I
Die Metaphern überschlagen sich, die Bilder aus der Vergangenheit triumphieren. Revolution, Anarchie, Erosion staatlicher Macht. Es sind nicht wenige, denen der Kampf um die Produktionsmittel im 19. Jahrhundert als erstes einfällt, wenn sie ans Internet denken. In der "Neuen Juristischen Wochenschrift", einem ehrwürdigen Organ, konnte man im Sommer 1996 nicht nur das wiederbeschworene Gespenst einer unheimlichen Massenbewegung durch Europa ziehen sehen, der Autor, Gerd Roellecke, schwang sich gar zu metaphysischen Dimensionen auf:
Schwer tut sich, wer sich Gedanken übers Internet machen muß, leicht, wer es einfach nur nutzt. Alles ist schwankend im Netz, amorph, unangreifbar. Gewohnheitsregeln ersetzen moralische Normen; sie orientieren sich am technisch Möglichen, nicht am gesellschaftlich Wünschenswerten. Der Griff auf Nachbars Festplatte zählt zum common sense, und es fehlt nicht viel, um zum common law zu werden. Was immer einem gefällt, steckt man ein, kopiert es, verändert es, druckt es aus, verschickt, verleiht, verschenkt es. Es ist da, und weil es da ist, gehört es allen. Sollte es früher jemand besessen haben, so handelt es sich um eine Kolonisation fremder Erdteile. Wer seinen Fuß darauf setzt, kann das Territorium für sich beanspruchen. Tatsächlich formiert sich der Datenstrom bei jedem Zugriff zu einem scheinbar neuen Raum, in dem sich Abnutzungsspuren nicht feststellen lassen. Wer immer ihn bereitstellt, lädt zu sich ein. Daß man seinem Gastgeber nicht das Mobiliar wegschleppt, versteht sich in der realen Welt. Im Datenuniversum ist der Diebstahl keine Wegnahme, sondern eine Hinzufügung, nachgerade eine Bereicherung der Welt. Prinzip Kopie - Diebstahl paradox. "Wer ist der Geschädigte?" fragen seit Jahrhunderten die klassischen Plagiateure der Literatur und Kunst, die sich eben dieses Prinzips bedienen. Egon Friedell schrieb ihnen im Jahre 1919 - lange vor Erfindung moderner Reproduktionstechnologien - folgendes ins Stammbuch:
Schöne Ironie der guten alten Zeit. Der klassische Plagiateur entlarvte sich nicht selten wirklich; er war ein Nachschöpfer - meist ein schlechter. Wo sich die Kopie freilich vom Original nicht mehr unterscheidet, kann der Bestohlene sich kaum darauf verlassen, als Anbieter der besseren Qualität doch noch auf seine Kosten zu kommen. Seltsamerweise geistert der Friedell'sche Gedanke bis heute durch die juristische Debatte. In der höchst schwierigen Frage, wie man bei digitalen Multimedia-Produkten die Teile der einzelnen Urheber zueinander gewichten solle, gilt die Persönlichkeit des Schöpfers als Eigentumsgarantie. So heißt es bei Alexander Reuter:
Wenn dem so wäre, müßte man sich keine Sorgen machen. Ob Multimedia, Sampling oder Morphing - wann immer etwas neu kombiniert wird, siegte die stärkere Individualität. Ein frommer Wunsch. In der Praxis löst sich die Individualität selbst unvermischt schneller auf, als es den Urhebern recht sein kann. Schon Marshall McLuhan stellte fest, daß der persönliche Ausdruck mit zunehmender Technisierung der Ausdrucksmittel schwindet. Wer einmal ein paar Stunden durchs Internet gesurft ist, weiß davon ein Klagelied zu singen. II
Nach kontinentalem Verständnis ist das Eigentum eines Urhebers von seiner Person nicht ablösbar und darum keine Ware im geläufigen Sinne. Zur hoch differenzierten Kultur des geistigen Eigentums in Europa gehört die Aufspaltung in Vermögens- und Persönlichkeitsrechte. Wer etwas erschafft - schreibt, malt, komponiert - soll einerseits daran verdienen können, andererseits achtet das Gesetz die Tatsache, daß es sich um keinen rein wirtschaftlichen Vorgang handelt. Dem trägt vor allem das Widerrufsrecht aus gewandelter Überzeugung und der Schutz vor Entstellungen Rechnung. Ganz