Der Brennende Busch

Ingeborg Jaiser: Heimspiel



Schon unten, beim Aufschliessen der Haustüre, ahne ich den Fehler: wieder einmal viel zu früh heimgekehrt von einer Unternehmung, die doch nur als unsinnige Ansammlung von Menschen besteht, die sich zufällig um denselben Grill oder dieselbe Stereoanlage scharen.

Hinten im Wohnzimmer lungern die Männer herum, Onkel und Nachbarn und Kollegen meines Vaters, schlecht rasierte Arbeitstiere mit breitem Kreuz und filzigem Haar. Von weitem gleichen sie einem Rudel Hunde, zusammengehörend, zusammenrottend, einen gemeinsamen Geruch ausströmend - einen dumpfen, säuerlichen Geruch, irgendwo zwischen Starkbier, Schweiß und billigem Eau de Toilette. Ein paar Sekunden lang beneide ich sie um diese Gemeinschaft, die mir selbst nicht vergönnt ist.

"Simone", ruft mein Vater nach vorne und ich ahne an der winzigen Verzerrung der Vokale den Grad seiner Stimmung. "Simone, hat's Dir nicht so gefallen?"

Ich streife den Mantel ab und lasse ihn einfach im Hausflur fallen, zwischen den verkrusteten Stiefeln der Männer und ihren weißgesprenkelten Malerkitteln. Es würde wenig Sinn machen, Vaters Frage zu beantworten. Er stellt sie jeden Samstagabend, um sie sofort wieder zu vergessen. Schlürfend nimmt er einen Schluck aus der Flasche, wischt sich mit dem schon feuchten Hemdsärmel über den Mund und wendet sich zufrieden dem Fernseher zu. Das weiß ich, ohne ihn vom Flur aus direkt zu sehen.

Lustlos schleiche ich in die Küche. Das Ausmaß der Verwüstung gleicht dem anderer Abende. Aufgeschnittenes schwarzes Landbrot bröselt zwischen Kronkorken, billigem Supermarktkäse und fettglänzender Salami dahin. Was auf den Boden fällt, bleibt dort liegen. Mutter hätte ein solches Chaos nie geduldet - aber ich kann einfach nicht den gleichen Eifer wie sie entwickeln.

An den Geräuschen aus dem Wohnzimmer lese ich ab, dass es Verlängerung gibt. Im Vorübergehen werfe ich kurz einen Blick hinein, um ein braves "Hallo" zu murmeln, wie es sich gehört, als anständige Tochter. Tatsächlich schauen einige Augenpaare träge und etwas irritiert zu mir auf, doch die meisten bleiben in hartnäckiger Verbissenheit am flimmernden Bildschirm kleben. Manchmal wünsche ich mir, ein Mann zu sein und in dieser stummen, dunkel müffelnden Gemeinschaft abzutauchen, ohne leiseste Erwartung oder Anspruch.

Freundschaft will mir immer weniger gelingen, trotz redlichen Bemühens. Obwohl ich keine Party auslasse, gleichen sich die Menschen und Orte und Anlässe schon lange. Sie feiern Einstand, Geburtstag, Silvester - und wenn der eine zu Ende damit ist, ziehen die nächsten um oder heiraten oder wechseln die Stelle. Sie heißen Andreas und Ulrich und Karin, stehen gelangweilt, Zigarette in der einen, Drink in der anderen Hand, in der Gegend herum und reißen überall dieselben Witze. Es gibt Nudelsalat und Rioja und Schweinswürstchen vom Sonderangebot. Ich esse und trinke wie immer zu schnell, um mich dann geräuschlos in die Badezimmer zu verdrücken, die durchweg weniger vorzeigenswert als die restlichen Wohnungen sind, aber doch in ihrer Schäbigkeit trösten. Manchmal, wenn ich mich übergeben kann, tritt Erleichterung ein, doch viel öfter fahre ich aufgebläht und enttäuscht nach Hause, ohne auch nur einmal den Mund aufgemacht zu haben. Es ist unklar, wieso man mich noch einlädt.

