No 27

 

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Mathias Kehle

Rezensionen

 

Buntes aus aller Welt.
Ein kleiner Zeitungswerber entdeckt, daß sein verhaßter Chef einen Strichjungen aufsucht und verpfeift ihn, worauf dieser befördert wird. Ein alternder Boxer verprügelt seinen Manager, weil dieser einen Kampf abgesprochen hat und fällt außerdem über dessen Lieblingsnutte her. Ein abgebrannter Aufschneider, der mit seinem Wohnmobil in die Toskana geflohen ist, stirbt elend in einem Kamin, weil er einem reichen Italiener die Ferienwohnung leeren wollte, um seiner Angebeteten weiterhin weiß machen zu können, er sei ein reicher Manager. Das letzte, das er mitbekommt ist, daß es seine Geliebte einige Meter unter ihm mit dem reichen Italiener treibt.
Walter Wolter berichtet von Männern, die gemeinsam haben, daß sie irgendwie aus dem normalen Leben gefallen sind und von nun an seltsame Dinge erleben. Die Handlung der 13 Geschichten ist meist banal und läßt sich oft in einem Satz zusammenfassen. Wären die Geschichten jedoch nur banal, könnte man sie vielleicht noch gelten lassen: So ist eben das Leben; doch in einigen Geschichten kommt es knüppeldick, zum Beispiel in der Geschichte vom Verhaltensforscher, Spezialist für Wölfe. Dessen russische Frau hat aus ihrer Heimat einen sibirischen Wolf mitgebracht, den sie sehr liebt. Auch der Wolf ist ihr zugetan. Ihr Mann hingegen ist der große Zampano, der ein ganzes Wolfsrudel befehligt. Eifersüchtig versucht er, ihr den Wolf abspenstig zu machen, ihn gar aus seinem Käfig zu entführen und seinem Rudel zu Fraß vorzusetzen. Im Showdown jedoch reißt der sibirische Wolf den Leitwolf des Rudels, der in den Armen des Verhaltensforschers stirbt. Damit nicht genug, der sibirische Wolf steht vor ihm, bereit, ihn zu zerfleischen. Die letzte Wahrnehmung des Verhaltensforschers ist, daß seine Frau sich in einen Werwolf verwandelt hat. Haarsträubende Stories wie diese gibt es in diesem Buch genügend. Beim Lesen glaubt man sich immer wieder in ein Revolver-Blättchen versetzt, und zwar in die Rubrik "Buntes aus aller Welt". Die Stories sind zweifellos spannend, und man fragt sich, ob der Autor ernst meint, was er da erzählt oder ob man jetzt schmunzeln soll, doch spätestens mit seinen abstrusen Pointen vermasselt Walter Wolter seine Erzählungen gründlich. Matthias Kehle

Walter Wolter: Gefallene Männer
13 Stories, 288 Seiten. Zürich, Haffmans Verlag 1997, ISBN 3-251-00354-2

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Johannes Grahn lebt als Hotelchauffeur in einem trostlosen Kaff in Ostgrönland. Wenn er nicht gerade die wenigen Gäste zum Flugplatz fährt, beobachtet er das Leben und die Natur. In zwei Wachstuchhefte notiert er, wie sich die vielen Arbeitslosen um den Verstand trinken, wie er sich allmählich mit einem Dorfbewohner anfreundet, wie der Winter mit braunen Wolken naht und sich das Packeis am Fjord auftürmt. Weshalb Grahn nach Grönland gekommen ist und weshalb er mit dem Wintereinbruch die Insel wieder verläßt, bleibt unklar. Über seine Vergangenheit erfährt der Leser wenig, allenfalls über seine Kindheit und seine Träume. Es geschieht wenig in diesem Buch, aber dieses wenige wird von Grahn minutiös verzeichnet. Der Titel des Buches "Studie in Kristallbildung" mag einen potentiellen Leser zwar abschrecken, macht aber dennoch Sinn. Grahn verfolgt Geschichten, über die er gerne nachdenkt, "Geschichten, die vielleicht nicht wirklich etwas bedeuten, aber gerade deswegen Erinnerungen und Phantasien um sich anordnen wie ein Kristall." Die Kälte der Landschaft und die Sprödigkeit von Eiskristallen sind es auch, die den Erzähler selbst auszeichnen. Er registriert kühl und distanziert, was um ihn herum geschieht und wirkt auf viele Dorfbewohner als ein seltsamer Eindringling. Ganz so ereignislos wie geschildert bleibt der Roman nicht, denn plötzlich taucht der Österreicher Markus Brack auf, der vorgibt, Grahn zu kennen. Brack nimmt die Trinkgewohnheiten der Einheimischen an und verwahrlost zusehends. Es stellt sich heraus, daß er der Bräutigam von Agnes war, welche nach einer kurzen Affaire mit Johannes Grahn bei einem Unfall ums Leben gekommen ist.
"Studie in Kristallbildung" ist der Debutroman des 1964 geborenen Münchner Studenten Klaus Böldl. Es ist ein höchst irritierendes Buch eines spröden Erzählers, der die Motive seiner Flucht nach Grönland und somit seine Vergangenheit weitgehend verschweigt. Böldl arbeitet mit zahlreichen Stereotypen der Moderne: Johannes Grahns Flucht aus der Zivilisation in die nahezu unberührte Natur, seine "Entdeckung der Langsamkeit" und der Bedeutungslosigkeit von Biographien sowie - aus semiotischer Sicht - Zeichen, die auf nichts verweisen außer auf sich selbst. Matthias Kehle