anders im amerikanischen Copyright, wo nur der Wille dessen zählt, der das Recht der Vervielfältigung und Vermarktung besitzt. Gegen seinen erworbenen Anspruch kann der Urheber nichts mehr einwenden, hat er einmal sein Copyright verkauft. Es liegt auf der Hand, welches der beiden Systeme sich im Sinne der Urheberrechtsindustrien besser bewährt hat. Der Aufstieg Hollywoods wäre nach kontinentalem Recht gar nicht denkbar gewesen, wiewohl gerade im deutschen Filmrecht systemwidrige Copyrightregelungen eingebaut sind. Nicht nur Politiker lieben den Produzenten als mächtigen Medienbaron; auch die Juristen haben frühzeitig vor ihm gekuscht. Bis heute hat sich an den Paragraphen 88 bis 94, die die Filmurheber - Autoren, Regisseure, Kameraleute - weitgehend entmündigen, nichts geändert. Im sonst eher konservativen Urheberrechtskommentar von Wilhelm Nordemann finden sich dazu ungewöhnlich scharfe Worte:
Wenn ein Damm leckt, bricht er auch irgendwann. Als die Europäische Gemeinschaft unter dem Druck der Computerindustrie 1991 eine Richtlinie zum Softwareschutz verabschiedete, stand das systemwidrige Filmrechtsmodell offensichtlich Pate. Wiewohl Software in allen europäischen Urheberrechtsgesetzen nun als "Sprachwerk" gehandelt wird, gilt der Programmierer mitnichten als Autor. Im Gegenteil, noch stärker als der Filmurheber wird er in seinen Persönlichkeitsrechten beschnitten. Albrecht Goetz von Olenhusen:
Einer unter künftig weiteren. Je größer die wirtschaftliche Bedeutung der stetig wachsenden Copyright-Industries wird - rund 200 Milliarden Dollar jährlich setzen allein die US-amerikanischen Verwerter mit geistigem Eigentum um, ein Anteil von 4 Prozent des Bruttosozialprodukts - desto verworrener nimmt sich die Lage an der juristischen Front aus. Generell lassen sich zwei sich widersprechende Tendenzen feststellen. Zum einen gerät das europäische "droit d'auteur" mit seinen Persönlichkeitsrechten immer stärker in Bedrängnis, zum anderen wird die Persönlichkeit eines Künstlers als lukrative, damit schützenswerte Einnahmequelle entdeckt. Während es mit dem neuen europäischen Markenrecht möglich geworden ist, tote Berühmtheiten wie Theodor Fontane als Warenzeichen zu okkupieren, muß man paradoxerweise lebende Stars mit der Aura geistigen Eigentums umfloren, um sich ihrer gänzlich zu bemächtigen. "Es vergeht kein Tag, an dem man nicht überrascht wäre, welch ein Einfallsreichtum die Industrie aufbringt, um Kunstprodukte oder die Persönlichkeit der Künstler zu vermarkten", konstatiert Artur Axel Wandtke, Professor für Urheberrecht an der Berliner Humbold-Universität, und kommt bei der Untersuchung des Gebrauchswerts der Künstlerpersönlichkeit schließlich zum Ergebnis:
Mag sich hier und dort ein Showstar oder Talkmaster die Hände reiben; für die große Masse der Autoren, Musiker und Maler wird diese Entwicklung kaum einen Pfennig abwerfen. Ihnen droht, im Gegenteil, immer häufiger das gnadenlose amerikanische Modell des "buy-out", also die unfreundliche Übernahme all ihrer Rechte gegen einen einmaligen Betrag. Was in den Gesetzbüchern über die Beteiligung der Urheber an jeder wirtschaftlichen Auswertung steht, ist längst nicht mehr das Papier wert, auf dem es gedruckt wurde; in der Praxis regiert ein anderes Regiment. Fast höhnisch klingt der Rat Wilhelm Nordemanns, einst Justitiar des "Verbands deutscher Schriftsteller", die Autoren mögen so häufig wie möglich keine Verträge unterzeichnen, da die Gesetzeslage für sie allemal günstiger sei als jede private Regelung. Hier macht sich das Fehlen eines Urhebervertragsrechts schmerzlich bemerkbar, das - analog zum Arbeitsrecht - den schwachen Einzelnen vor den übermächtigen Konzernen schützt. Albrecht Götz von Olenhusen und Artur Axel Wandtke stimmen in ihren resignativen Prognosen überein:
