WANDLER, Zeitschrift für Literatur, No 29
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Titus Müller
Dengha
Er sitzt am Rand des Dorfplatzes. Wie er es die meiste Zeit tut,
wenn ihm sein Onkel keine Arbeit aufträgt. Die Sonne feuert durch die Äste
eines Stinkholzbaumes auf seinen Rücken. Ganz in der Nähe verbreiten
Blütenbecher süßen Geruch. Dengha bewegt sich nicht, denn er
möchte ein paar Frauen erschrecken, die gerade den Platz überqueren.
Seine Knie halten die Trommel. Er hebt langsam die Hände und dann schlägt
er abwärts. Ein lauter, verzwickter Rhythmus bringt den Himmel zum Zucken.
Die Frauen fahren zusammen, fassen eilig nach den Tongefäßen auf
ihrem Kopf. Dann lachen sie, setzen ihre Krüge ab und fangen an zu tanzen.
Dengha grinst. Sie klatschen in die Hände und stampfen mit den Füßen.
Dengha trommelt einen Tanzrhythmus, zu dem die Frauen ihre Hüften schwingen.
Dabei ist er erst fünf. Sein Onkel ist stolz darauf, wie gut er trommeln
kann. Damit Dengha es später weit bringt, bat er Father Quentimoure, ihm
Englisch beizubringen. Heute hat Father Quentimoure keine Zeit. Es sind wichtige
Engländer zu Besuch im Dorf.
Die Engländer sind zwar blasshäutig und schwach, aber sie haben Mut.
Gerade erst haben Männer seines Dorfes eine Handelsstation der Engländer
angegriffen. Wahrscheinlich soll Father Quentimoure ihnen verraten, wer es war.
Father Quentimoure ist auch Engländer. Aber er steht auf der Seite der
Schwarzen. Die Sonne hat sein Gesicht viel dunkler gemacht, als die Gesichter
der anderen Weißen sind.
Schade, die Frauen gehen weiter. Bei den Engländern, die Father Quentimoure
besuchen, ist auch eine Frau. Sie hat nicht getanzt, als Dengha ihre Gruppe
mit seiner Trommel begrüßte. Father Quentimoure war auch nicht einverstanden
damit, daß Dengha einen Rhythmus spielte. So sahen jedenfalls seine Augen
aus. Die Engländer verstehen eben keine Musik.
Es sind Soldaten ins Dorf gekommen und haben Szah Ebno, den Sohn
des Häuptlings, abgeholt.
Dengha ist wütend. Er trommelt sich die Hände wund. Wenn Männer
seines Stammes vorbeilaufen, nicken sie ihm grimmig zu. Der wilde Klang tut
ihnen gut.
Einen Tag später rennt seine kleine Schwester zu ihm hin und flüstert in sein Ohr. Father Quentimoure liegt mit einem Speer im Bauch tot in seiner Hütte. Dengha rührt das Ziegenfell seiner Trommel nur ganz sachte an. Er spielt einen traurigen, langsamen Rhythmus. Bald kommt sein Onkel und verbietet ihm das. Dengha steht müde auf. Es wäre gar nicht nötig gewesen, daß sein Onkel schimpft. Aus der Ferne hört man ja ein anderes, rasselndes Trommeln.
II
Jeremys Brüder spielen draußen auf der Wiese. Wie es wohl wäre,
sich jetzt im saftigen Grün zu wälzen? Die Bücherregale beugen
schwer und drohend ihr Wissen herab. In ihrem Schatten läuft Sir Haplewood.
Es scheint ihm überhaupt nichts auszumachen.
In seinen Händen hält er das Gedicht, das Jeremy in Sonettform schreiben
mußte. Daß der Privatlehrer so lange nichts sagt, kann verschiedenes
bedeuten. Entweder erwartet seinen Schüler eine lange Belehrung über
Konzentration, Zeit und sinnvolle Lebensgestaltung, oder es sind - auch beim
besten Willen - keine Fehler im Text zu finden. Sir Haplewood bleibt stehen.
”Junge, warum hast du das geschrieben?” Seine Stimme klingt seltsam.
Erstaunt blickt Jeremy auf.
”Ich habe mir nichts Besonderes dabei gedacht, Sir.”
Die Antwort scheint den Lehrer nicht zu befriedigen. Jeremy wehrt den bohrenden
Blick mit einem unschuldigen Schulterzucken ab.
”Hat es mit deiner Vergangenheit zu tun?”
Vergangenheit. Darauf also hat er es abgesehen. ”Warum kommen Sie mir
immer mit meiner Vergangenheit?”, stößt Jeremy hervor. ”Das
ist Diskriminierung! Ich kann mich an meine Kindheit nicht erinnern, das wissen
Sie genau. Und ich bin ein Engländer, wie jeder andere auch!”
”Die Hautfarbe sagt nichts über den Wert eines Menschen aus. Etwas
anderes habe ich nie gelehrt.”
Jeremy schweigt eine Weile. Dann sagt er leise: ”Ich weiß doch auch
nicht, warum ich das geschrieben habe. Zerreißen Sie es eben. Dann haben
wir kein Problem.”
Als klar ist, daß er dem nichts mehr hinzufügen möchte, läßt
der Lehrer ihn gehen.
Natürlich muß er mit Jeremys Eltern darüber reden.
