Wandler, Zeitschrift für Literatur, Nr.19: Isolde Schaad

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Isolde Schaad

Die gesamteuropäische Dessertkarte

Der Nachtisch ist immer fortschrittlicher gewesen als der Hauptgang, was die Völkerverständigung angeht. Man hat sich in London schneller auf den Berliner eingestellt als auf den preussischen Tafelspitz, schon im vergangenen Jahrhundert, und nun auf den kontinentalen Kohl.

Der Berliner ist bereits Gesamteuropäer ohne besondere Verdienste. Dass der Berliner je nach Standort anders heisst, vielleicht sogar Swiss-Cottage-Roulade, ist ein Detail, das die nationale Eigenheit hübsch dekoriert.

Auch die Wiener kosten nach ihrem Schnitzel lieber ein salmonellenverdächtiges Tiramisu als ihren tradierten Wiener- und Kaiserschmarrn, wahrhaft eine Konzession an den Süden.

In Brüssel trifft nach dem Salat (auch Chicorée oder Zichorie genannt) das delikate Souffléglacé Grand marnier von selbst ein, und das stammt aus dem bittersten Ausland, nämlich von nebenan, de la France.

Eine gesamteuropäische Dessertkarte könnte so manches Problem lösen, nur schon aus diesem stichfesten Grund: Vor einer Dessertkarte sind wir alle gleich. Das meiste nimmt ja den Weg durch den Magen, auch in der Politik. Ein Dessert bestellen heisst ja auch, manches hinter sich zu haben, vielleicht das Entscheidende.

Liebe Gäste, werfen wir einen Blick auf das Vorhandene, auf diese leckermaulfeile Buntschwartigkeit, die an Einigkeit jeden Maastrichter Vertrag übertrifft. Zumindest in der pudergezuckerten Plastifizierung der Eurofoodkette, ihr kennt sie von Malmö bis nach Palermo, als Vorhut der europäischen Rastätten-Gastronomie, die die Nationen nur noch durch den lokalen Strudel unterscheidet. (Der wird handschriftlich, amateurhaft angepinnt und deshalb selten zur Kenntnis genommen.)

Da gibt es zusätzlich ein Reservat, aufgeforstet mit neuer Dessertfauna. Das Gummibärchen und der Dino, von einer kautschukartigen Unbezwingbarkeit, oder der Schlumpf mit Vielfrucht- und Schlagobersmütze, buntscheckige catch-bare Zellulose-Spaghetti, an Ausgiebigkeit jeder halbgefrorenen Üppigkeit überlegen, auch dem sonst unübertrefflichen, mehrgeschossigmandelgespickten Coupe mit Äffchen und Schirmchen. Von nun an wird es nicht bloss zu schlecken, sondern richtig zu schlucken geben. Ein Vollhydrat-Power-Zoo steht schon bereit für unsere Kids. Und das heisst für unsere Zukunft.

Die Voraussetzungen sind also gegeben, die Ausstattung teilweise vorhanden und sollte zu einem späteren Zeitpunkt richtig plaziert werden. Zwischen Hunsrück-Allenmoos und Fuveaux-sur-Mer. Oder zwischen Berlin und Paris, das ist in der Entwurfsphase noch abzuklären.

Zunächst muss erst alles Strotzende weg, dieses Kugelgepferche im Becher, das schmeckt nach Provinz, auch das sämige, beim Schlürfen schluchzende Erdbeerfrappé, ade! Das muss weg, um den Weg freizuschaufeln für das unwiderruflich Zentrale, das heisst für das, was schon da und unüberbietbar vorhanden ist.

Zum Beispiel diese mächtige, bienenumsummte Brombeerschnitte mit vier in die Himmelsrichtungen strebenden Armen, die sich anschicken, die obere Mitte zum Geschmackshauptquartier auszubauen. Mit äusserster Ausdauer der Schaumschlägerei, was für ein neuzeitliches Light-Dessert wichtig ist. Man sollte die grossdeutsche Bundesverdienstkreuzschnitte unterstützen. Sie ist auf der Karte noch ziemlich allein und für sich, obschon gut unterbuttert, was nicht hilft, und die Umkränzung mit Zweiglein des Heidengeblüts, lauter Erikas (erikafarben, logisch), sind eher als Begrenzung gedacht, obschon sehr niedlich hergerichtet. Als sei die Bundesverdienstkreuzschnitte viel kleiner, als sie in Wahrheit ist.

Dass diese im Grunde so tiefwurzelnde und herzschürfend schmackhafte Schnitte so wenig bestellt wird, liegt gewiss nicht nur an ihr selbst. Es hängt eher mit dem Begleitbesteck zusammen. Die Karte nennt eine mundgeschliffene Axt, was nicht jedermanns Sache ist, aber zur endgültigen Schlichtung und Neuverteilung von Ost- und Westmasse unerlässlich.