IIIInteressanterweise ist in den internationalen Copyright-Foren des Internet kaum von Literatur, Musik oder Bildern die Rede. Gesprochen wird stets nur von "contents" - also von Inhalten, gleich welcher Art. Vorrangig speichern die Festplatten dieser Welt, was sie selbst in Betrieb hält: Software. Wie schon bei den unvernetzten lokalen Mailboxen der achtziger Jahre dreht sich das neue Medium im Kern um sich selbst. Auch die vielgepriesene weltweite Kommunikation ähnelt zum größten Teil einem Beziehungsgespräch zwischen Mensch und Maschine, nicht zwischen Mensch und Mensch. Man muß schon lange suchen, bis man einen virtuellen Ort entdeckt, an dem sich der Inhalt gänzlich von der Technologie emanzipiert. Die Gefahr, einer High-Tech-Schimäre ohne tieferen Sinn aufzusitzen, scheint bislang jedenfalls nicht gebannt.
Robert Krokowski betreibt in Berlin einen Internet-Dienst mit dem geheimnisvollen Namen "Ragman's Rake". Der "Rechen des Lumpensammlers" - so die Übersetzung - ist der Versuch einer virtuellen Textagentur. Journalisten und Autoren können - meist schon einmal veröffentlichte - Texte in "Ragman's Rake" ablegen, wo sie jedermann gratis lesen darf. Wer sie weiterverwerten will, muß dazu die normalen Abdruckrechte erwerben; zehn Prozent des Honorars gehen an die Agentur. Doch wie schützt sich "Ragman's Rake" gegen Diebstahl?
"Ragman's Rake" siedelt an der Grenze beider Welten; die unsicherste Position, die man derzeit im Netz einnehmen kann. Denn die Kenntnis eines Rechtsverstoßes nützt wenig, wenn man in Rechnung stellt, welchen Aufwand es in der Praxis bedeutet, ihn verfolgen zu lassen. Gerade bei journalistischen Texten kann man regelmäßig davon ausgehen, daß sich der Aufwand nicht lohnt. Wie groß ist die Gefahr überhaupt? Nochmal Robert Krokowski:
Begeben wir uns auf einen kleinen Spaziergang durchs deutschsprachige Internet, Schwerpunkt Literatur. Wer bedient sich geschützer fremder Werke? Das größte Reservoire an Originaltexten enthält das "Projekt Gutenberg", ein internationales Unternehmen, gemeinfreie Literatur online zugänglich zu machen. Hier finden sich naturgemäß Klassiker, deren Schutzfristen lange abgelaufen sind. Beliebt auf privaten Homepages sind Lyrikkompilationen; auch sie betreffen oft gemeinfreie Werke. Das jüngste Gedicht auf unserem Streifzug stammt von Heinz Czechowski. Gewiß - ein eindeutiger Urheberrechtsverstoß, doch kaum eine neue Qualität geistigen Diebstahls. Lyrik gehörte schon immer zu den bevorzugten Mitbringseln literarischer Flaneure, ob von Hand abgeschrieben oder per Maschine kopiert. Ein Gedicht ist eben schnell getippt, während der geistige Großdiebstahl auch heute noch Mühen erfordert. Selbst wenn man einen Scanner besitzt, ist die Umsetzung des gestohlen Textes aufs nötige Internet-Format mit stundenlanger, mühsamer Kleinarbeit verbunden. Wer sollte sich ihr unterziehen, um einen fremden Roman ins Netz zu stellen? Eine Unverhältnismäßigkeit, die auch von der erhöhten Aufmerksamkeit für die eigene Homepage nicht genügend gelohnt wird. So sind größere literarische Texte ausdrücklich von ihren Autoren selbst ins Netz gestellt worden - im vollen Bewußtsein, daß der Eigentumsvorbehalt nur auf dem Papier besteht. Der Kölner Publizist Niels Höpfner etwa hat eine umfangreiche Monographie über den Schweizer Schriftsteller Matthias Zschokke im Netz publiziert. Unter der poetischen Adresse "http://www.alabaster.de/zschokke/" kann man den Text kostenfrei abrufen. Niels Höpfner will kein Geld mit der Publikation verdienen; darum kommt ihm das Internet als Medium gelegen. Am Geld scheiden sich die Geister. Es gibt nämlich keines im Datenozean, zumindest nicht für die Autoren.
