WANDLER, Zeitschrift für Literatur, No 29

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Britta Mühlbauer

Liebehande Schweranzen!

In aller Kolbenfrüh begaben wir uns gestern festverwandt in die Besuchsanstalt. Eben jene Besuchsanstalt, ihr wißt schon. Im Kleidungsfried wartete Tauberose auf uns. Sie trug ein braungelbes Telwund und griff schildhillig nach unseren Einmachfransen.
“Tauberose”, sagte Unzenfranz, “wie gelbst du heute.”
“Tuchöd", antwortete Tauberose. “Brandhöfle und Lücklein soll der Fraßhunger holen.”
Sie spielte mit den Kranketten, die sie zu Ehren der klageführend Festverwandtschaft angelegt hatte.
"Flügelschacht", sagte sie, als sie unsere Blicke bemerkte. “Flügelschacht, nichtwa." Die Kranzketten rochen seefertig.
Wir gingen hoch zum Praterverleih, vorbei an einem Firmadam, hinter dem Brandölf und Lückflu schnüragelten. Kaum wurden sie unser ansichtig, begann Lückflu an seinem Uckerauf zu rütteln, so olzgemein, daß wir übungsviel wie Slammfliegen den Rotsand hinaufklommen. Doch der Praterverleih war zu. Umleitung nach Schuhlager, stand auf der roten Uckenhand, die uns wieder nach unten schickte. Wir hörten Brandölf rurichen. “Wären wir nur nicht in diesen Teilhau gegangen”, flüsterte Ugbaurosi. Skammermor sei Dank kam uns in diesem Moment Baunschuld entgegen, Tauberose im Pflanzgraben.
“Damerk, damerk", rief sie und korundelte mit beiden Anzbergen in unsere Richtung. Baunschuld verbeugte sich wortlos. Tränen beringelten seinen Anztritt. “Fülbehon", murmelte er. “Anhund fülbehon."
Unzwölfig gaben wir zu erkennen, daß wir keinen Anbestand nahmen. Er grindelte beinahe in den Rotsand vor Bauungsviel. Rondelüber geleitete er uns zum Schuhlager, wo wir einen tückfrieden Atschesonn verbrachten.

Britta Mühlbauer

Kino

Ein Cocktailglas voll Kamillentee. Uringelb, der Glasrand lauwarm beschlagen. Manchmal ereilen mich solche Bilder. Das Eis hat sich aufgelöst, das Getränk ist verwässert.
Wie jeden Abend seit zwei Wochen fahre ich ins Kino. Von der Augenklinik direkt ins Apollocenter. Ich sehe zwei, drei Filme nacheinander. Manchmal ist die Schärfeeinstellung schlecht. Ich bekomme Kopfschmerzen, und meine Augen bewegen sich auf Sandpapier. Wenn du so weitermachst, sagt Konstanze, meine Kollegin in der Augenambulanz, bist du bald selbst ein Fall für uns. Der Autobus setzt sich in ein Schlagloch, der geriffelte Aluminiumboden verschwindet unter meinen Füßen, ich klammere mich an eine Halteschlaufe.
Wo ist Fred?
Im Bus sind viele Frauen allein unterwegs. Ihre Gesichter Ausrufezeichen; sie sind verabredet.
Fred verkriecht sich immer öfter in sein Arbeitszimmer, er schläft auf dem Sofa. Es ist spät geworden, sagt er, ich wollte dich nicht wecken. In der Fensterscheibe des Autobusses lächle ich. Galgenhumor. So robust wie ein Walkjanker. Dicht und ein wenig steif. Man hat nicht viel Bewegungsfreiheit, aber es hält warm.
Ich gehe allein ins Kino. Sigrid hat Horst, Bea keinen Babysitter, Konstanze und Fritz zu viele Dienste. Sie sind alle für mich da, aber, das sehe ich ein, jeden Abend können sie sich nicht freimachen. Früher hatte ich Freunde. Jetzt habe ich Bekannte. Und Fred. So ist das, wenn man erwachsen wird.
Es ist ein neues Gefühl, allein durch die Stadt zu fahren: alles ist überdeutlich. Die Häuser haben scharfe Kanten. Die Ampellichter stechen,
rot, gelb aus dem Frühlingsvorabend, drei Kreuzungen voraus ist grüne Welle.
“Kaffee ist aus”, hat Fred gesagt, als ich ihn das letzte Mal sah irgendwo zwischen Badezimmer und Haustür. Seit einer Woche steht kein gebrauchtes Geschirr mehr in der Abwasch und eine Reisetasche fehlt. Dreharbeiten am Dachstein. Ein Video-Clip.