Kommt dazu, dass das aus der Schablone gestantzte Maltesermuster, das sich als Dekor obenauflegt, zu wehrhaft wirkt, was freilich die aussen emporkrabbelnden Maikäfer-Schoko-Dragées nicht irremacht, denn das Krabbelnde ist immer stärker als das Thronende gewesen, es wird sich auch diesmal behaupten. Die Zersetzung wird von innen kommen, viral; dann, wenn die Oberfläche makellos ist. Das sagte ein französischer Philosoph anlässlich der Grundsteinlegung der gesamteuropäischen Dessertkarte.

Im Nordwesten haftet ein Plumcake im Dessertgelände, schön porös und lebkuchendunkel, mit Speichel anzufeuchten. Die moosige Cake-Qualität wackelt in Jelly-fish-Gallerte. Das ist recht plump, aber durchsichtig gemacht, so dass man darunter ein Porträt erkennt, eine grossohrig konturierte Visage, die einem irgendwie bekannt vorkommt. Eine Art angelsächsischer Mohrenkopf, dem das M abhanden kam, wegblieb wie die Spucke, wobei die Schlecker, die vor nichts zurückschrecken - die mit dem vitalen Zungenschlag­, sofort das frischrasierte Gesicht des Thronfolgers blank geleckt haben werden. Darunter erscheinen neu Herr & Frau Thatcher-Major im Medaillon, als entschiedene Fortsetzung in kontinentaler Richtung.

Weit unten, am südlichen Rand, tummelt sich ein mit pink Cicciolinas und kandierten Zitronenrondellen garnierter, von Jeff Koons entworfener Italo-Mampf. Sein Problem ist, dass er sich schwer innerhalb der Euro-Dessertgemarkung hält, da die likörgetränkten Lagen nach Süden abrutschen und schmieren, ein Vorurteil, muss man sagen, das nun ein Richter in Mailand mit sauberen Händen bekämpft.

Im Westen wird vorläufig noch an einer Omelette surprise balladuriert, so dass erst diese drei Nachtische fix auf der Karte stehen.

Was wir nun brauchen, ist eine neutrale Grundmasse, die sie zusammenbringt. Zu diesem Zweck rühre man ein Kondensat mit einer sämigen Emulsion an, gewonnen aus einem Enzym der organischen Schweineplacenta, geruchsgebunden gestiftet von der Firma Benetton. Dieser Teig ist zusammen mit frischem Ochsenblut durch den Spritzsack zu treiben, mit Scharping geschmacksverstärkt, was ein auffallendes Muster absetzt. Das ergibt die neuen Ländergrenzen: Frisch getröpfelt ist halb gewonnen. (Wir wussten die Eigendynamik von klebriger Flüssigkeit bisher bloss noch nicht sinnvoll zu nutzen, und vielleicht ist das spontane Moment ergiebig, wie in der Chaosforschung.) Für den vegetarischen Humanisten empfiehlt sich folgende Variante: eine cremige Bleichmousse, selleriefarben, gesüsst und landesgefasst mit Johannisbeersirup, als Rotweiss-Kontrast von IKRK angeregt, vermengt mit der noch vorrätigen Restmasse der Firma Mövenpick.

Die Grundmasse wäre also vorhanden, nur hat sie Mühe, den Norden mit dem Süden zu binden. Mitten im Herzen des europäischen Dessertgeländes erhebt sich nämlich ein schier unüberwindbares Obstakel, der untilgbare, nicht umzubringende, im Alpenfirn-Meringue erstarrte Bananensplit. Sein Grundmassiv besteht aus beinhartem Vanilleeis, bestückt mit Tannenharz-Krokant, und ist unangreifbar, denn im Innern werden Granatapfelsplitter und Backpulver für den Ernstfall gehortet. Manchmal lösen sich weichgewordene Hartschokoladenspäne freiwillig vom Gesamtstrunk, doch nur, um dann in die Coupeschale zu stürzen, wo sie im Gepantsche elendiglich untergehen.

Schon mancher hat versucht, dieses Gefrörnis im Namen des Eurodesserts mit blossen Zähnen zu beackern, umsonst, dafür braucht es den blendend intakten Biss eines eidgenössischen Bundesrates.

Unweit des Kernmassivs liegt eine weitere Gefahrenzone, die Nordrahmflanke des Matterhorns, von der es heisst, sie rutsche ab, weil sich der Gipfel, the Wipfel, the Peak enthusiastisch dem Monterosa zuneige, wo Gott im dreisprachigen Alpenglühn hockt und mit den Ausländern (den Engländern) gemeinsame Sache macht, im Kranze der Alpenmakrönchen.

Das ist das Typische dieser Hochlagen-Meringue: Die Schlagsahne wendet sich oben mit ihren Pflümlis, kandierten Kirschen und anderem Zierat nach allen Seiten, während der Strunk um so hartnäckiger an Ort bleibt.

