Der Brennende Busch



Beanie Watkins
Die
39 Stufen

Eine Fibel fürs Schreiben von Kurzgeschichten





1) Der erste Schritt im grossen Unterfangen deines neuen, besseren Ichs im Haus der Geschichten: Bedeute weniger. Soll heissen, meine nicht so viel. Erfinde eine Geschichte, spiel damit herum, ergänze dies und das, zwicke die Charaktere, laß sie komische Sachen sagen und an schlechte Orte gehen, laß neue Leute in ungünstigen Momenten auftauchen, einige erwischt's beim Drive-By Shooting. Erfinde es, bitte.

2) Paß auf, daß es nicht zuviel Sinn macht.

3) Wenn du es erfindest, benutze Zeug, das dir was bedeutet. Wenn du auf deine Mutter, deine Frau, deinen Ehemann, Freund, Liebhaber, Nachbarn, Hund sauer bist, dann laß es an einer Mutter, einem Ehemann, usw. aus und lege es deinen Charakteren in den Mund. Falls du voller Liebe für das Meer bist, sag etwas nettes übers Bad.

4) Beschwere das Werk mit einigen Waren (im übertragenen Sinn), die dir nicht besonders viel bedeuten, aber die dir merkwürdig, faszinierend, seltsam, erstaunlich oder eigenartig vorkommen. Befestige dieses Material an deinen Charakteren.

5) Benutze die obige Regel nicht, um unzusammenhängenden, unehrlichen oder unbedeutenden flippigen Schutt zu rationalisieren. "Ich würde gerne mit dir sprechen, aber da ist ein Riese in meinem Zimmer" ist nicht die Antwort auf eine narrative Frage.

6) Lange Erklärungen der Handlung bringen's nicht. Zum Beispiel, wenn einem der Charaktere vor langer, langer Zeit was tolles (schreckliches?) passiert ist, und du möchtest uns echt davon erzählen, du weisst schon? Mach's nicht.

7) Es macht weiter keinen Unterschied, welchem der Charaktere du die Dinge, die dir was bedeuten (siehe Nr. 3), anhängst (Dialogschnipsel, Beschreibungen, eine Geste, ein Blick den jemand jemandem zuwirft, ein Ort, Tischplatten). Genaugenommen bist du wahrscheinlich besser dran, wenn sich diese Sachen in unvorhergesehener Weise an die falschen Charaktere hängen (damit du nicht zuviel bedeutest, siehe Nr. 1).

8) Merke: Viele Dinge sind schon passiert, die dem ungeschulten Auge interessant erscheinen.

9) Grace Slick

10) Frag dich bei jeder Gelegenheit, ob du leichtgläubig, blöd, hochtrabend, süßlich, pubertär, primitiv, gewöhnlich, lahmarschig, schlaumeierisch, clever, künstlich künstlerisch usw. bist. Du möchtest nichts davon sein.

11) Achte darauf, daß es eine Handlung gibt, die dein Leser erfassen kann; obwohl nicht notwendigerweise der Mittelpunkt der Geschichte, ist sie doch der Schlüssel, um den Leser in die komfortable Zone zu locken, in der er verwundbar ist.

12) Wir interessieren uns nicht für Wüstenmutanten; falls du das anders siehst, oder glaubst, du siehst es anders, bring dich um.

13) Kohärenz ist die halbe Miete. Paß auf, daß die Geschichte zusammenhängt, daß jede Szene aus der vorigen hervorgeht, daß der Leser zu jeder Zeit eine klare Vorstellung davon hat, was vorgeht. Irre zuerst zugunsten der Unbeholfenheit; nimm später langsam Abstand.

14) Für dramatische Zwecke bist du vermutlich mit einer objektiven Erzählung am besten bedient (erste Singular mit wenig Stimme, oder dritte Person objektiv, in jedem Fall der Kamera-Blick). Dies zwingt dich, Szenen zu schreiben, in denen Charaktere Dinge füreinander/miteinander/gegeneinander tun oder sagen; diese Dinge konstruieren dann die Geschichte für dich. Dieses Hilfsmittel zwingt dich außerdem, die Dinge zu zeigen, statt sie bloß zu erklären.

15) Organisiere die Struktur der Geschichte so einfach wie möglich. Falls es zum Beispiel keinen zwingenden Grund gibt, die Geschichte in Rückblenden zu erzählen, benutze sie nicht. Verwende Rückblenden nicht, nur weil du an einen bestimmten Punkt angelangt bist und dir etwas einfällt, das nun als Rückblende erzählt werden müßte. Gehe statt dessen zurück zum Anfang der Geschichte und ergänze das Material an angebrachter Stelle.