Irgendwann will Fred einen abendfüllenden Film machen. Über die Tragödie im Nachbarhaus zum Beispiel, die Frau, die mit ihren beiden Kindern aus dem Fenster sprang und überlebte. Die Kinder tot. Mit dem Mann, einem Psychiater, hat Fred sich angefreundet. Der Mann, sagt er, hat etwas abstoßend Dominantes. Wenn er anruft, geht Fred mit ihm auf ein Bier. Der Mann trägt weiße Rollkragenpullis zu schwarzen Sakkos. Sein Blick ist gegenwärtig wie eine close-up-Aufnahme. Er bringt Fred auf Ideen. Der Bus hält vor dem Apollocenter. Er neigt sich der Gehsteigkante zu und entläßt mich in den Abend.
Unter dem Kinovordach hängen Halogenlampen, Scheinwerfer rasen senkrecht über die Vorankündigung des neuen James-Bond-Films hoch. Kleine Lampen im Gehsteigbogen grenzen den Kinovorplatz gegen den Verkehr der Gumpendorferstraße ab. Eine Insel aus Licht. Licht ist Bewegung. Kleinste Masseteilchen, größtmögliche Beschleunigung. Das Kino hat seine eigene Zeit.
Bodenhaftung heißt einer von Freds Kurzfilmen. Der Titel ist von mir. Das hat Fred vergessen. Es ist ihm nur unangenehm Geld von mir zu nehmen.
Bodenhaftung: das Flappen der Straßenbahntüren, das Klacken der Stufe in den alten Beiwagengarnituren, ausgemustert nach Sarajevo. Meine Füße in den schwarzen Lacklederschuhen mit den hohen Absätzen. Fred sagt, ich hätte schöne Fesseln, immer wieder lobt er meine Fesseln. Er liebt Details. Das Ganze ist immer nur so gut wie seine Details, sagt er. Auf den Tramwaystufen hat er meine Fesseln gut in Szene gesetzt. Es war Winter, Streugut knirschte unter meinen Sohlen. Meine Füße waren kalt. Aber, sagt Fred, die Schuhe bringen meine Fesseln zur Geltung, und das korrespondiere mit dem Subtext des Films.
Die Schlange vor den Kinokassen ist erträglich. An Wochenenden steht man bis auf die Straße hinaus. Ich kenne die Leute hier, sie sehen immer gleich aus: nicht schön, nicht häßlich, absolutes Mittelmaß. Ich passe gut dazu. Jemand kauft Karten für ‚Stargate‘. Auch das habe ich schon gesehen. Fred würde es hassen. Ich lese kein Kinoprogramm und keine Filmkritiken mehr. Das Kinocenter sorgt dafür, daß ich weiß, was gespielt wird.
Heute morgen lagen Freds Wohnungsschlüssel auf dem Küchentisch. Es kommt vor, daß er sich aussperrt. Trotzdem bin ich heute ins Kino gegangen.
Aus der Klinik direkt ins Kino, von der Meßbrille direkt ins Apollocenter, von der Linsentrübung direkt in die Lichtspiele.
Fred ist vor zwei Jahren wegen einer Bindehautentzündung in die Klinik gekommen. So haben wir uns kennengelernt. Er hat so empfindliche Augen.
Wenn er lange am Schneidetisch sitzt, sind seine Augen tagelang gerötet.
Kino elf, siebte Reihe, sage ich durch die Glasscheibe. Ich mag Primzahlen. Sie haben etwas Endgültiges.
Ich male mir aus, dass Fred auf der Treppe vor der Wohnungstür sitzt, wenn ich nach Hause komme. Den Kopf gegen die Wand gelehnt, schlafend. Er ist immer so müde. Ich werde meine Hand auf seine Schulter legen. Wiedersehensfreude.
Die Karte für die Nachtvorstellung kaufe ich noch nicht, obwohl mir egal sein kann, was die Kartenverkäuferin hinter ihrer Glasscheibe denkt. Wahrscheinlicher ist, daß Fred toben wird. Ich werde mich nicht auf einen Streit einlassen. Wir werden uns versöhnen. Eine romantische Nacht.
Ich sehe Fargo heute zum sechsten Mal.
Ich habe versucht, Fred das Gefühl zu beschreiben, das der Film mir hinterläßt. Ein Gefühl der Freiheit wie die Filme, die ich früher mit Freunden sah vor den Prüfungen. Alles endet so vefahren, daß die Protagonisten nur noch das nächstbeste Auto klauen und wegfahren können, irgendwohin, nur um des Fahrens willen. An einen Strand, wo sie im Sonnenuntergang Reifenspuren in den Sand setzen. Galgenhumor.