Stillschweigend bin ich wieder in mein altes Zimmer gezogen. Wer sonst hätte Vater den Kühlschrank gefüllt und die Arbeitskittel gewaschen. Dieser kräftige, breitschultrige Mann, der willig zentnerschwere Zementsäcke schleppt, wirkt erstaunlich hilflos in alltäglichen Dingen. Und nach der Sache mit Mutter sind ihm die letzten kleinen Fertigkeiten entglitten. Es hat lange gedauert, bis wir wieder eine Sprache gefunden haben, die wir seither mit Vorsicht verwenden. Sie klingt wie das schlichte Repertoire einer Vorabendserie. Nur anschauen können wir uns nicht mehr.

In meinem Zimmer hat sich wenig verändert. Trotzdem fühle ich mich wie zu Besuch; besonders morgens, in den ersten Sekunden des Aufwachens, weiß ich oft nicht, wo ich mich befinde. Es fühlt sich an wie auf Reisen, wenn man nach einem Nachmittagsschlaf in fremden Betten zu sich kommt und im fahlen Licht der untergehenden Sonne selbst die Tageszeit unbestimmbar erscheint. Mir ist, als ob ich dieses Zimmer nur zum Warten benutze: bis Vater nach Hause kommt, bis die Wäsche bügelreif ist, bis der Tag zu Ende geht, bis es Morgen wird. Jetzt hocke ich auf dem Teppichboden, der an der Stelle, die ich schon als Teenager mochte, dünn und abgeschabt aussieht, und warte auf das Ende des Fußballspiels. In unregelmäßigen Abständen dringen Rufe der Begeisterung oder des Missmuts zu mir durch, die sich vielstimmig mit den Schreien aus der Nachbarschaft vermischen. Einmal ertönt ein infernalisches "Tor!!", das wie ein Erdbeben vibrierend die Siedlung erschüttert. Sein Nachhall schmerzt.

Später, nach Spielende, rumort es eine Weile geräuschvoll unter mir, dann kehrt Ruhe ein, die nur von zwei oder drei Stimmen leise durchbrochen wird. Vorsichtig lege ich mein Ohr auf die abgeschabte Stelle des Teppichbodens, um wenigstens Teile des Gespächs aufzuschnappen - doch es ist nur das Übliche: ein schleppender, aber sorgloser Tonfall, der sich mit meinem Namen verbindet, dann ein paar düster abgehackte Wortfetzen, dumpfe Vokale, schließlich Schweigen. Ich weiß, dass von Mutter die Rede war.

Als ich die Treppe hinuntersteige, treffe ich gerade noch auf Onkel Willi und Onkel Günther, die umständlich, müde und alkoholschwer ihre Arbeitsschuhe zuschnüren und sich mit glasigen Augen verabschieden. Im Wohnzimmer türmen sich leere Bierflaschen, Wurstzipfel, Käserinden. Die Aschenbecher quellen über, obwohl nicht nur Vater strengstes ärztliches Rauchverbot hat. Aber was wissen schon die Ärzte?

Unwillig sammle ich die Überreste ein. Zwischen den Sofaritzen liegt ein abgefallener Jackenknopf. Jemand hat sein Feuerzeug vergessen, einen Pfennigartikel mit Werbeaufdruck. Alles Dinge, die einen merkwürdig tröstlichen Hauch verbreiten, so als ob ich nicht ganz umsonst hier wäre.

Erst als ich die Balkontüre zum Lüften öffne, entdecke ich Vater. Er rührt sich nicht, obwohl er mich hören muss. Die grauen Strähnen seines Haars wirken schmutzig in der Dunkelheit. Sein Hemd spannt über dem gebeugten Rücken. Stumm steht er dort draußen auf der Terrasse, mit gesenktem Kopf, genau an der Stelle, an der Mutter aufprallte, als sie sich vom Dachfenster stürzte.






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