WANDLER, Zeitschrift für Literatur, No 29

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Jörg Blohut

Hotz hat Appetit auf Meeresfrüchte

Hotz könnte eine Pflanze sein. Dann stünde er womöglich auf dem Fensterbrett und hielte seine blassen ausgezehrten Zweige in das Licht eines dämmrigen Tages. Ich stelle mir vor, daß eine Frau mittleren Alters mit gütigem Blick seine Blätter nach Läusen absucht und welke Stellen herausschneidet. Fast vergesse ich, Hotz über seine Empfindungen zu befragen. Es ist völlig klar, daß ich das ohne weiteres könnte. Und ich bin sicher, daß er mir antworten würde. Das wäre keine Schwierigkeit für ihn, denn als Pflanze lebt er nur in meiner Vorstellung, die ich allerdings mit vielen teile. In Wirklichkeit sitzt Hotz mit mir in einem italienischen Lokal. Er hat Muscheln bestellt, die in dieser Jahreszeit besonders frisch sind. Eine riesige Schüssel aus Edelmetall steht abtropfend vor ihm und er läßt sich noch eine Schale Pommes frittes kommen. Hotz nickt mir auffordernd zu. Das heißt, ich kann mir einige Muscheln nehmen, er hat nichts dagegen. Dann fängt Hotz an zu essen. Die Leute am Nachbartisch wenden sich angewidert ab. Er schiebt seinen Zeigefinger zwischen zwei leere Muschelschalen und fährt damit zwischen den Muscheln herum. Wenn er eine Muschel zu fassen bekommt - er bedient die Schalen mit Mittelfinger und Daumen wie eine Zange - saust sein Gesicht ruckartig nach vorn, seine Lippen öffnen sich schmatzend und die Muschel verschwindet in seinem Mund. Die leeren Schalen wirft er achtlos auf einen Teller. Maul hat Hunger, es geht alles sehr schnell und seine Bewegungen sind abgehackt und zielsicher. Dazu trinkt Hotz einen weißen Bordeaux, wobei er auf das Couleur großen Wert legt. Einen roten Bordeaux kann nämlich jeder trinken, der Geld hat. Aber Hotz ist Kenner. Er fährt mit seiner freien Hand - also die, mit der er nicht die Zangenmuschel hält - in die Schüssel voller Pommesfrites und schiebt sich eine reichliche Portion in den Mund. Er kaut und winkt der Bedienung nach neuem Wein, denn sein Glas ist leer, er hat es eben geleert und reden kann er nicht, weil die Pommes frittes noch seinen Mund verstopfen und der Bordeaux ihm aus den Mundwinkeln rinnt. Seine Backen blähen sich auf und die Augen werden immer kleiner, er kaut noch an den Pommes frittes und ich zweifle nicht, dass er glücklich ist.
Die Leute vom Nebentisch haben sich beschwert. Der Wirt steht betreten vor uns und schaut uns an. Er möchte uns als Gäste nicht verlieren, besonders Hotz nicht, der sehr spendabel sein kann und seine Rechnungen großzügig begleicht. Hotz hat seinen Wein bekommen und kaut auf mehreren Muscheln, die er sich blitzschnell in den Mund geschoben hat, wobei er von seinen Muschelschalen virtuos Gebrauch macht. Er wirft mit einer lässigen Geste einige Tiere auf den Teller, der vor mir steht. Sie sind für mich. Der Wirt legt noch zwei Zitronenviertel dazu, wodurch mein Teller gewissermaßen geadelt wird. Hotz legt auf solche Nebensächlichkeiten keinen Wert. Dennoch biete ich ihm eins meiner Zitronenviertel an, das er aber wie erwartet ablehnt.
Der Wirt bringt Hotz eine Stoffserviette. Hotz kann gerade nicht sprechen, er hat einen kräftigen Schluck Wein genommen und muß darauf achten, dass ihm der Wein nicht auf seinen Anzug tropft. Er hält eine Hand diskret vor den Mund, weil die Muscheln herauszuquellen drohen. Mit der anderen legt er die Serviette auf seinen Schoß und streift sie mühsam glatt.
Ein Mann vom Nebentisch baut sich anklagend vor Hotz auf. Er hebt sein Jackett und zeigt auf eine Reihe grüner Punkte auf seinem Hemd, die wie Spritzer aussehen. Auf dem Tischtuch vor Hotz sieht man ähnliche Punkte. Ich nehme an, daß es sich um Petersilie handelt, obwohl sich Hotz aus Petersilie nichts macht. Hotz blickt interessiert. Er sieht sich den Fremden genau an. Es ist klar, was er denkt. Es hätte jeden treffen können. Der Wirt ruft nach zwei Kellnern. Sie heben Hotz hoch und setzen ihn auf einen Servierwagen. Hotz protestiert und ruft nach Gerechtigkeit. Er ist noch lange nicht satt. Der Wirt beruhigt den Mann mit den Petersilieflecken und führt ihn an seinen Tisch zurück. Er spendiert eine Runde Grappa für alle.
Hotz protestiert noch immer. Die Kellner schieben Hotz hinter einen Vorhang und stellen ihn ans Fenster. Später sitze ich beim Wirt und will mit ihm abrechnen. Der Wirt weigert sich. Nie würde er Geld von mir nehmen. Und auch Senor Hotz würde ihm das nie verzeihen. Schließlich war ich sein Gast.