Man muss für diesen nationalen Eigensinn ein gewisses Verständnis aufbringen, denn es geht beim Entwurf der gesamteuropäischen Dessertkarte durchaus auch um die Erhaltung der kulturellen Vielfalt. Begreiflich, wenn jetzt das Handwerk des niederösterreichischen Apfelschnitzens den Alleinanspruch des oberösterreichischen Apfelschnitzens bekämpft. Ein tröstlicher Gedanke: dass die Teilnahme an der gesamteuropäischen Dessertkarte von den Zerrüttungen des nationalen Wetteifers entbinden kann. Dannzumal. Hoffentlich. Das Ganze ist bis jetzt freilich noch nicht mehr als die Summe seiner Teile, und das sind ja immer die mehrwollenden und dauerwollenden Teile. Denn jetzt will schon jeder Weiler seine Süssspeisenautonomie.

Da gilt es, den Ansturm Dutzender zungenschnalzender Einzel-Schmalzplunder aufzufangen und in ihrem überbordenden Anspruch zu mässigen, auch, um die Süsswertbelastungen auszugleichen. Anderseits: Haben wir nicht schon immer Europa bejaht, wenn wir ein kirschenbestandenes Schwarzwaldgebirge aus der Tiefkühltruhe bestellten? Nach unserem Spaziergang im Auritzer Winkel oder nach der Promenade auf die Fulmitzer Höhe? Wir wollen einfach nicht wahrhaben, dass uns Europa im Dessertbereich längst erreicht hat durch die transnationale Foodkette, uns Europäer von Oberrüti, Berchtesgaden, Varese und Riquevire, und es ist krass, dass wir nicht weiterprofitieren wollen. Bleiben noch die einzelnen Erdbeer- und Brombeergenossenschaften von unsern Allmenden, Hainen und Gauen dazuzugewinnen. Bloss tun sich die so schwer, dabei sind sie die einzigen, die zu einem frischfruchtigen Europa noch etwas beitragen könnten.

Gegenwärtig werden neue Aromabildner getestet, und es dürften überraschende Geschmackskombinationen auftauchen. Das Kohlblatt mit dem jungfräulichen Blanc-Manger, adler-bleu-noir getupft zum Beispiel, ist kräftiger als es vorgibt, direkt aus der Schimmelkäserei Roquefort, die jetzt in Deutschland liegt, zur künftigen kulinarischen Cohabitation. Es nimmt sich zunächst etwas pappend aus, erweist sich dann doch als strapazierfähiger, ausdauernder Geschmackskitt. Eine weitere Dessertentwicklung ist das Schimmelblüten-Press-Ecu, mürbe aufgeschichtet in einem mit Preiselbeerflaum ausgelegten Gourmet-Papier, das beim Eindrücken der Zickzacklinie mit dem gutgeschmierten Daumen von der Rückseite her zum Vorschein kommt.

Das südöstliche Gelände bleibt frei. Östlich von Triest wollen wir nichts mehr zu schaffen haben. Erst wenn dort die Bedingungen wieder in Ordnung kommen,und gesetzt den Fall, der Osthandel blühe dann auf. Dann könnte man vorteilhaft auch Mitteleuropa in Europa integrieren, denn die dort haben ja einiges zu bieten im Süssspeisenbereich. Vorläufig sollen die dort ihre Zwetschgenknödel, ihr Halva und die Palatschinken, die sie sich eingebrockt haben, selber ausfressen. Säuberungen verderben jedes Aroma.

Man könne unbesorgt bestellen, was die gesamteuropäische Dessertkarte offeriert, trotz der weissen Flecken rundherum. Weder die frischen Erdbeeren, das Schimmelmousse noch der Bananenzimt hätten irgendeine ungesunde Authentizität, sagt der Experte. Es stammen sämtliche Zutaten aus der Firma Givaudan, also aus neutralem Gebiet. Die Schweinsplacenta-Ochsenblut-Mischung an die Sie, liebe Gäste, nun denken, ist harmlos und besitzt Pfötchen, die in aufgeschlossenen Dessert-Raststätten in Rosengelée als Dekorum aufliegen. Der Experte empfiehlt dem Euro-Geranten dennoch, zur Dessertkarte das separat lieferbare Impfstoffset in Staniolsilber-Tütchen zu reichen, für ängstliche Euro-Geniesser. Selbstverständlich als pure Vorsichtsmassnahme.


Isolde Schaad, geb. 1944, war Kulturredakteurin der Weltwoche. Seit 1974 freischaffend als Kritikerin, Kolumnistin und Schriftstellerin tätig. Zahlreiche literarische, kunstkritische und essayistische Arbeiten, Theater- und Sprechstücke. Isolde Schaad let in Zürich.
Im Limmatverlag erschient (voraussichtlich) Ende Februar: Mein Text so blau, der Sound der Literatur.

Der Text stammt aus: Body & Sofa, Liebesgeschichten aus der Kaufkraftklasse. Zürich: Limmatverlag, 1994.

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