WANDLER, Zeitschrift für Literatur, No 29

Zurück zu Titel & Inhalt von Heft 29, zur Wandler Startseite

 

Andrea Heinisch-Glück

Meller mag Melonen

Der Leistenbruch macht Meller zu schaffen. Er ist auf die Straße gegangen, wo die Sonne wirklich freundlich scheint - nicht so herunterprallt, dass es ihn direkt in den Asphalt hineindrückt, auch nicht so verquer um die Häuserecken schaut, dass ihn das Ach und Weh überkommen möchte. Nein, sie scheint in ihrer freundlichsten Manier und trotzdem zieht es Meller in der Bauchgegend wie noch nie. Er möchte umkehren. Sich in sein Bett legen, die Hände auf seine Bauchdecke legen. Mellers Leisten ist schon lange brüchig gewesen, immer weniger hat er ausgehalten, Meller hat sich extra heruntergehungert auf ein Minimalgewicht, das er jeden Morgen überprüft hat. Vorsichtigst ist er immer aus dem Bett gestiegen, Zehen, Fuß, dann langsam, langsam hat er ein Kilo nach dem anderen in die Vertikal-Schwere gebracht. Beim ersten Laut aus der Leistengegend ist er gleich wieder in die Waagerechte zurückgesunken und hat gewartet, bis er das Zuviel-Gewicht los war. Zum Bettschüsselleeren hat er eine mittelmäßig erfreuliche, aber zuverlässige Person gehabt, der er seine Lage nicht erklären hatte müssen, weil sie aus einem anderen Land gewesen ist und Mellers Sprache sowieso nicht verstanden hat. Bis der Leisten dann eben doch gebrochen ist und Meller mit Verwunderung feststellte, dass er von nun an zwar ein Ziehen mit sich herumzutragen hatte, dass sich ansonsten aber nichts verändern musste. Nur diese Person hat er entlassen, er brauchte sie nun nicht mehr. Sein Leisten ist ohnehin schon gebrochen gewesen. Nur auf das Gewicht muss er nach wie vor achten, weil dieses Ziehen zwar erträglich, aber nicht von der Art ist, dass er es in einer weiteren Steigerung erleben würde wollen. Er kleidet sich, wenn er das Haus verlassen muss, in Kleidung aus diesen neuen Materialien, die so leicht sind, dass sie eben praktisch nicht ins Gewicht fallen.
Und zuhause trägt er außer seiner Unterwäsche sowieso nie etwas. Weshalb selbst die leichteste Kleidung natürlich schon immer eine gewaltige Umstellung ist, an die es sich erst einmal einen Vormittag lang gewöhnen heißt, Stück für Stück, bevor er dann am Nachmittag endlich hinausgehen kann. Was er ganz und gar nicht tut, wenn es regnet. Das Gewicht der Wassertropfen und vor allem die Unvorhersagbarkeit ihrer Menge – dem setzt sich Meller prinzipiell nicht aus. Aber heute ist der Himmel wolkenleer, nichts wird da auf ihn herabkommen und doch zieht es ihn, als ob er in einen Wolkenbruch geraten wäre.

Eine Zeitlang hat Meller daran gedacht, sich in seinem Wohnzimmer einen kleinen Acker anzulegen. Er hat sich alle möglichen Informationen organisiert, sich direkt aus Italien auch schon Samen schicken lassen und dann hat er monatelang über den Einfallswinkel und die Einfallszeit der Sonne Buch geführt. Meller musste nämlich den eindeutig besten Standort für seinen Acker eruieren, weil das Land, in dem Meller lebt, ja eigentlich kein ausgesprochenes Melonenland ist. Genug Wasser gibt es, aber die Sonne. Die Sonne scheint einfach nicht lang und intensiv genug, damit sich so eine Melone so richtig und zu voller Größe entwickeln kann. Ja: Meller mag Melonen. Und am liebsten mag Meller diese großen, grünen Wassermelonen, die ihm in ihrer ganzen Wucht so harmlos in den Händen liegen. Dann das erleichterte Seufzen, wenn er mit seinem scharfen Küchenmesser den ersten Schnitt führt. Nicht zu vergleichen mit den wesentlich kleineren und verschrumpelten Zuckermelonen, zu denen er nur im äußersten Notfall greift. Und auch die Honigmelonen halten dem Vergleich einfach nicht stand: es müssen Wassermelonen sein und es musste ein Wassermelonenacker sein. Doch der Zufall hat es so gewollt, dass die Sonne dort am hellsten und am längsten in sein Wohnzimmer scheint, wo Mellers Tisch steht. Und den wollte er nun partout nicht verrücken. Das hätte die ganze Symmetrie seiner Einrichtung zerstört und so weit ging Mellers Liebe zu Melonen nun auch wieder nicht. Nicht, dass er nicht schwankend geworden wäre, den Tisch in Gedanken bereits dahin und dorthin verrückt hätte - schließlich hatte sich die Idee des Melonenackers in seinem Kopf ja mittlerweile direkt festgewachsen, sodass er manchmal schon als Wohnzimmer-Melonenbauer aufgewacht war.
Einmal sogar schon seine beiden Gießkannen mit Wasser gefüllt hatte und dann ganz verdattert vor seinem Tisch gestanden ist. Der Tisch. Eben. Meller hat es einfach nicht übers Herz gebracht.