Fred lag auf dem Teppich, die Hände im Nacken verschränkt, ein Bein über das andere geschlagen.
Es geht um eine Entführung, sage ich. Eine wahre Geschichte. Ich versuche mich zu konzentrieren und spreche zum Plafond. Ein Autohändler läßt seine Frau entführen, um an das Geld seines Schwiegervaters zu kommen.
Fred wechselte das übergeschlagene Bein.
Alle haben skandinavische Namen, aber sie sagen Jesses, wenn sie sich wundern. Und überall liegt Schnee. Die Polizistin ist schwanger und einer der Ganoven, sieht aus wie Thomas Muster.
Sehr witzig, sagte Fred.
Jetzt könnte ich das Gefühl anders beschreiben. So, daß Fred mich versteht.
Voll die Hollywood-Scheiße, sagte er.
Ich habe alles falsch erzählt. Von Anfang an. Schon an unserem ersten Abend. Natürlich gingen wir ins Kino. Rasende Kamerafahrten, unscharfe Bilder, Lärm. Filme wie Fred sie liebt. Danach saßen wir in einem Café und tranken und tauschten Lieblingsfilme aus. Fred ließ mir Fellini durchgehen, außer La strada, und Margarete von Trotta, immerhin. Ich erzählte ihm von unserem Filmclub. Dort hatte ich If und Z und Clockwork Orange gesehen. Der Saal war viel zu groß für unser verstreutes Häufchen gewesen. Wir sprachen von der Gesellschaft wie von einer kriminellen Vereinigung. Ralph, ein Student der Soziologie, hatte fettiges Haar, und seine Jacke sah aus, als würde er darin schlafen. Ich bewunderte seine scharfsichtigen Analysen. Leider vergaß er ständig meinen Namen.
Fred lachte.
Ich erzählte ihm von Onkel Robert. Den kurzen Besuchen im Vorführraum. Gemurmel aus dem Saal, die Lichtpyramide aus dem Projektor, tanzender Staub.
Dein Onkel hatte ein Kino? Fred war beeindruckt.
Onkel Robert schickte mich hinunter in den Saal. Frau Kummer leuchtete mir mit ihrer kleinen Taschenlampe, während die Wochenschaufanfare ertönte. Leute mußten meinetwegen aufstehen. Mit fünf oder sechs sah ich Das Superhirn. Die Leute im Saal lachten, ich wußte nicht warum. So lernte ich, wie Unwissenheit ist.
Er habe David Niven auch nie gemocht, sagte Fred. Dafür liebte ich ihn. Fargo. How far can you go? Wie lange bleibt ein Film interessant. Wie lange kann man immer das gleiche tun, ohne verrückt zu werden. Wie lange hält die Liebe an?
Eine Theorie von Fred besagt: je besser etwas ist, desto länger kann man es ertragen.
An Fargo mache ich die Probe aufs Exempel. Ich stelle mich auf die Probe, ich statuiere ein Exempel, an mir, an Fred, an Fargo. Der Vorspann: Schnee und Nebel, die Ahnung einer Fahrbahn, in der Ferne erscheint der Umriß eines Wagens, verschwindet. Schnitt. Weiß auf Schwarz ein Name. Schnee und Nebel, der Wagen ein Stück näher. Schnitt. Den ganzen Vorspann lang immer wieder dieser Wagen, von vorne, vorüberfahrend, von hinten. Er schleppt einen anderen ab. Eine Violinmelodie wie in Zeitlupe. Sie zieht sich durch den Film wie der Schnee.
Die Dialoge sind knapp und banal. Die Schauspieler sagen sie her wie auswendig gelernt. Man muß darüber lachen, und manchmal erschrickt man. Gegen Ende des Films hält die schwangere Polizistin dem Kidnapper, der gerade seinen Komplizen durch einen Häcksler gejagt hat, eine Moralpredigt: Geld ist nicht alles. Haben Sie das nicht gewußt? sagt sie. Und heute ist doch ein so schöner Tag.
Ich gehe vorbei am Kinobuffett. Ernsthaft schaufeln Taiwanesen Popcorn ein und füllen Cola ab. Am Nachmittag bevor der große Ansturm kommt, werden die Popcornsäckchen gezählt. Sie werden mit Gummibändern zu Siebenergruppen gebündelt. Ich habe nicht nachgefragt warum. Ich vertraue darauf, daß die Primzahl hier Sinn macht.
