Wandler, Zeitschrift für Literatur, Nr.19: REZENSIONEN

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Rheinisches Lesebuch -- Literatur zum Pflücken -- Sisyphos


Rheinisches Lesebuch

(ms) "Junger Westen" nennt sich eine von Jochen Arlt herausgegebene Jubiläumsanthologie, die Erstveröffentlichungen von 122 meist jüngeren AutorInnen aus dem Rheinland versammelt. Damit hat der Herausgeber mit seinem elften Band die Summe einer einzigartigen Edition vorgelegt. Waren die bisherigen Lesebücher jeweils einer bestimmten Region (z.B. Köln, Eifel, Niederrhein) gewidmet, so sind im vorliegenden Band alle bisherigen Regionen mit jeweils elf AutorInnen für die bisher erschienenen Lesebücher vertreten und zusätzlich auch noch das Ruhrland.

Die Texte spiegeln nahezu die gesamte Bandbreite der Literturformen ab. Die AutorInnen reichen von modernen Klassikern wie Jürgen Becker über BestsellerautorInnen (z.B. Petra Hammesfahr), JournlistInnen, KabarettistInnen, MusikerInnen bis zu MundartdichterInnen oder ambitionierten JungautorInnen, z.T. noch ohne Buchveröffentlichung. Dementsprechend unterschiedlich sind die Themen und Ausdrucksmittel. Es gibt Feuilletons über rheinische Lebensart, Social-Beat-Texte, Trash-Literatur, alles Mögliche.

Bedenkt man, wie vernichtend negativ die neuere deutsche Literatur von Chefkritikern in einschlägigen Feuilletons oder bestimmten Fernsehsendungen beurteilt wird, so kann man sich nur fragen, ob die betreffenden Kritiker der Vergangenheit nachtrauern oder den Blick für die Gegenwart verloren haben. Talente in großer Zahl sind in der Anthologie versammelt. Es kann nur auf einige eingegangen werden.

Der Kölner Roland Koch (geb. 1959) beschreibt in "Mostly Blues" mit hintergründigem Humor die Bekanntschaft eines Jungautors mit einem älteren misanthropischen Schriftsteller, der von seinem Beruf und seinen Kollegen ernüchtert ist: "Es sind alles Arschlöcher, ... die dort nach oben gekommen sind, ... alles nur Geier und Wölfe." Durch seine Überzeichnungen wirkt die Erzähung komisch, wobei jedoch auch ernste Kritik sichtbar wird.

Mit einer ähnlichen Erzählhaltung schreibt Jochen Schimmang in "Metaphysik der Geschlechtsliebe" über einen Geschäftsmann und Philosophen für den Privatgebrauch, der nach einer durchzechten Nacht von seinem Freund vor der Ausnüchterungszelle bewahrt wird. Peter O. Chotjewitz ereifert sich in "Zaun drum und Eintritt nehmen" über Kölner Polizisten und die Lokalpresse.

Frank Festa (geb. 1966) ist mit "Minutenleben" eine gekonnte Parabel über die Befreiung vom Zeitdruck und das Verfolgt-werden von der ablaufenden Zeit geglückt. Locker wird das Thema angepackt und mit sicherer Ökonomie die Schwere des Gegenstands leicht dargeboten. In "London" beschreibt Dietmar Sous den Arbeitstag eines Mannes, der Wohnungen von Verstorbenen leerräumt. Anschaulich werden heutige Arbeitsverhältnisse und der Verlust von gefühlsmäßigen Bindungen protokolliert.

Dies sind nur einige der gelungenen Texte. Insgesamt sind alle der abgedruckten Texte lesenswert. Neben präzisen Prosaminiaturen (z.B. Thorsten Krämer, Alexander Bach, Christina Günther) gibt es auch viele gelungene Gedichte (z.B. Sabine Schiffner, Ute-Christine Krupp, Dorothée Haeseling) oder markante Kindheitserinnerungen von Alfred Miersch.

Zusätzlich wird jede Region eingeleitet mit einem informativen AutorInnen-Interview. Darin erfährt man z.B., wie Dieter M. Gräf in Köln heimisch geworden ist, wie Gisbert Haefs beleidigt ist über die Kritik an der Übersetzung seines Bruders von Norfolks Roman "Lempriéres Wörterbuch" oder wie Roland Adelmann Social Beat versteht und Charles Bukowski glorifiziert.

Alles in allem eine gelungene und empfehlenswerte Edition, die Vorbild sein könnte für andere Regionen.

Die neuen technologischen Möglichkeiten nützend ist einer Teilauflage eine CD mit Lesungen und Kurzhörspielen beigefügt, die als Zugabe die Vor-und Nachteile einer akustischen Literaturvermittlung dokumentiert.