Kaum ist Jeremy im Flur, wirft er die melancholischen Gedanken von sich. Pfeifend
läuft er die Stufen zu seinem Zimmer hinauf. Der spitze Schrei seines Bruders
ist von draußen zu hören. Jeremy stutzt kurz. Ihm ist, als würde
ihn das Geräusch an etwas erinnern. Er schüttelt den Kopf und läuft
weiter. Schon über eine halbe Stunde warten sie draußen mit dem Spielen
auf ihn. Zum Glück behandeln mich wenigstens meine Brüder wie einen
der ihren, denkt er glücklich.
Es gibt nichts Schöneres, als müdegespielt abends im
Bett zu liegen und die Farben der untergehenden Sommersonne an seiner Zimmerwand
zu beobachten. Aber heute hat Jeremy keine Augen für soetwas. In seinem
Kopf saugen und schlürfen Gedanken. Wie die Wogen am Meeresufer. Immer
wieder kommen sie zurück, um am sicheren Sand zu zerren, ihn zu fragen,
ihn wegzuziehen.
Er steht auf, schleicht die Treppen hinunter und schiebt sich leise durch die
Flügeltür nach draußen. Im Park vor dem Landschloß herrscht
eine merkwürdige Stimmung. Die Vögel singen, als wollten sie die anbrechende
Nacht ignorieren.
Eine große Runde wird genügen, dann habe ich wieder einen klaren
Kopf. Ich schleiche mich zurück ins Bett, und morgen sind die komischen
Gedanken weg.
Jeremy läuft die große Runde. Als er auf dem Rückweg eine kleine
Holzbrücke überquert, passiert es. Seine Finger streifen das Geländer.
Sie klopfen leicht, aus Versehen. Dem Jungen zieht es warm und kalt über
den Rücken. Hastig zieht er seine Hand zurück. Als er ein Stück
weitergegangen ist, muß er über sich selber lachen. Was bin ich doch
für ein Angsthase. Ja, es ist dunkel. Aber ich bin Engländer! Ich
gehe jetzt zurück und fasse die Brücke nochmal an, um mir zu zeigen,
daß ich keine Angst davor habe. Er greift sich einen Stock vom Boden.
Den Arm ausgestreckt, berührt er mit dem Stock das Brückengeländer.
Wovor fürchte ich mich denn? Es passiert gar nichts. Jeremy klopft auf
das Holz. Tock. Tocktock. Kopfschüttelnd läßt er den Stock fallen
und berührt das Geländer mit der Hand. Er spürt die feinen Rippen.
Als er einen kleinen Rhythmus darauf klopft, schießen ihm Tränen
in die Augen. Komische Tränen. Nicht Trauer, sondern Wärme. Es sind
nicht seine, Jeremys Tränen. Irgendwie sind es die Tränen eines Fremden,
der seltsam vertraut ist.
Jeremy liebkost das Holz mit seinen Fingern. Er hat das Gefühl, daß
er sich von außen selbst beobachtet. Wer ist das, der da am Brückengeländer
klopft? Und plötzlich steckt er in diesem Jungen. Tiefer, als er je in
sich selber, dem Engländer gesteckt hat. Er liebt das Holz. Er liebt es,
seine Finger daraufzuschlagen. Jetzt klopft er einen schnellen Rhythmus. Wie
leicht das geht!
Der Engländer reißt sich zusammen. Er läßt das Brückengeländer
los und setzt sich auf die
Brücke, die Beine baumelnd. Aber er merkt, daß er nicht mehr ganz
derselbe ist.
Nachdenklich, wie von selbst, bearbeiten seine Handflächen die Bretter
unter ihm. Der Brückenhohlraum gibt einen tiefen Ton von sich. Und dann
entsteht ein Rhythmus. Leise beginnt Jeremy zu trommeln. Sein Rhythmus wird
wilder, und er spürt eine Wärme in seinem Herzen - das heißt,
in einem Herzen, das er bis heute nicht kannte.
Im Parkgelände hallt der dumpfe Rhythmus.
Seine Eltern erwachen. Sie sehen sich im Finstern an, und Angst steht in ihrem
Gesicht. Gleichzeitig nennen sie Jeremys Namen. Als die Engländerin aufstehen
will, hält ihr Mann sie fest. ”Er wird sich erinnern,” argumentiert
sie. Er nickt. ”Er wird furchtbar leiden,” weint sie. Er nickt,
aber hält sie fest. ”Ich muß ihn doch trösten, ich bin
seine Mutter.”
”Nein, das bist du nicht,” sagt er ruhig.
Längst ist das Trommeln wild und unbezwingbar geworden. Laut
hallt es über den Park, das Landschloß und die Wälder. Der Junge
weint, seine Augen sind ein stummer Schrei. In seinem Kopf sieht er Weiße,
die seine Eltern töten. Er sieht Weiße, die sein Dorf zerstören.
Er versteht plötzlich und weiß, daß er nie wieder vertrauen
wird. Er weiß, daß in ihm ein kleiner Junge wohnt, der Engländer
abgrundtief hassen muß. Dengha haßt Jeremy. Sie werden kämpfen,
und nur einer wird leben.
Dengha trommelt sich die Hände wund. Niemand kann ihn töten. Jeremy
ist machtlos. England ist machtlos. Der Trommelrhythmus läßt den
Himmel zucken.