Wenn Meller redet, sagt er nur einen einzigen Satz, da sagt er nämlich: “Es hängt immer alles so elendiglich zusammen”, und dann verfällt er sofort in Trübsinn. Da hockt er dann auf der Bettkante und würde in sich zusammensinken, hinderte ihn nicht die Sorge um seinen Leisten daran. Meller hat da so seine Erfahrungen. Noch von früher, wo er sehr wohl alles Erdenkliche unternommen hatte, um die Dinge voneinander zu trennen. “Damit sich da einer auskennen kann”, hat er damals noch gesagt und hat sich die Wände seiner Wohnung mit Pintafeln auskleiden lassen. Auf die hat er dann – in schönster Ordnung - seine Sachen gesteckt, was am Anfang auch ganz wunderbar funktioniert hat. Aber dann ist er bald ins Trudeln gekommen, weil er die ganze Ordnung zu großzügig angelegt hatte. Für jede Kleinigkeit hat er eine neue Pinwand angefangen und da sind ihm die Wände dann bald einmal ausgegangen gewesen. Da hat er aber sowieso schon die längste Zeit Zweifel gehabt, ob dieses dahin und jenes dorthin gehöre, ob es nicht auch ganz anders gehe, und so manches schien, wie er sich eingestehen musste, an mehrere Plätze zu gehören. Da Meller zu dieser Zeit noch recht wohlhabend war, konnte er Abhilfe schaffen, indem er einkaufen ging: Er kaufte sich alles, über dessen Zuordnung er sich nicht sicher war, in mehrfacher Ausführung. Das war gerade in der Zeit, in der die Familienpackungen in Mode gekommen sind, was ihm natürlich ausnehmend gelegen gekommen ist, aber möglicherweise auch dazu beigetragen hat, dass das eine Problem zwar gelöst, aber ein anderes, ein viel größeres geschaffen worden ist, nämlich das Mengenproblem. Mellers Wohnung quoll in kürzester Zeit über und über, Meller kam einfach nicht mehr dazu, seine Einkäufe aufzustecken und manchmal wusste er nicht einmal mehr, warum es bei der Zuordnung des einen oder des anderen überhaupt Zweifel gegeben hatte. Der Zustand, in dem sich seine Wohnung befand, begann ihn zu bedrücken, weshalb er sich auferlegte, sie erst dann wieder zu verlassen, wenn alles, das da so kreuz und quer herumlag, fein säuberlich an der ihm zustehenden Wand hing. Das war eine Höllenarbeit – es kann durchaus sein, dass damals der Grundstein zu Mellers späterer Leistenschwäche gelegt worden ist – und zu Mellers Entsetzen entpuppte sich das Ganze dann auch noch als sinnlos. Als er nämlich endlich fertig war und alle Sachen an ihrem Platz hingen, ähnelten die Pinwände einander so sehr, dass es erst recht wieder eine Anstrengung war, ihre Ordnung zu erkennen. Ein paar Tage spielte Meller noch mit dem Gedanken, sie mit erklärenden Titeln zu versehen, aber schon bei den ersten Überlegungen in diese Richtung erkannte er die Sinnlosigkeit auch dieses Unterfangens. Er hätte ja praktisch Romane zu einer jeden Wand schreiben müssen und da wäre ja wieder nichts mit einem Auf-Den-Ersten-Blick-Erkennen gewesen. So hat Meller schließlich aufgegeben.
Obwohl Meller mit gesenktem Kopf dahinmarschiert - er muss sich auf jede Bewegung konzentrieren, das Ziehen ist noch stärker geworden -, ist ihm Marie nicht entgangen. Der leichte Wind, der trotz des schönen Wetters geht, hat ihm ihren Geruch zugetragen. Er hebt seinen Kopf und sieht sie da auch wirklich vor sich stehen. Meller kriegt Gefühle. “Hallo Meller!”, redet sie ihn an, als ob sie nicht nachtaus nachtein mit ihm in einem Bett gelegen wäre. Früher. Es zieht ihn heftig, aber er bleibt stehen und hört sich die letzten Unglaublichkeiten ihres neuen Mannes an. Meller hat nämlich immer schon gut zuhören können und Marie hat das immer schon an ihm gemocht. Er kriegt ganz dunkle Augen und sie ruft zum dritten Mal: “Ach Meller!” Es zieht ihn immer heftiger, das Stehen tut seinem Leisten ganz und gar nicht gut, er steigt ganz klein von einem Fuß auf den anderen, damit Marie es ja nicht bemerkt, und sagt: “Es hängt immer alles so elendiglich zusammen.” “Ach Meller!”, ruft da Marie zum vierten Mal aus und Meller wünscht sich in seine Wohnung zurück. Doch sie überschüttet ihn mit weiteren Details der Untaten dieses anderen Mannes. Sie brechen direkt aus ihr heraus und brodeln auf Meller herum, der sich nun ein wenig heftiger zu bewegen beginnt, um sie abzuschütteln – ist doch auch sein heutiges Ausgeh-Gewicht aufs Genaueste ausgetestet und verträgt keine Aufstockung. Irgendwann einmal ist Marie dann fertig und sagt zum fünften Mal: “Ach Meller!”, der gerade wieder einmal am Schütteln ist. “Du hast es eilig? Entschuldige, dass ich dich so lange aufgehalten habe, aber ....”, und so geht es noch eine kleine Weile weiter, bis sie ihm zum Abschied zuwinkt, schon ein paar Schritte von ihm entfernt. Sie hat es nämlich auch eilig und sollte schon längst ganz wo anders sein. Sie riecht immer noch nach Marie. Unvorstellbar, denkt Meller, wenn sie sich ihm zum Abschied womöglich auch noch hinaufgehängt hätte. Da wäre er glatt eingegangen. Im Weitergehen lässt das Ziehen in der Bauchgegend nach.