16) Einfaches chronolgisches Erzählen ist eine gute Sache. Regeln für Abweichungen: (a) vermeide Unterbrechungen im zeitlichen Ablauf wann immer du kannst; (b) Rückblenden (und ähnliches) sind für den Leser zehn mal verwirrender als für dich (nützlich für absichtlich verwirrende Abschnitte); (c) Rückblenden, Traumsequenzen, drogeninduzierte glückselige Einsichten, mongolische Horden usw. sind keine guten Ausreden für tapsige Versuche an der hohen rethorischen Latte; (d) Abweichungen von der Norm lenken von der Geschichte, den Charakteren, dem emotionellen/spirituellen Mittelpunkt der Dinge ab; (e) manchmal möchtest du das.

16a) In der Redundanzabteilung: Erkläre uns die Ausgangssituation so schnell wie möglich. Der erste Absatz ist nicht zu früh. Die erste Seite ist nicht zu früh. Sag uns wer, was, wann, wo usw.

17) Tu dies nicht "künstlerisch".

18) Vergiss nicht, daß sich im Laufe der Geschichte etwas ändern sollte. Etwas großes, für den Leser sichtbares. Beginne mit einer Situation und ende mit einer deutlich anderen. Erzähle uns dazwischen, wie du von einer zur anderen gelangst. Sei nicht subtil, wenn du diese Entwicklung erdenkst - um die dramatischen Struktur zusammenzubauen, solltest du so reduktiv wie menschenmöglich sein.

19) Denk dran, diese vereinfachte Struktur ist nicht die Geschichte, sondern der Bügel, an dem die Geschichte hängt. Die Geschichte besteht aus Hemden und Jacken, Schleifen, die Gerüche des Wandschranks, Details, Stückchen von Ansichten, klebrigem Gummizeug am Boden, Meinungen, Andeutungen, Vorschläge - alles, was du an den Bügel hängen kannst.

20) Natürlich müssen diese vorsichtig ausgearbeiteten 39 Stufen an deine Arbeitsweise angepasst werden. Wenn du unklar, trübe und verworren bist, dann nimm sie als Bibel und trimme drauf los. Wenn du nur mit dem nötigsten arbeitest, dann bring die Dinge durcheinander. Werf Krempel rein. Mach Unordnung. Räum nicht auf.

21) Wenn du einen Satz schreibst, der nicht treffend, bewegend, lustig, faszinierend, einladend usw. ist, dann nimm in raus bevor du fertig bist. Laß ihn nicht einfach stehen. Laß ihn niemanden sehen.

22) Nochmals, es ist kein Platz für Mist & Müll in der hochmodernen Welt der Gegenwartsliteratur. Jeder Satz muß sich auszahlen, muß irgendwie begeistern. Jeder einzelne.

23) Außerdem: Unverständlichkeit ist nicht Subtilität; absichtliche Unklarheit ist holzköpfig und unfreundlich.

24) Es ist gut, etwas Sonderbares zu machen, vor allem für deine Charaktere in der Geschichte - ich meine, wenn ihnen etwas passiert und sie dann etwas Unerwartetes oder sogar Unpassendes tun, und auf einmal macht's ein bißchen Sinn. Das füllt das Herz.

25) Laß nicht zu viele Absätze ohne sinnliche Information vergehen, ohne etwas, das man fühlen, riechen, anfassen, schmecken kann. Zwei oder drei Absätze sind zu viel.

26) Verlieb dich nicht in die Idee, mit der du anfängst, oder die Idee, die dir kommt, wenn du eine Weile an einer Geschichte arbeitest. Wenn du Glück hast, ändert sich die Idee ständig, während du schreibst.

27) Lehne interessante Sachen (Dinge, die deine Charaktere sagen, tun, oder anschauen, Orte, an die man fahren könnte usw.) nicht ab, nur weil sie nicht mit deiner Idee zusammenpassen. Verändere deine Idee so, daß sie sich um die Sachen wickeln lässt.

28) Wenn du anfangs eine Geschichte im Kopf hast, lasse sie dort. Ebenso einen "Charakter".

29) Was die großen Themen angeht: Eltern sitzen nicht wegen Abtreibung mit zerbrochenen Herzen herum; ihre Herzen brechen, weil sie das Baby getötet haben.

30) Oder weil das Baby mit Flossen statt Händen zur Welt kam. Es ist das Bestimmte.

31) Manchmal ist es nützlich, die Augen zu schliessen und sich eine Szene vorzustellen wie in einem Film; das hilft, die Dinge greifbar zu machen und zu "sehen" wie die Szene ausschaut.

32) Wenn du das tust, nimm die Dinge wahr, wie in deinem eigenen "echten" Leben - z.B., was am Horizont ist, wie die Sonne im Himmel hängt, wie das Licht ist, wie die Straße, der Boden, das Grass, die Erde aussehen, was an den Kanten vorgeht - Häuser und Schilder und Autos, die Geräusche von dem, was um die Szene herum vorgeht - wer keucht da? Was ist das für ein Klappern? Sind diese Blätter dort drauf und dran, zu rascheln? Usw.

33) Benutze keine Charaktere namens Brooke oder Amber.

34) Studiere Stufen 1, 7, 13, 16a und 24.






© 1997 Der Brennende Busch ~ Alle Rechte vorbehalten ~ Übersetzung: Jürgen Fauth

 

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