Jochen Arlt (Hrsg.): Junger Westen, 11. Lesebuch, Rhein-Eifel-Mosel-Verlag, Pulheim, 1996, 455S., Hardcover, 14 teils farbige Abb., 7 Zeichnungen, 34,80 DM, ISBN 3-92482-2; mit CD 44,88 DM, ISBN 3-924182-34-5



"Literatur zum Pflücken"

Der Wiener Zettelpoet Helmut Seethaler muß ins Gefängnis. Im Mai erschien sein erstes "Pflückbuch".

"Wer lange genug angepaßt wird, dem paßt alles" steht auf den kleinen Papierfetzen. Oder zum Beispiel: "Die, die nur wissen, was man ihnen sagt, sind auch die, die nicht wissen, was man ihnen verschweigt". Solche Denkzettel verpaßt der Wiener Helmut Seethaler seinen Mitmenschen. Einige von ihnen wollen ihn deshalb hinter Gitter bringen. Warum nur?

Eigentlich sei seine Kunst ja "harmlos", meint der - laut Eigenwerbung - "weltweit einzige Zetteldichter": "Kritisch ist sie schon. Aber ich greife nie irgendjemanden persönlich an." Nie rufe er zu Terrorismus auf. Er schreibe einfach Gedanken auf, die ihm in der U-Bahn oder im Bus so in den Kopf kommen. Bewußt wähle er dabei ganz einfache Worte: "Alle sollen mich verstehen! Ich will gerade die Nichtleser erreichen. Viele Intellektuelle mögen mich deshalb nicht. Aber das ist mir egal."

Vermutlich würde der Poet im Geschiebe der Großstadt übersehen werden - wenn nicht seine Art der Lyrik-Verbreitung etwas ungewöhnlich wäre: Erst tippt Seethaler ein Blatt mit Gedichten voll. Dann kopiert er es ein paar tausendmal, schneidet die Gedichte aus - und heftet sie mit Klebebändern an Bäume, Laternen, Haltestellenwände oder andere öffentliche Flächen. Dazu hängt er das Schild: "Literatur zum Pflücken".

Auf diese Idee war er 1973 gekommen. Eine Universitätszeitung hatte Frühwerke des damals zwanzigjährigen Jungpoeten veröffentlicht. Da das Blatt unverkäuflich war, bekam Seethaler 40 Exemplare davon. Kurzerhand schnipselte er die Gedichte aus und bestückte mit ihnen seine ersten Klebebänder. Die Behörden reagierten mit Anzeigen wegen "unerlaubten Plakatierens" und "durchaus vermeidbarer Luftraumverschmutzung" - das Publikum aber war begeistert. Seither macht er das hauptberuflich. Vor ein paar Jahren hat sich sogar Seethalers Mutter mit dem seltsamen Treiben ihres Sohen abgefunden.

Der freundlichen Einladung zur Literatur-Selbstbedienung kommen vor allem Frauen nach. Viele bleiben stehen, lesen, was da Kleinformatiges im Wind flattert - und pflücken sich ein paar Gedichte. "Sie sind noch nicht so verhärtet wie die Männer", erklärt der Zettelpoet. Oft fangen sie auch Diskussionen mit dem danebenstehenden Autor an. "Manche pflücken in der Früh, wenn sie zur Arbeit gehen, ein Gedicht und sprechen am Abend mit mir darüber, wenn sie auf ihre Züge warten. Auch meine Frau habe ich auf diese Art vor zwölf Jahren kennengelernt."

Männer zwischen 30 und 60 dagegen sind meistens zu gestreßt; sie hasten durch die Fußgängerzone ohne Seethalers Kleinkunst eines Blickes zu würdigen. Ältere Männer reagieren oft zornig: "Sie gehen hin - nicht um zu lesen, sondern extra um sich aufzuregen. Sie reißen meine Texte herunter, trampeln darauf herum. Mir ist's recht - das macht die Sache für die Passanten nur noch interessanter. Was in den Alten wohl vorgeht?" wundert sich Seethaler. "Grantler sind eine Wiener Spezialität. Diese Aggressivität gibt es nur hier." Übliche Beschimpfungen sind "Trottel!" und "Sozialschmarotzer!"

Die Akteure gehen ab. Ende des ersten Akts.

An manchen Tagen wird der Spielplan etwas variiert. Zum Beispiel, wenn die Polizei verständigt wird. Die grün Uniformierten spielen allerdings nur widerwillig mit: "Wissen Sie, wir hätten auch andere Sachen zu tun." Oder wenn die "Wiener Linien" das Jugendamt einschalten, da Seethaler mit seinen drei kleinen Töchtern neben den Gedicht-Pfeilern Fangen spielt - das heißt, sie "an Straftaten beteiligt" und ihnen "nicht ausreichend Tageslicht gewährt". Manchmal bleibt in der U-Bahnstation auch plötzlich die Rolltreppe stehen - wenn die Aufsicht sieht, daß sich der Zettelpoet seinem Tatort nähern will.

