WANDLER, Zeitschrift für Literatur, No 29
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Christine Marendon
Lina
Lina spreizt die Finger ihrer linken Hand und presst sie auf die
sperrigen Saiten. Sie drückt den harten Holzkörper der Gitarre an
sich und zurrt mit der rechten Hand den Klang heraus. Der Lehrer legt die Stirn
in Falten. Seine gelbweißen pomadegeglätteten Haare fallen ihm über
die Schläfen. “Nicht so verkrampft, weicher, weicher”, murmelt
er und greift nach ihrem erstarrten Daumen. “Hier, hier muß der
Druck so leicht sein wie von einem Schmetterling auf einer Blüte”,
und er lächelt ein wenig dabei.
Linas Daumen wird augenblicklich schlaff und rutscht ein wenig feucht den Gitarrenhals
entlang. Sie will aber nicht loslassen, denn das lackierte Holz ist wie ein
Schild und ein Schild muß man fest halten, so als hinge weiß Gott
was davon ab.
Der letzte Ton verhallt, und der Lehrer sieht Lina an. Die Uhr tickt und Lina
senkt den Kopf. Bis hin zu diesem vergitterten Loch im Klangkörper, durch
das sie am liebsten schlüpfen würde, wenn sie nur klein genug wäre.
Aber klein ist sie ja nicht mehr, aber auch wieder nicht so groß. Nicht
so groß jedenfalls, wie es der Lehrer einmal behauptet hat, so groß
wie die schlanken Tannen im Wald. Und auch nicht so frisch wie die Rosenknospen
am Morgen. Das findet Lina nun überhaupt nicht. Sie ist keine Rosenblüte,
und wenn, dann denkt sie eher über die Dornen nach, wenn ihr der Lehrer
das Lied von dem Knaben und dem Röslein vorsingt. Seine Stimme wird dann
ganz hoch und kopflos, ja wirklich, so als ob er gar keinen Kopf hätte,
wie er da so sitzt und wimmert.
Überhaupt mag Lina keine Lieder singen. Und das von dem kühlen Grunde,
wo das Mühlenrad geht, das mag sie erst recht nicht. Sie sitzt dann wie
bemoost an diesem Bach, und das Schild nützt ihr gar nichts mehr, denn
der Lehrer hat längst ins Wasser gegriffen und schlingt seine nasse Hand
um ihren Nacken. Er tut dann so, als würde er die Noten lesen müssen,
die auf dem Papier vor Lina wimmeln wie Kaulquappen.
Die Uhr schlägt, und dies ist das Zeichen für die Hand. “Ich
muß gehen”, sagt Lina, und kann nicht in den Beutel unter dem Tisch
greifen, weil die Tropfen ihren Hals herunterrinnen und sie sie fangen muß,
bevor sie sich auf den Weg zu den Knospen machen. Eine verzwickte Lage ist das.
Denn umdrehen könnte sie sich nur ohne Schild, weil alles so eng ist und
weil der Atem sowieso schon wie Dampf in der Luft hängt, daß Lina
glaubt, sie müsse gleich ertrinken.
Sie kann erst wieder nach Luft schnappen, als sie schon den schmalen Gartenweg
entlanggeht, vorbei an den kleinen Trieben der Sträucher, die den Blick
zur Straße verdecken. Die Tochter des Lehrers steht in einem Blumenbeet
und setzt die Zwiebeln für das nächste Frühjahr. Lina geht an
ihr vorüber. Die Tochter der Tochter sitzt ein wenig entfernt auf einer
Schaukel. Lina kennt die Tochter der Tochter aus der Schule, aber sie ist noch
richtig klein und schaukelt so hoch, daß man ihre Waden von hinten sehen
kann.
Lina steht da und weiß gar nicht, was sie mit all der Feuchtigkeit anfangen
soll. Der Lehrer sitzt auf seinem Stuhl und das Schild ist ihr abhanden gekommen.
Das Schild macht gemeinsame Sache mit dem Lehrer, sie hat das schon geahnt.
Es ist wohl so, daß das Holz Minas feuchten Daumen nicht mehr ertragen
konnte und befürchten musste, in einen Zustand der Verrottung überzugehen.
Deshalb steht Lina jetzt vor dem Lehrer, der einen ganz kühlen und trockenen
Daumen hat. Der wie Löschpapier an Lina saugt und schon ganz lappig wird
von all dem Naß. Auch die Tropfen sind längst den Hals hinabgeronnen
und haben die Knospen befeuchtet, selbst die Schlüsselbeine glänzen.
Lina möchte noch die Schleusen schließen, aber es ist zu spät
dafür. Sie merkt, wie sie zerfließt und an die Konturen des Lehrers
schwappt, den sie gar nicht mehr richtig sehen kann, weil auch die Augen wie
flüssiges Glas in den See tropfen. Lina ist eine Pfütze geworden,
in der nun auch der Lehrer schwimmt, der das aber gar nicht merkt.