Die schwarze Marmortreppe neben dem Buffett führt zu den Toiletten; wenn man Glück hat. Das Haus wurde ausgehöhlt, das Kinocenter nachträglich eingebaut. Die Gänge, Winkel, Kinosäle ergeben ein künstliches Höhlensystem, das umso dunkler wird, je weiter man hineingeht. Das blauviolette Licht der Wegweiser: Kino 8,9,10,11,12, Bar.
Diesen Weg kenne ich gut. Immer geradeaus zur Apollo-Bar. Ich setze mich an die Theke aus Kirschholz. Die Barhocker sind zebragestreift. Direkt über mir endet dieZwischendecke. Apricotfarben mit weißen Stuckapplikationen. Eine Kulisse. Dahinter Luftschächte, Abluftrohre, Wasserleitungen, Stahltraversen, dunkelblau gesprayt. Himmel über der Apollo-Bar. Getränke-Reklamen als Sterne.
Ich bestelle ein Cola und einen Bacardi. Einen doppelten. Ich mag keinen Bacardi. Es ist nur wegen dieser alten Kinoreklame. Die mit dem Schmetterling. Strand, Palmen, türkisgrünes Wasser. Aus Treibholz und Palmwedeln und roten Tüchern einen Schmetterling bauen. Völlig nutzlos, aus reinem Übermut.
Neben dem Eingang der Bar steht ein arabischer Scheich, eine Puppe, die hin und wieder zu sprechen beginnt. Ich setze mich gerne in seine Nähe und versuche mir das arabische Sprüchlein zu merken, wenn es denn arabisch ist. Das Kino ist eine Illusionsfabrik, sagt Fred, als ob ich das nicht wüßte. Ich mag den Scheich, weil er sich mit seinem Sprüchlein immer wieder zum Narren macht. Jeder der sich zum Narren macht, hat meine Sympathie. Die Leute erschrecken, wenn der Scheich zu sprechen beginnt.
Ungefragt vor allen laut sprechen, das tun nur Kinder und Verrückte. Der Scheich wird elektisch gesteuert. Ein Stromkreis schließt sich, ein Tonband wird abgespielt, der Scheich rollt die Augen und wackelt mit dem Kopf. Er kann nicht anders.
Schlafende Venus. Ein anderer von Freds Kurzfilmen. Ein nackter Frauenkörper, nicht der meine, angezoomt bis in die Poren auf dem Handrücken, bis an die Wurzeln der Haare auf dem Venushügel. Ein paar schwarze Locken. Alexandra. Sie hat breite Hüften und große Brüste. Ausbeutung des weiblichen Körpers, sagte ich nach der Vorführung vor versammeltem Publikum, nicht besser als ein Pornofilm. Alexandra grinste gorgonisch. Vulgärfeminismus, sagte sie.
Freds Freunden gefällt die Symbolik seiner Filme. Die Bedeutungsebenen erschließen sich erst nach und nach, sagen sie. Durch Freds Filme müsse man sich hindurcharbeiten.
Fred verlor kein Wort über meine Wut. Er hatte nichts zu verlieren. Außer sein Vertrauen in mich. Ich bin illoyal gewesen. Er kann mir nicht mehr vertrauen.
In der Bar geht der U-Boot-Alarm los. Rotes Licht über den Tischen, eine Stimme schnarrt: red alert. Ein bißchen Rauch irgendwoher. Dann ist der Spuk vorbei. Die Musik setzt wieder ein.
Jemand hat seine Kaffeetasse neben meinen Ellbogen gestellt. Es ist Tom. Er weiß, wo Fred ist. Er erschrickt, als ich ihn anspreche: Wie war‘s am Dachstein? Hä?
Der Video-Clip.
Ach so. War nichts.
Wieso?
Pff. Tom breitet die Arme aus. Wo zum Teufel ist Fred?
Was macht der Film? frage ich.
Was? Ach so. - Was ist das Gegenteil von low budget?
Keine Ahnung.
No budget.
Immer diese Spielchen.Wo ist Fred? frage ich. Tom schaut mich komisch an. Tom überlegt. Wo ist das Problem?
Fred sagt - ihr habt euch getrennt.
Ihr euch.
Tom schaut mich besorgt an.
Wohnt er bei dir? frage ich.
Tom guckt in seine Tasse. Muß er erst aus dem Kaffeesatz lesen?
Bei Alexandra.
Fred und Alexandra, das hat etwas Gewaltsames. Fred und ich waren vorsichtig.
Willst du sie haben?
Tom schaut verdutzt auf die Kinokarte, die ich ihm über die Theke zuschiebe. Irgendwo wurden die Überbringer schlechter Nachrichten geköpft.
Ich schenke sie dir, sage ich. Fargo ist ein guter Film.