor zig Leuten sprechen, sie überzeugen von Dingen, an die er selbst nicht glaubt, sie auf eine Seite ziehen, auf der er selbst nicht steht? Aber sie sagt ihm ja auch nicht alles. Schon zum dritten Mal war sie nicht in ihrer Boutique, als er abends angerufen hat. Lieferantengespräche, um halb acht! Das Messer gibt einem ein seltsames Gefühl, es liegt in der Hand, als sei es genau für diese eine Hand gemacht, als wäre nichts anderes denkbar, als daß es in dieser Hand liegt, als sei es gar nicht existent, wenn es die Hand dazu nicht gäbe. Von einem solchen Griff kann man nicht abrutschen, auch wenn man beim Schneiden mit Kraft auf Widerstand stößt. Diese Klinge wird nicht brechen, wenn sie auf Knochen trifft. Und sie schneidet Fleisch wie Sahnetorte. Wo sie angeschliffen ist, da ist sie matt, ein paar Millimeter nur, eine feine Textur, ein präziser, handwerklich perfekter Schliff. So eine scharfe Messerklinge ist vorne nur wenige Mikrometer dick, der zehnte Teil eines menschlichen Haars vielleicht. Wenn man versehentlich drankommt, hat man sich schon geschnitten.

Er macht ihr Angst, wie er so dasteht und auf das Messer starrt. Sie müßte etwas sagen. Aber was? Etwas Banales, über's Wetter, wie war Dein Tag? Nein, das lieber nicht. Sie ahnt ja, wie sein Tag war. Es gibt ein Problem mit der Firma, andere Probleme kennt er ja nicht, und es ist ein verdammt großes Problem. Die Scheibe beschlägt, sein Spiegelbild ist jetzt undeutlich, verschwommen. Sie beschlägt vom dampfenden Spülwasser. Nie hat sie verstanden, wie er in dieses heiße Wasser greifen kann, und warum zum Teufel es so heiß sein muß. Vielleicht will er ihr und sich immer wieder beweisen, was er ertragen kann. Noch niemals hat er geweint in ihrer Gegenwart. Und immer noch hält er das Messer in der Hand. Es müßte gar nicht gespült werden, wenn er ihr vorhin nicht geholfen hätte, beim Tomatenschneiden. Tomatensalat mit Basilikum, ohne Mozzarella, wegen der Kalorien.

Die Haut an seiner Hand ist schrumpelig vom Spülwasser, die Nagelränder ganz weiß. Auch die Fingern lassen inzwischen erkennen, daß er gerne ißt und die Vierzig lange hinter sich hat. In der Klinge kann er seine Augen sehen. Stahlblau, entschlossen, hart. Nein, heute nicht hart, bitter. Wenn er wenigstens etwas ins Ausland geschafft hätte, oder allen Privatbesitz an sie überschieben, wie es alle machen. Aber er hat ja nie den Gedanken zugelassen, daß es schiefgehen könnte. Wer daran denkt, daß es schiefgehen könnte, der hat schon verloren, der kann keinen Erfolg haben, davon war er immer überzeugt. Immer alles auf eine Karte, immer volles Risiko, er war ja so jung und so stark, wozu Vorsicht, wozu Altersvorsorge? Mit 55 wird der Krempel verkauft und dann ab auf die Bahamas, das war sein Spruch, immer. Jetzt ist er 47, hat ein Messer in der Hand und betrachtet seine Augen im Spiegel der Klinge. Das Bild ist plötzlich undeutlich, verschwommen, als ob es das Messer nicht ganz sauber wäre, obwohl es schon viele Minuten im Wasser liegt und er es schon dreimal abgewischt hat.

Sie merkt, daß sie aufgehört hat zu summen. Jetzt müßte er die Töpfe spühlen, als letztes, aber er tut es nicht. Wie viele Sekunden hat er sich schon nicht mehr bewegt? Immer hat er gesagt, eine Spülmaschine lohnt sich nicht für uns zwei, abends zusammen Kochen und Abspülen, das ist doch schön. Man plaudert ein bißchen, tut was mit den Händen, was einfach ist, was keine Probleme macht, das entspannt. Wozu eine Maschine für zwei Teller, zwei Bestecke, ein, zwei Schüsseln? Irgendwann sind sie dann auf die Arbeitsteilung gekommen: Einer kocht, einer spült, immer abwechselnd. Heute hat sie Tagliatelle gemacht, mit der Lachssauce, die er so gerne ißt. Obwohl er mit Sahnesaucen vorsichtiger sein sollte, jetzt, von der Seite, sieht man es besonders deutlich. Aber er ist immer noch eine imponierende Gestalt, ja, wenn man bloß mit ihm reden könnte. Sie öffnet den Mund, holt Luft, schließt ihn wieder, will wieder summen, weil sie die Stille nicht erträgt, aber ihre Stimme funktioniert nicht, sie fühlt ohne es zu versuchen, daß sie krächzen würde, und wagt nicht, sich zu räuspern.

Der Griff seiner Hand ist plötzlich eisenhart. Wasser wird zwischen den Fingern hervorgequetscht, tropft hörbar ins Becken, die Knöchel treten weiß hervor, die Klinge beginnt zu zittern, das Bild darin wird immer undeutlicher, und dann kann er seine Augen nicht mehr sehen.



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