Wandler, Zeitschrift für Literatur, Nr.19: Anonyma

Zurück zur Titelseite und zum Inhalt von Heft 19, zur Wandler Startseite

Anonyma

Die gute Bekannte

Jaja, das ist ein Text, den ich nicht sehe, während ich ihn schreibe. Ich habe lediglich die Tastatur vor mir auf meinem Schoß, der Bildschirm steht ganz weit weg von mir auf meinem Schreibtisch, um Euch ein bißchen was von meiner gegenwärtigen Surrounding zu schildern. Der Ventilator summt zu meiner Rechten. Ich schaue gerade Das literarische Quartett an und dachte: schreiben könnte ich auch mal, auch einen Roman, oder wenigstens eine kleine Skizze, oder einen Text für den Wandler oder was auch immer, schreibenschreiben, aber große Themen gibt es nicht.

Holocausterfahrung kann ich nicht aufarbeiten. Wenderoman is nich (ich als Wessi), politisch weiß ich nichts (na wenig), Sex kann ich auch nicht doll in Worte fassen, da ich gar nicht mehr weiß, wie das gehen soll, stets überfordert bin mit all den Eindrücken, und außerdem viel zu wenig Sex habe.

***

Versprochen: Der schönste Satz der Welt kommt am Ende. Doch halt! Ihr dürft noch nicht an den Schluß springen, außerdem muß ich sowieso die meisten von Euch bereits hier enttäuschen: Wie Ihr vielleicht wißt, ist die Welt inzwischen derart fragmentiert, die Gesellschaft tribalisiert (das P-Wort fällt hier nicht), daß nicht alle spüren werden, daß tatsächlich noch nie ein wahrerer Satz mit mehr Eleganz formuliert wurde als der am Ende dieses Abschnitts stehende. Der darin vorkommt hätte ihn verstanden, doch er ist weg jetzt, in irgendeiner Großstadt, größer als Konstanz wahrscheinlich schon. Arrogante Reichshauptstadt vermutlich. Der Weg dahin war Streit. Anziehungen und Abstoßungen, wie in der Physik, von der ich nach wie vor nichts verstehe. Induktionen und Deduktionen, die es in der Physik, aber ebenso in der Philosophie gibt, von der ich auch nicht allzu viel weiß. Wir waren traurig, weil all unsere Pläne von gemeinsamen Zukünfteleien den Berg hinabgegangen waren, und hielten uns an unseren Tassen fest, in denen zu rühren wir schon längst jede Lust verloren hatten.

Nachdem wir den Versuch aufgegeben hatten, uns miteinander zu verständigen, holten wir John-Woo-Filme aus der Videothek, um zu sehen, wie Freundschaft eigentlich funktioniert.

***

MännerFrauenGespräche wohin man hört. Im Grunde klingt Verstörung durch, aber jeder scheint immer noch zu wissen, wie er und sie sich fühlt, doch Rollengefühle gibt's keine mehr. Du fragst mich, auf welche Männer ich stehe. Ich nenne den unvermeidlichen Johnny Depp, was Du und der dritte Mann mit einem gequälten Lachen quittieren. Gut, besser als Sharon Stone sei meine Wahl ja auch nicht. Jaja, ich weiß, aber was soll ich sagen? Wir sind doch alle viel zu cool, als daß ich gestehen könnte, daß ich Dich sexy finde, ohnegleichen, seit ich neulich in Deinem Rucksack und in Deiner Jackentasche herumgeschnüffelt habe, um einen Eindruck von Dir zu bekommen, einen klareren, und dabei sowohl im Rucksack als auch in der Jackentasche Kondome gefunden habe, nicht einzelne, sondern Großpackungen, die etwas größer waren, für mehr Komfort, und ich war sofort vom Scheitel bis zum großen Zeh aufgereizt, fühlte sämtliche wasweißichwievielmilliarden Körperzellen pulsieren, gleichzeitig schämte und wunderte ich mich, daß mich ein bißchen Sexprotzerei so in Wallung bringen kann, wo ich doch sonst nicht phallozentrisch bin, aber Du warst mit einem Schlag ein erotisches Wesen und bist es noch. Eines Tages werde ich über Dich herfallen. Wer interessiert sich da noch für Claudia Schiffer? Wer für Brad Pitt?

