WANDLER, Zeitschrift für Literatur, No 29
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Mischa Lucyshyn
Briefe aus seinem Sarg
Truhenprosa
“Ich sollte schweigen, sollte vergessen und schweigen.”
F.Hölderlin
Die Chronik von Muhr, einer kleinen, Winters stets im Schatten
steil aufragender Berge fröstelnden Ortschaft, berichtet vom Tod eines
Jünglings. Er trieb sich eine Giftspritze in seinen schmächtigen Oberarm
und verstarb am Jahrtag seiner Geburt, nachdem er keuchend die engen Treppen
aus dem ersten Stock des Elternhauses vor die Füße der entsetzt hinzueilenden
Frau Mutter gepoltert war. Als Todesursache gibt man eine Schädelfraktur
in Folge des schrecklichen Sturzes an, um so den Verdacht des Suizides vom einzigen,
im Dorfmund als “Schwärmer” beargwöhnten Sohn abzuwenden
und ihm eine Begrabung neben dem Sarg seiner Geliebten zu ermöglichen,
die von einer Schneelawine verschüttet und niemals geborgen worden war.
Am Tage seiner Beisetzung folgte der Totentruhe die Schwester des zum Herrn
Getretenen und trug eine kleine, hölzerne Kiste, die das Mädel anstelle
des üblichen Blumenstraußes ihrem Bruder ins Sargloch warf. Man fragte
wohl nach dem Inhalt dieses Kistchens, aber die Schwester des Verstorbenen schwieg
stursinnig. So überwarf man die zwei Truhen mit Erde. *
Ich lege Deinen Brief, den ich nie erhalten habe, zu den bereits zerrissenen
Briefen, die allesamt mit besten Wünschen ausgestattet zu meinem Geburtstag
eingetroffen sind. Widerwärtig, widerwärtig ist mir jeder dieser Gratulationsbriefe,
sie erinnern mich daran, wie ihre Absender und Absenderinnen mich ein ganzes
Jahr lang aus ihrem Gedächtnis gelöscht haben und nur durch einen
wahrscheinlich zufällig auf ihn geworfenen Blick in ihren Kalender, den
sie stets nur aus Langeweile tun, auf die mich quälende Idee verfielen,
nun eine passende Gelegenheit gefunden zu haben, sich wieder einmal zu melden.
Mitnichten geht es ihnen darum, wie sie schreiben, sich mir erneut ins Gedächtnis
zu rufen, im Gegenteil sind sie sehr froh darüber, daß ich sie vermeintlich
vergessen hätte, aber so ist es nicht, ich habe gewartet auf ihre Briefe,
ein Jahr lang und vergeblich, um sie, da sie mich an meinem Geburtstag erreichen,
ungelesen in kleine Fetzen zu zerreißen. Nur Deinen Brief, den ich nicht
erhalten habe, werde ich nicht zerstückeln, freilich werde ich ihn ebensowenig
lesen wie all die anderen verletzenden Briefe, die Du mir nicht zukommen ließest.
In der kommenden Nacht, jener zum Jahrtag Deines Sterbens, werde ich in einer
Kiste diese Briefe, die ich Dir niemals absenden konnte, neben Deinem Sarg bestatten
und das hölzerne Kruzifix, das man in den Erdhügel über Dir eingerammt
hat, in Flammen setzen. Weinend werde ich Gott, den ich nicht glaube, fluchen
und Dich endlich vergessen.