 

Andrea Heinisch-Glück

Karlinde

“Die Spinne war völlig hinüber, als sie endlich fertig war, und fertig ist sie nur geworden, weil es da diesen Kontrakt gab, den sie nicht brechen konnte. Das ist mein Glück gewesen”, flüstert Karlinde ihrer Freundin zu, als ob es sich um ein ganz außergewöhnliches Geheimnis handelte, ja als ob es das Geheimnis schlechthin wäre.
Karlinde gießt Kaffee nach.
“Wundere dich nicht über mein Aussehen, das muss so sein. Mich stört es kein bisschen. Schau lieber aus dem Fenster, siehst du die vielen Fäden?”
Karlindes Freundin kann keine Fäden entdecken.
“Da musst du schon ein wenig genauer schauen und müsstest wahrscheinlich auch kurz vor dem Dämmern oder vielleicht am Morgen kommen, wenn die Sonne schief in das Gewirr hineinscheint. Da kann sogar ein Blinder sehen, wie vom Fenster aus die Fäden über die ganze Stadt laufen.” Karlinde wird lauter.
“Die Sache ist die, dass ich es leid geworden bin, meine Haut andauernd herumzutragen. Das geht einem auf Dauer an die Substanz. Deshalb habe ich mir schon vor Jahren angewöhnt, sie immer wieder einmal abzulegen. Natürlich ist dir das nie aufgefallen, weil ich sie immer fein säuberlich auf einen Kleiderbügel hängte, trug ich sie nicht am Leib. So war sie auch nicht das kleinste bisschen zerknittert, wenn ich sie mir wieder überzog.”
Karlinde macht eine Pause und fährt – wieder leiser geworden – fort. “Irgendwann einmal, da war der Kontrakt mit der Spinne bereits geschlossen, verließ mich die Lust, meine Haut wieder anzuziehen, vollkommen. Ich sah sie an, wie sie dahing, und schlüpfte einfach nicht mehr in sie hinein. Sollte sich doch jemand anderer damit abplagen.” “Und die Fäden?”, die Freundin sucht immer noch die Luft ab. Von welchen Fäden da jetzt die Rede ist? - Karlinde hat sich so zurückerzählt, dass sie einen Moment lang gar nicht weiß, was die Freundin von ihr will. Sie habe doch bereits alles erzählt, will sie gerade sagen, doch dann erinnert sie sich wieder.
“Ach ja, die Fäden. Die sind von der Spinne. Als sie nämlich mit dem Spinnen fertig war – wohin ich auch geschaut habe, überall hing ein Faden -, hängte ich den Kleiderbügel samt meiner Haut auf einen von ihnen und stieß ihn an. Den Grund dafür kann ich dir jetzt wirklich nicht nennen. Wer weiß, ob es dafür überhaupt einen Grund gab, in jedem Fall war der Faden stark genug und konnte den Kleiderbügel mit meiner Haut tragen. Diese Spinnenfäden halten ja allerhand aus. Und auch mein Anstoß war nicht von schlechten Eltern, er hat den Kleiderbügel mit meiner Haut in einem der Spinnennetz-Viertel nur so herumfahren lassen. Und das, das weiß ich jetzt aber genau, das mich amüsierte mich ungemein, was dann der Grund war, dass ich mir von der Spinne ein ganz besonderes Netz spinnen ließ. Eines, dessen Fäden den Kleiderbügel mit meiner Haut über die ganze Stadt ziehen lassen konnte. Ohne Behinderung. Da war es mir nämlich bereits langweilig geworden, meine Haut in nur dem einen kleinen Spinnennetzteil herumziehen zu lassen. Weiter wollte ich sie, über die ganze Stadt sollte sie ziehen. Selbst für eine Spezialistin wie die Spinne war es schwierig, ein Netz zu spinnen, das den Kleiderbügel mit meiner Haut ohne festigende Zwischenfäden tragen konnte.”