***

Wie er starb. Es ist erstaunlich, daß Du Dich für Pop so ernsthaft interessierst. Gut, Pop ist vielleicht als soziologisches Phänomen relevant, aber da wirklich theoretisch, semiotisch und hermeneutisch rangehen, ist doch nichts. Da muß ich ein bißchen biographisch antworten, auch wenn ich das hasse, dieses typische Outing bei Diskussionen, dennoch: Meine Haltung ist grundlegend antibürgerlich, und zwar nicht nur so als (post-)pubertärer Abgrenzungsversuch gegen Eltern, sondern als ganz fundamentale Weise, die Welt wahrzunehmen. Gleichzeitig habe ich mich immer schon für die künstlerische Gestaltung von Leben interessiert. Allerdings sehe ich, daß die Freude an Kunst, an Literatur etc. nicht mit dieser Antibürgerlichkeit zusammenpaßt, daß die meisten Prozesse, bei denen Kultur rezipiert wird, dazu da sind, ein bürgerliches Zusammengehörigkeitsgefühl zu konstituieren, sich gegen andere Gruppen abzugrenzen, die sich nicht so distinguiert ausdrücken können, die all diese Spielregeln nicht draufhaben. Geh' in eine x-beliebige Lesung, dann weißt Du, was ich meine. Pop ist eine Möglichkeit, dieser Vereinnahmung zu entgehen. Außer natürlich, wenn Pop ins Netz der etablierten Kultur gerät, das heißt ins Museum kommt. Klingt das jetzt arg antiquiert links? Nö, eigentlich nicht so sehr, mich wundert, daß Du so theoretisch und klar formulieren kannst, Du als Frau. Das war der Moment, als ich das Bierglas nahm und gegen seinen Schädel schlug. Es zerbrach bei weitem schneller als ich gedacht hatte. Mir war nicht klar gewesen, mit welcher Stärke ich geschlagen hatte. Gut, es war Pech irgendwie. Jedenfalls bohrten sich die Stücke sofort in seinen Kopf, alles mögliche an Flüssigkeit und Schlabbermasse kam raus, er stöhnte noch etwas und machte Bewegungen, die nicht wirklich menschlich aussahen, dann fiel er unter den Tisch, und als ich sah, wie andere zu ihm hinliefen, rannte ich schnell weg und bin auch heute noch auf der Flucht.

Das war natürlich nicht echt, sondern nur zitiert. Wer weiß von wem? In Wirklichkeit habe ich gelächelt.

***

Ich sehe ein, ein Roman ist nicht drin heutzutage. Man muß allzuviele Computerspiele spielen, als daß noch Zeit bleiben würde. Statt dessen kleinere Fragen in kleinerem Rahmen in kürzerer Zeit (auch für Euch besser, weil Ihr dann noch ein bißchen was anderes machen könnt, ins Kino gehen oder Solitär spielen oder was essen), eine Frage ist diese: Vorausgesetzt Du lernst jemand kennen, den Du vorher schon ein bißchen kanntest, Du verbringst mit ihm den Abend, weil Ihr etwas organisieren müßt zusammen, Ihr kommt ins Reden, Du fühlst Dich wohl mit ihm, Du wirst diese Nacht nicht ohne ihn verbringen, beschließt Du. Der schöne Abend geht seinem Ende zu, Ihr verlaßt gemeinsam das Gebäude, in dem Ihr gearbeitet habt, schließt Eure Fahrräder auf, plaudert mit den Rädern in der Hand noch ein bißchen weiter, einen Fuß schon auf dem Pedal, allerdings ist es kalt und nieselig, so daß man nicht ewig stehen bleiben kann. Also dann. Mach's gut. Bis bald. Der Abschied ist herzlicher als es sonst üblich ist, wenn man mit Leuten einen Abend lang zusammen gearbeitet hat, Ihr habt Euch das erste Mal recht lange in den Armen, küßt Euch sogar noch ein wenig. Jetzt wäre der Zeitpunkt zu sagen: Zu Dir oder zu mir? Doch das kann man nicht mehr sagen heute. Die Phrase ist so abgedroschen, daß es peinlich wäre. Die kleinere Frage in kleinerem Rahmen und kürzerer Zeit nun ist: Was sagt man statt dessen?

Wenn es mir einfällt, laß ich es Euch wissen. Tschüß, bis zum nächsten Mal!

Eure gute Bekannte.

Anmerkung der Redaktion: Eigentlich ist es ja nicht unsere Art, anonyme Beiträge zu veröffentlichen. Aber jede Regel hat eine Ausnahme. Und wo, wenn nicht in einer Satirenummer. - Ja, im "Wandler" sind schon "pseudonyme" Beiträge erschienen. Doch immer kannten wir die Quelle. Diesmal nicht. Fassen wir's als Leserbrief auf. Sei's drum. (go)

..

Wandler, Zeitschrift für Literatur, Heft 19

Zurück zum Anfang der Seite, zu Titel & Inhalt von Heft 19, zur Wandler Startseite