Klaus Böldl: Studie in Kristallbildung
Roman, 156 Seiten. Frankfurt/Main, Collection S. Fischer, 1997, ISBN 3-596-22389-X

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James Bond wird wahnsinnig
James Bond rettet die Welt nur vor Größenwahnsinnigen, im schlimmsten Falle vor Atombomben. Der Journalist Thomas Heilant (!) rettet das gesamte Universum vor dem verrückten Physik-Nobelpreisträger Massimo Altomonte. Dieser bastelt nämlich an der größten Erfindung aller Zeiten: Er will die Blase des Universums in einer anderen Universumsblase verschwinden lassen. Außer Altomonte selbst weiß das freilich keiner. Bei einem rätselhaften Unfall im Genfer Forschungszentrum kommt er vermeintlich ums Leben. Heilant, sein alter Freund aus Heidelberger Studientagen und nun Journalist bei einem Nachrichtenmagazin, macht sich also nach Genf auf, um dem Unglück auf die Spur zu kommen. Dabei finden sich immer mehr Hinweise auf Altomontes Machenschaften, nicht zuletzt durch dessen Tochter Chloé, die obendrein mit Heilant ins Bett steigt. Sie ist es auch, die ihn schließlich zu Altomonte ins Labor führt. Sekunden vor dem Big Bang streckt der Heilant seinen Freund nieder. Ganz so einfach ist es aber nicht, denn diese Geschichte findet sich auf einer Diskette wieder, die nach Heilants Selbstmord in einer psychatrischen Anstalt auftaucht. Chloé holt Heilants Hab und Gut ab und rät dem Anstaltsleiter, dem wahnsinnigen "Retter des Universums" nicht zu glauben. Die hanebüchene Geschichte wird mit abstrusen Détails gewürzt. Chloés Mutter, die Ex-Geliebte sowohl von Altomonte als auch von Heilant, ist die meistgesuchte Terroristin der Welt und mitverantwortlich für die Morde der RAF. Als sie sich Ende der 70er Jahre mit Heilant im Wald trifft, wird sie von einem Sonderkommando erschossen. Diese Episode bildet den Schlußpunkt von Rückblenden in die gute alte Zeit der Studentenunruhen in Heidelberg, in der das Genie Altomonte, Entdecker u.a. der Chaos-Theorie, Heilant in langwierigen Monologen physikalisch-philosophische Zusammenhänge erklärt.
Der Autor Marco Lalli, der als Sozial- und Umweltpsychologe in Heidelberg lebt, hat zu viel James Bond gesehen und zu viel gelesen. Neben einschlägiger Fachliteratur aus der Physik werden Sartre und Johann Sebastian Bach zitiert, im Vorwort nennt Lalli noch einige andere Autoren. Heraus kommt dabei unglaubwürdiges Sammelsurium an Ideen und Handlungssträngen, dem man nur zugute halten kann, daß es einigermaßen spannend zu lesen ist. Matthias Kehle

Marco Lalli: Die Himmelsleiter

Roman, 244 Seiten, Tübingen, Klöpfer & Meyer 1996, ISBN 3-931402-08-8

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Alle Rezensionen von:
Matthias Kehle, geb. 1967 in Karlsruhe, lebt dort als Schriftsteller, Journalist und Kritiker. Mehrere Bücher, zuletzt „Belebte Plätze“, Gedichte, Uhldingen, de Scriptum 1999. Mitherausgeber der Reihe „Fragmente“.

 

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