Die Freundin rutscht unruhig auf dem Fensterbrett herum.
“Das Netz hat den Kleiderbügel mit meiner Haut auch wunderbar getragen und ich ließ ihn wohl hundert Mal über die Stadt fahren. Jedes Mal ist er samt meiner Haut wieder zurückgekommen. Heil zurückgekommen.” Karlinde holt Atem.
“Heute weiß ich, dass das eine reine Glückssache war, es muss wohl immer gerade der richtige Wind gegangen sein, der Wind, der mir meine Haut wieder zurückgeweht hat, der Wind, der jetzt schon ziemlich lang nicht mehr geht.”
Die Freundin zündet sich eine Zigarette an. Sie inhaliert langsam den ersten Zug, während sie einen verschämten Blick aus dem Fenster wirft. “Meine Haut ist verschollen. Hängt an irgendeiner Stelle herum und kommt nicht vom Fleck. Der Wind, der fremde, hat sie irgendwo hingeweht, wo sie nicht mehr zurück kann, womöglich ist sie irgendwo hängen geblieben, zerrissen gar. Am schlimmsten natürlich, wenn sie vom Kleiderbügel heruntergerutscht und am Boden gelandet wäre.”
Karlinde hält ihr Gesicht ihrer Freundin abgewandt und redet in die Richtung dieses Fadengespinstes, das die Freundin immer noch nicht sieht, hinaus.
“Wenn sie am Boden gelandet ist, dann ist ohnehin alles zu spät, aber wenn nicht? Ich hätte mir gedacht, ich denke mir, weil du doch die Letzte bist, du weißt schon, die letzte meiner Freundinnen, ob du mir meine Haut nicht suchen gehen könntest. Du siehst ja selbst, dass ich nicht auf die Straße gehen kann, und es ist so, dass mir meine Haut sehr fehlt. Bei mir haben will ich sie wenigstens und anschauen können. Karlindes Freundin hat fast auf ihre Zigarette vergessen, und als sie ihr wieder einfällt, traut sie sich nicht, an ihr zu ziehen. So wirft sie sie kurzerhand aus dem Fenster.
“Um Himmels willen!”, ruft Karlinde entsetzt, und jetzt kann auch Karlindes Freundin sehen, wovon Karlinde gesprochen hat. Die Fäden der Spinne haben auf die Glut der Zigarette wie Zündschnüre reagiert: für kurze Zeit liegt ein feingliedriges Lauffeuer über der Stadt. Karlinde sinkt vor dem Fenster zu einem Häufchen zusammen und hört nicht mehr, wie die Freundin sagt, dass alles wieder gut werden würde, weil sie nämlich einen ausgezeichneten Chirurgen kenne, der gerade für seine Hauttransplantationen berühmt sei. Dass das nämlich Hauttransplantationen seien, bei denen praktisch keine Narben zurückblieben. Und dass an die Operation erinnern würde, hätte Karlinde sie einmal erst hinter sich.