"Die Claims sind umkämpft, doch wo das Gold vergraben liegt, weiß noch niemand", konstatierte "Die Zeit" im Februar 1997 und traf den Nagel auf den Kopf. Die Claims sind Urheberrechte, die man sich vorsorglich überschreiben läßt, obgleich mangels Zahlungsmittel so gut wie keine Geschäfte im Internet gemacht werden. Mit ein paar bezeichnenden Ausnahmen. Über die Hälfte aller Transaktionen betraf im vergangenen Jahr Flugbuchungen, der Rest verteilte sich auf Software und Pornovideos. Grenzüberschreitende Kaufvorgänge sind rar; im allgemeinen wird im Netz nur das erworben, was das Netz auch liefern kann: Digitalien. Der große Textanteil hat etwas mit dem technischen Embryonalzustand zu tun. Sobald die Leitungen wirklich zu "Datenautobahnen" geworden sind, wird sich der audiovisuelle Charakter des Mediums in ungleich stärkerem Maße offenbaren als heute. Hier ist - von keinerlei Sprachhürden gebremst - der Griff zum fremden Eigentum weitaus geläufiger als im literarischen Bereich. Fotografen und Illustratoren können ab einem bestimmten Bekanntheitsgrad mit Sicherheit davon ausgehen, daß ihre Werke im Netz kursieren. Der amerikanischen Cartoonist Gary Larson wandte sich bereits in einem verzweifelten Appell an die Netzgemeinde, seine geistigen Kinder nicht unkontrolliert in der Welt herumtollen zu lassen - genutzt hat es wenig. Gerade bei Bildern hat sich die Ideologie einer Quasi-Gemeinfreiheit breitgemacht; Fotografen gehören zu den am meisten Geschädigten der neuen Medientechnologien. Das wohlfeile Argument, daß im Internet kursierende Bilder in keiner Konkurrenz zu gedruckten stehen, leuchtet nicht ein. Wenn zwei visuelle Medien miteinander wetteifern, verbrauchen sie regelmäßig ihre visuellen Inhalte. Wer Bilder auf dem Monitor betrachtet, braucht sie weder als Postkarte noch als Poster; er entfällt als potentieller Käufer. Obwohl im Internet selbst wenig Geld zu verdienen ist, wird doch möglicher Gewinn an anderen Orten vernichtet. Das ist ein Hauptgrund, warum die Claims von keinem Medienunternehmen ignoriert werden können, auch wenn die Rendite kurzfristig ausbleibt. Dazu kommt eine weitere Entwicklung, die den Konzernen ein Dorn im Auge sein muß. Albrecht Götz von Olenhusen:
Ruft man sich die Vertragsbestimmungen und "buy-out"-Tendenzen des Zwischenhandels in Erinnerung, wäre sein Verschwinden für die Urheber kein ausgesprochener Verlust. Daß sie gegen eine Kostenbeteiligung, die noch nie in der Geschichte so niedrig lag, in den Besitz der Produktions- und Distributionsmittel kommen können, ist nämlich auch ein Teil der Netzutopie. Damit erfüllte sich erstmals der Anspruch des Urheberrechts, ein Autor möge an jeder Auswertung seines Werks beteiligt sein. Die Kontrolle läßt freilich zu wünschen übrig. In Amerika kursieren dazu zwei gegensätzliche Denkmodelle. Die frühere Aktienanalystin Esther Dyson hält jeglichen Rechtsschutz innerhalb des Netzes für nahezu aussichtslos und konstatiert, daß die Urheber in Zukunft zwar im Netz publizieren müßten, von dort aber kaum Gewinne zu erwarten hätten. Dem liegt das Paradox der "Aufmerksamkeitsgesellschaft" zugrunde. Der deutsche Volkswirt Georg Franck schreibt über diese "Ökonomie der Aufmerksamkeit":
In diesem Sinne wäre das Internet ein weiterer Apparat, der Aufmerksamkeit akkumuliert, um sie gewinnträchtig an die werbetreibende Industrie zu verkaufen. Dort liegt laut Esther Dyson das wahre Gold der virtuellen Claims:
Ein zutiefst amerikanisches Modell, das - so steht zu befürchten - ebenso Schule machen wird wie das Privatfernsehen. Im Ergebnis sähe es dann so aus:
Es gehört schon eine gute Portion Naivität dazu, um in diesem System die Künste jenseits des Massengeschmacks überleben zu sehen, und es stimmt bedenklich, daß Esther Dyson eminente Zustimmung bei der amerikanischen Copyright-Industrie findet. Sie sitzt in mehr als zwei Dutzend Aufsichtsräten und zählt damit selbst schon zu den Medien-Medici. Zum Glück ist das zweite Denkmodell entschieden demokratischer. Im Prinzip existiert die Lösung für alle Urheberrechtsprobleme im Internet schon. Sie trägt den Namen "Xanadu", und ihr Erfinder ist zugleich der Erfindes des "Hypertexts" - also jener interaktiven Textform, die das Web geprägt hat. Theodor Holm Nelson beschäftigt sich seit dreißig Jahren mit dem scheinbar Unvereinbaren: Wie man die Grenzenlosigkeit der digitalen Welt mit den legitimen Honoraransprüchen der Urheber in Einklang bringt. Er schreibt:
Die simple, doch sensationelle Idee Nelsons: Es gibt keine Kopien mehr - und doch kann der Anwender mit allen Daten operieren, als seien sie Kopien. In Wirklichkeit liegt weltweit nur noch eine Originaldatei vor; jede scheinbare Kopie ist nichts weiter als der Sprungverweis an den Ort des Originals. Selbst Bruchstücke einer Datei enthalten diesen Sprungverweis, so daß jeder bedenkenlos zitieren und collagieren kann, ohne den ursprünglichen Text- und Autorenzusammenhang zu verlieren. De facto kopiert er das Zitat nicht in seine Datei, sondern erhält wiederum nur einen Verweis für den Rechner, wo der das Original finden kann. Zusammen mit einem digitalen Abrechnungssystem - von denen bereits einige erfolgreich getestet werden, unter anderem das niederländische Projekt "Digicash", das auch die Deutsche Bank ausprobiert - wäre "Xanadu" damit in der Lage, die widersprüchlichen Interessen von Nutzern und Urhebern miteinander zu versöhnen. Leider hat das Projekt zwei Nachteile. Nachteil Nummer eins: Ted Nelson ist ein Außenseiter. Um eine Strukturreform des Internet in seinem Sinne durchzuführen, fehlt ihm Einfluß und Marktmacht. Daß bessere Programme sich gegen schlechtere durchsetzen, ist leider ein Wunschtraum, solange die schlechteren weiter verbreitet sind als die besseren. Xandus Chancen, zur Praxisreife zu gelangen, sind daher eher gering. Nachteil Nummer zwei: "Xanadu" geht von einem Vernetzungsgrad der Welt aus, wie er heute noch nicht erreicht ist; bei den ständigen Leitungsengpässen wäre ein Arbeiten mit unechten Kopien - Nelsons "transclusions" - ein mühseliges Unterfangen, da das Programm ja nicht auf Zwischenspeicher zurückgreift, sondern immer via Leitung zum Original vordringen muß. Nach allen Erfahrungen der Vergangenheit ist damit zu rechnen, daß Esther Dysons Prognose die Oberhand behält. Eine breite Urheberbeteiligung wird wohl in Zukunft nur genossenschaftlich zu haben sein. IV