Der Lehrer fängt an sich zu verhaspeln. Er will kein Lehrer mehr sein. Er spielt er wäre ein Schüler. Aber Lina wird ganz streng, wenn sie merkt, daß der Lehrer nicht Lehrer ist. Denn er darf kein Schüler sein. Wenn der Lehrer nämlich ein Schüler wäre, dann würde Lina zu trockener und staubiger Tafelkreide, so spröde und porös, daß sie bei der leisesten Berührung zerbräche.
Der Weg vom Tisch zur Tür. Der Stuhl des Lehrers als Sprungbrett.
Denn wenn der Lehrer sitzt und es Lina gelingt, noch vor seinem endgültigen
Aufstehen bei der Tür zu sein, muß sie nicht vom Fünfmeterturm
springen und hat auch nicht den Ärger mit der nassen Kleidung. Wenn er
allerdings schon steht, wird die ganze Angelegenheit ziemlich kompliziert. Weil
dann muß Lina die Luft anhalten und sich auf einen Punkt in den Wellen
konzentrieren, ganz weit unten, so weit, daß auch der Sprung nichts näher
bringt. Dann weiß sie nicht, ob ihr der Sprung überhaupt weiterhilft.
Denn der geht nach unten, während Lina ja eigentlich weitspringen müsste
und das nur nicht kann, weil der Lehrer an die Schlüsselbeine brandet.
Und ihre Knöchel umspült.
Nach den Kaulquappen kommt das Fischmaul. Lina kennt diese Tiere aus dem Aquarium
des Bruders. Sie saugen sich an den Scheiben fest und lecken die Algen ab. Durch
das Glas sieht man das Innere des Mauls. Sternförmig führen fleischige
Rillen zu einem Saugloch. Wenn Lina nur lange genug hinschaut, wird ihr richtig
übel dabei, aber der Bruder findet das lustig. Wenn nun das Fischmaul kommt,
wird es Lina also schlecht und diesmal findet das der Lehrer lustig, weil sie
dann so stocksteif wird wie ein Dörrfisch. Dabei kommt das Fischmaul nur
herüber, wenn Lina falsche Töne spuckt und nicht auf ihren Daumen
aufpasst. Lina weiß nicht, wie es richtig geht. Sie weiß nicht,
wie sie das Rutschen einstellen kann und wie sie springen soll, ohne sich naß
zu machen.
Lina erkennt die Töne nicht mehr. Sie will gar keine Töne mehr hören, abgesehen davon, daß sie auch nichts mehr sieht. Sie spielt die Tonleiter immerzu falsch und muß natürlich bestraft werden. So sagt das der Lehrer. Das Fischmaul trieft und stülpt sich über Linas Lippen. Ein Quallenarm zwängt sich hindurch und Lina schwimmt mitten im Aquarium. Drinnen ist es so still wie nirgendwo. Lina klopft gegen die Scheibe. Aber da ist nur die leichte Hemmbewegung der Flüssigkeit. Lina will den Mund öffnen und rufen, aber der Quallenarm hat sich längst in die Eingeweide geschoben und verstopft die Ausgänge.
Der Lehrer ist nicht mehr. Er ist nicht mehr Lehrer. Er ist auch kein Schüler. Er hat sich in eine wollene Strickjacke verwandelt, die die Tochter des Lehrers über die Leine hängt. Lina geht auf der Straße vorbei. Die Schaukel ist leer und gondelt in der Luft. Die Frühlingsbeete sprießen und der Asphalt glänzt naß. Lina rutscht aus. Sie fällt und hört die Tochter des Lehrers lachen. Sie lacht mit dem Kind, das jetzt auf die Schaukel klettert. Linas Kleid ist voller schmutzgrauer Flecken. Die weiße Strumpfhose zerkratzt. Das Lachen wird lauter und Lina stolpert den Weg zurück.
Lina ist weiß. Sie ist ganz weiß und sonst nichts. Der Lehrer merkt nicht, daß sie weiß ist. Er bildet sich ein, daß sie rot ist und tut so, als würde er Rosenblätter von ihr abzupfen. Er zerrt und reißt, aber das Weiße kann er nicht sehen. Lina will ihm das Weiß nicht zeigen. Das Weiß ist der einzige Ton, den nur Lina hören kann. Das Rot ist innen und weil der Lehrer so tut, als ob Lina rot wäre, muß er dorthin gehen.
Lina hat das Schild zerbrochen. Die Kaulquappen trocknet sie auf
Zeitungspapier und begräbt sie im Garten. Lina ist weiß. Sie ist
ganz weiß und sonst nichts.