Der nächste Akt spielt in Seethalers Wohnung. Der Dichter erwartet den Briefträger, der neben Fanpost auch behördliche Schreiben bringt. "Der Rekord bisher waren 34 blaue Amtsbriefe an einem Tag", berichtet Seethaler. "Bei Strafverfügungen und Straferkenntnissen verweigere ich die Annahme. Dann kommen sie am nächsten Tag per Einschreiben. Das nehm ich auch nicht an. Dann werden sie gerichtlich eingeklagt. An manchen Tagen sind mehrere Beamte nur mit mir beschäftigt, schreiben Dutzende Anzeigen und Strafen, gegen die ich Einspruch erhebe. Ich bin genauso fleißig wie die. So bleiben wir alle in Schwung." "Wenn's genehmigt wird, hörst auf", sagt Seethalers Frau, "'s wär' ja fad".

Da der österreichische Rechtsstaat Akteneinsicht gewährt, muß Seethaler kein Tagebuch schreiben. Gleich acht verschiedene Behörden katalogisieren sorgfältig seine beschlagnahmten Werkchen, lückenlos dokumentieren sie sein künstlerisches Schaffen. Das liest sich so: "Der Künstler Seethaler beklebte von 11.30 bis 11.50 Uhr die U-Bahnstation Westbahnhof mit seinen Gedichten. Die dienstliche Anordnung des in seinem Amte beeidigten und bevollmächtigten Eisenbahnaufsichtsorganes, des Betriebskontrollores Nr. BI 92928, sein Verhalten einzustellen, wurde von Seethaler ignoriert. Er setzte sein strafbares Verhalten fort." Derartige Beamten-Lyrik wird von Seethaler umgehend kopiert - und neben seine eigenen Gedichte geklebt.

Auch sonst gibt es Beamte, die sich um die Zettelkunst verdient machen. Das österreichische Parlament und verschiedene Ministerien sind von Sympathisanten unterwandert. Bei ihnen darf der Poet gratis kopieren. Auf diese Wiese gelang es Seethaler, sich einen Vorrat von "rund 30 bis 40.000 Zetteln" anzulegen. "Ich muß dann nicht jeden Tag kopieren." Das beruhige ihn - schließlich könne man ja nicht wissen, ob nicht die "Wiener Linien" versuchen würden, die Copy-Shops der Stadt gegen ihn aufzuhetzen, eine weitere Verschwörung gegen ihn anzuzetteln.

Das Phänomen der Pflückliteratur beschäftigt natürlich auch die Wiener Politik. Die Fronten verlaufen dabei nicht dort, wo Außenstehende sie vermuten würden. "Von der SPÖ bin ich schon sehr enttäuscht", bedauert Seethaler. "Gerade die sind es doch, die immer von 'Kunst für alle' und 'die Kunst zum Volk bringen' reden." Aber was soll schon ein sozialistischer Bürgermeister gegen die unerbittliche Gewerkschaft der U-Bähnler ausrichten? Die konservative Obrigkeit des ersten Bezirks dagegen erteilte eine Gedichtklebelizenz. Und wie die "Grünen" erklärte auch der Kultursprecher von Jörg Haiders "Freiheitlichen" - aus Überzeugung? aus reiner Bosheit? -, die Zettelpoesie gefalle ihm.

Vor Gericht hilft derart prominenter Fürspruch allerdings nicht weiter. Bisher waren alle Verfahren gegen den Zetteldichter in letzter Instanz eingestellt worden. Jetzt aber hat Wiens oberster Verwaltungssenat erstmals einen Schuldspruch bestätigt. "Die 'Wiener Linie' haben einen neuen Dreh gefunden", stöhnt der Dichter: "das heißt, 'von dazu nicht befugten Personen erfolgte Veränderung im äußeren Erscheinungsbild einer im öffentlichen Eigentum stehenden Einrichtung' oder so ähnlich". Zwar erhob Seethaler Einspruch: "Ich bin schon bestraft genug, durch den Schaden, den mir diese bornierten Beamten täglich mehrmals zufügen." Aber es half nichts.

Vorerst wandert der Poet "nur" für 12 Stunden ins Gefängnis. Die neue Spruchpraxis des obersten Gerichts verheißt jedoch nichts Gutes - in der Causa Westbahnhof haben sich Strafbescheide über mehr als 390.000 Schilling angesammelt. Und Seethaler hat nicht nur drei kleine Töchter, sondern auch "drei voll überzogene Konten". Trotz allem gibt er sich kämpferisch: "Da ich weder fähig noch willens bin, für Verbreitung einer neuen Literatur-Form Strafen zu zahlen, werde ich 390 Tage absitzen!"

Die Verehrerinnen profitieren von der Bedrängnis ihres Helden. Denn abgesehen von der Einsicht, "daß ich ja nicht überall gleichzeitig kleben kann", sind die finanziellen Sorgen wohl der Hauptgrund dafür, daß der Zettelpoet seinen hartnäckigen Widerstand gegen die "Kunstform Buch" aufgab. Im Mai erschien im Wiener Verlag "Der Apfel" das weltweit erste "Pflückbuch". Auf fünfzig Seiten erzählt da Seethaler seine Geschichte. Die restlichen 60 Seiten sind mit 500 Gedichtzetteln beklebt. "Es ist ja gar kein richtiges Buch", tröstet sich Seethaler, "man kann da Gedichte pflücken wie vom Baum." Und er verspricht: "Ich werde noch 50 Jahre lang Zettel kleben!"

Helmut Seethaler: Das Pflückbuch, Verlag Der Apfel, Wien 1996, ISBN 3-85450-103-X

Sisyphos

von Lutz Rathenow

(sg) Lutz Rathenow, Verfasser komprimierter Prosa und Lyrik, hat mit seinem bereits 1995 erschienenen Buch Sisyphos mit Erzählungen über die DDR und der infolge der Wiedervereinigung entstandenen Ost-BRD in unvergleichlichem Stil an früher entstandene Prosa angeknüpft. Diese schnörkellose, oft grotesk anmutende Ausdrucksfähigkeit schien er schon in seinem ersten, 1980 erschienenen Prosaband Mit dem Schlimmsten wurde gerechnet entwickelt zu haben. In Sisyphos stehen alte, zum Teil noch zu DDR-Zeiten geschriebene Texte neben den neuen der Nach-Wende-Zeit. In seinen Erzählungen werden wie eh und je Themen im Zusammenhang mit den herrschenden Machtstrukturen, sowohl im zwischenmenschlichen als auch im bürokratisch-pervertierten Bereich der späten DDR teilweise surrealistisch anmutend, aber stets mit satirischem Unterton, bearbeitet.

Das Alltagsleben einfacher Menschen als Zahnrädchen im System der Unmenschlichkeit ist das, was beim Lesen ein Grauen erzeugt, gleich dem Grauen, mit dem man bei der Lektüre des antiken Sisyphos konfrontiert wird, der zur Strafe für den Verrat an Zeus sein Tun mit unaufhörlichen Steinerollen im Hades büßen mußte. So sind auch die Figuren Rathenows eingesponnen in ein System, welches die Mühen und die Arbeit des Individuums nicht honoriert, ja sogar durch Unmenschlichkeit nihiliert und dieses individuelle Schaffen immer wieder vor den Anfang zurückwirft, indem es dieses zunichte macht. Was dabei übrigbleibt, zeigt Rathenow durch das pervertierte Handeln seiner oftmals verschrobenen Anti-Helden, die überangepaßt oder sich verweigernd zu sozialem Verhalten nicht mehr fähig scheinen, deren Exzentrik aber als Indikator für eine immer verrückter werdende Welt beim Leser bisweilen sogar eine gewisse Bewunderung hervorruft.

So wird Herr Leibling in der gleichnamigen Erzählung aufgrund seiner Bestrebung sich und sein Wochenendhaus durch chemische, mechanische und elektrische Abschreckung vor Insekten und unliebsamen Besuchern zu schützen, zum Vorbild für die gesamte Laubensiedlung. Die Stacheldrahtzäune und Minitretminen für Ameisen karikieren die Akzeptanz des sozial-faschistischen Kleinbürgers bezüglich staatlicher Repression, da schließlich erst die Projektion des Verfolgungswahnes im Mikropolitischen auf das Denken im Makropolitischen die Existenz eines Unrechtsstaates gleich der DDR auf Dauer ermöglichte. Oder war es nicht vielmehr das System, das es mit dem Individuum erst so weit kommen ließ? Es ist gerade Rathenows Verdienst solche Fragen offen zu lassen, ebenso wie politisch zu sein, ohne konkret zu werden und mit satirischem Augenzwinkern stets bemüht zu sein, nicht in Moralinsäure zu fallen.

Lutz Rathenow: Sisyphos. Berlin Verlag, 1995. 160 S. 32 DM.
ISBN 3­8270­0135­8.

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Wandler, Zeitschrift für Literatur, Heft 19

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