Das Unbehagen des kleinen Autors oder Komponisten gegenüber der großen Verwertungsgesellschaft ist zumindest formal unbegründet. Aber psychologisch sind die Bauchschmerzen der traditionell eigenbrötlerischen Urheber sehr wohl zu verstehen. Der Zug fährt nämlich mit rasantem Tempo - auch durch die Macht der Verwertungsgesellschaften beschleunigt - auf eine immer stärkere Entindividualisierung des Urheberrechts zu. Modelle wie Ted Nelsons "Xandadu" verlieren in diesem Klima zusätzlich an Boden, weil die Lösung der Probleme billiger und einfacher auf dem Feld kollektiver Entlohnungen liegt. Die neuste Idee, natürlich von den Medienkonzernen ins Spiel gebracht, ist der sogenannte "one stop shop" - eine Art Tankstelle auf der Datenautobahn. Maria Sommer, Vorsitzende des Verwaltungsrates der VG Wort erklärt:
Der Produzent als bedauernswerte Gestalt ist eine geläufige Figur im digitalen Zeitalter, selbst unter Juristen. In Anbetracht seiner schweren Arbeit und der großen wirtschaftlichen Verantwortung - hauptsächlich den Aktionären seines Konzerns gegenüber - sind sie sogar dazu bereit, manches Auge zuzudrücken. So schreibt der Jurist Andreas Schardt in einer renommierten Fachzeitschrift:
Ein Schelm, wer Böses dabei denkt, zum Beispiel, daß derartige Produktionen - gemeint sind Multimedia-Anwendungen - keineswegs aus Menschenfreundlichkeit gemacht werden, sondern aus wirtschaftlichen Gründen. Das euphemistisch umschriebene "begrenzte Risiko" meint nichts weiter als die widerrechtliche Verwendung fremder Werkteile. Insofern könnte es den Urhebern nur recht sein, wenn der "one stop shop" auf der Datenautobahn wenigstens für Mautgebühren sorgte. Wolfgang Schimmel, Justitiar der IG Medien, sieht das anders und erklärt:
Was schreien sie nur, die Urheber? Entlohnt man sie nicht, lamentieren sie über ihre finanziellen Nachteile, beteiligt man sie am Geschäft, rennen sie zum Verfassungsgericht. Nein - man kann keine Geschäfte mit ihnen machen, sie sind wie die Kinder, unberechenbar, unvernünftig und ökonomischen Argumenten nicht zugänglich. Hier - ja hier liegt das zentrale Problem des Urheberrechts: Die Kontrahenten verstehen sich nicht. Fast alle nationalen wie internationalen Initiativen zur Stärkung des Urheberrechts haben sich in den letzten Jahren ausschließlich mit den wirtschaftlichen Aspekten des Themas befaßt. Menschen, die geistiges Eigentum herstellen, sind aber zuletzt Kaufleute und zuerst "Ausdrucksgewerbetreibende", wie es Martin Walser einmal nannte. Ein Ausdrucksgewerbetreibender verhält sich in den Augen von Kaufleuten in vielerlei Hinsicht irrational. Solange dies den Kaufleuten zugutekommt, er ungünstige Verträge akzeptiert und an den wirtschaftlichen Vorgängen wenig Interesse zeigt, ist er wohlgelitten. Für die Eigenartigkeiten der Ausdrucksproduktion haben sie indes kein Verständnis, auch nicht dafür, daß es zum künstlerischen Ausdruck gehört, nicht zynisch mit seinen eigenen Kindern umzugehen. Die Reduktion geistiger Schöpfungen auf ein bloßes Wirtschaftsgut ist zynisch. Geld hilft nicht, Geld heilt nicht, Geld tröstet nicht, wo es an Gerechtigkeit mangelt. Das Urheberrecht steht vor einer Zerreißprobe, und ungewiß bleibt, ob die rechtsphilosophischen Grundlagen des 18. und 19. Jahrhunderts im 21. noch Beachtung finden. Als Quasi-Angestellter anonymer Körperschaften, mit regelmäßigem Einkommen, aber ohne Bezug zum eigenen Werk, mag sich mancher Schriftsteller und Komponist zwar besser gestellt sehen als heute - aber ob er damit glücklich wird, bleibt zweifelhaft. Zitatnachweise(in der Reihenfolge ihrer Verwendung)
GRUR = Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht |