Wandler Zeitschrift für Literatur No 27
Zurück zu Titel & Inhalt von Heft 27, zur Wandler Startseite
Marco Serbanescu
In der Bucht
Das Fjord schlang sich immer tiefer ins Land, bis dieses an der
Flanke abbrach und den Blick auf ein Fischerdorf freiließ, etwa fünfhundert
Meter entfernt in einer weiteren schmalen Bucht gelegen. Zahlreiche kleine bunte
Holzhäuser standen dort ungeordnet über den Küstenstreifen verteilt,
nur von Meer und Bergen umgeben, die in schroffen Felsen fast senkrecht zum
Wasser hin abfielen. Manchmal blitzte die Sonne zwischen den Bergspitzen hervor
und glänzte im Wasser. Regungslos lag es in der Bucht. Wenn sie wieder
verschwand und man über das Dorf hinwegsah, gewahrte man tief in der Bucht,
hinter einem mächtig aufragendem Küstenarm, ein zweites, weiter entferntes
Dorf inmitten einer Schlucht, über der sich die Wolken wie Nebel sammelten.
Carin stand am Bug des Trawlers, der sie von Skundeneshavn hierher brachte.
Der junge Mann erklärte dem Fischer, der das Boot steuerte, er könne
sie vorne am ersten Steg absetzen, damit sie den Rest zu Fuß gehen konnten.
Danach stellte er sich neben das Mädchen an die Reeling. Die Bucht war
ganz leer, und das Tuckern des Bootes hallte von den Bergen rings um sie wider.
Die Sonne blendete zuweilen, da der Kurs genau auf sie zu ging. Und du meinst,
daß unser Gepäck schon da ist? fragte sie. Natürlich. Und wenn
nicht? Sie sah ihn an. Mach dir keine Sorgen.
Er sah sie nicht an, als er sprach, sondern schaute weiterhin zum Dorf hinüber.
Er versuchte, das Fjord zu überblicken, das hinter einem Bergmassiv tiefer
ins Land führte. Doch weil die Sonne jetzt ganz hinter den Bergen aufgestiegen
war. wurde er von ihr geblendet, und er konnte das zweite Dorf nicht sehen.
Der junge Mann und das Mädchen kletterten, nachdem sie einen
Moment vom Ausblick, der sich ihnen darbot, gefesselt worden waren, hinab. Sie
zogen ihre Schuhe aus und mußten sich die ersten Meter an der Küstenwand
abstützen, um nicht auf die darunterliegenden Felsen zu stürzen. Er
hielt sie jetzt an der Hand. Er hielt ihre Hand ganz fest. Er spürte, wie
auch ihr Händedruck sich verstärkte, und es machte Spaß, so
zu zweit hinabzuklettern. Als sie von den Felsen den Strand betraten, fühlten
sie, wie warm der Sand war. Der junge Mann faltete die Hosenbeine ein wenig
hoch, und sie spazierten den Strand entlang, dicht am Wasser. Etwas außer
Atem? fragte er. Ja, etwas.
Er küßte sie und blickte über die Bucht zu den Fischerbooten
hin. Er dachte daran, daß er gerne einmal das gesamte Fjord durchfahren
würde. Sie könnten ganz weit hineinfahren und sich dort draußen
treiben lassen, dachte er. Und er dachte daran, wie sie danach auf der Terrasse
eines Gasthauses Lachs essen könnten oder Flußkrebse mit Dill und
währenddessen den Fischern dabei zusehen, wie sie unten an der Mole ihre
Netze säuberten, nachdem sie zurückgekehrt waren.
Der junge Mann blickte sich um, und dann betrachtete er sie. Sie war wunderschön.
Sie war das schönste Mädchen, das er je kennengelernt hatte. Aber
es war nur eine erotische Schönheit, keine, die ihm erlaubt hätte,
sich in sie zu verlieben, fortwährend war ihm bewußt, daß eine
Fremdheit, eine Distanz zwischen ihnen bestehen bleiben würde, an der sie,
früher oder später, scheitern mußten. Er fühlte sich machtlos.
Was war das für eine Anziehung, die sie auf ihn ausübte? Sie hielten
sich noch immer bei den Händen, und der junge Mann sah hinüber zum
Dorf und den Segelbooten und den Häusern mit den gelb und braun und rot
gestrichenen Holzverschlägen und den nah am Strand geankerten Ruderbooten,
deren Planken glatt waren und hell in der Sonne, und er wünschte, er wüßte,
was er tun sollte.
Ihr Zimmer befand sich ganz am Ende des Korridors in der zweiten Etage eines
Gasthauses, das das einzige im Ort war. Es hatte einen Balkon, von dem herab
man nahezu die gesamte Bucht überblicken konnte. Draußen, vor dem
Gasthaus, führte ein Pfad zur Anlegestelle hinab, wo einige Männer
gerade dabei waren, ein Boot für die morgige Ausfahrt aufzutakeln. Carin
öffnete die Balkontür und beobachtete die Männer am Anlegeplatz.
Der Ort spiegelte sich von ihrem Standpunkt aus gesehen im Wasser, das in der
Bucht lag. Wir könnten zum Strand gehen und baden! Vielleicht heute mittag,
meinte der junge Mann, der schreibend am Tisch saß.
Das Mädchen stand noch einige Zeit an der Balkontür und sah hinaus.
Schließlich betrat sie den Balkon und lehnte sich an das gußeiserne
Gitter, und der junge Mann schrieb noch immer. Hast du etwas dagegen, wenn ich
zum Strand gehe? hörte er sie von draußen. Ich möchte etwas
spazieren. Während der junge Mann schrieb, schüttelte er bloß
den Kopf. Schließlich sagte er: Nein, geh nur, wenn du möchtest.
Sie kam ins Zimmer, ging zum Tisch und blieb hinter dem Schreibenden stehen.
Oder wollen wir frühstücken? Wir könnten uns einen Picknickkorb
mitgeben lassen und uns einen versteckten Platz in der Bucht suchen und dort
frühstücken.
Sie blieb eine Weile hinter dem jungen Mann stehen, ehe sie sich vor den Spiegel
stellte, der neben dem Bett hing. Sie betrachtete sich darin. Sollen wir? sagte
sie.
Wir haben doch schon gefrühstückt, bemerkte er. Ja, aber das ist schon
lange her. Pause.
Wie du willst, sagte der junge Mann. Ungeachtet dessen schrieb er weiter. Das
Mädchen setzte sich aufs Bett und schaute in den Spiegel. Dann verschwand
sie unter der Dusche, die Tür zum Badezimmer offen gelassen, so daß
man im Zimmer das Plätschern des Wassers hörte.
Du wolltest ihnen doch sagen, daß kaum Wasser aus der Dusche kommt, hörte
er. Aus dem Wasserhahn auch. Es tröpfelt ja nur. Warum denn? Mir reicht,
was rauskommt, antwortete er. Sie sagte nichts, wahrscheinlich hatte sie ihn
gar nicht gehört. Nach einer Weile legte der junge Mann den Stift nieder.
Er ging hinunter ins Gasthaus, um die Wirtin zu bitten, ihnen einen Picknickkorb
zu packen, damit sie irgendwo draußen frühstücken konnten.
Was wollen Sie, das ich einpacken soll? fragte sie. Der junge Mann wußte
es nicht. Ihm lag nichts daran, jetzt ein Picknick zu machen, aber er konnte
wohl nicht mehr zurück. Ist ganz gleich, sagte er.
Die Wirtin versprach, ihnen ein herrliches Frühstück mitzugeben. Der
junge Mann bedankte sich und kehrte aufs Zimmer zurück. Nachdem er zum
Balkon gegangen war und einen Blick nach draußen geworfen hatte, ließ
er sich aufs Bett fallen, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Ja, er
war sehr müde. Er hörte, wie das Mädchen das Wasser abdrehte
und aus der Kabine kam. Durch die offene Balkontür drangen die Stimmen
der Männer unten am Steg. Der junge Mann atmete tief und ruhig, die Augen
hatte er geschlossen, und er dachte an den Brief, den er schreiben wollte und
der ihm nicht gelang. Er würde ihn wegwerfen müssen. Er würde
versuchen, ihn zu Ende zu schreiben und dann wegwerfen, falls er nicht doch
noch eine andere Richtung bekam. Die Umgebung änderte nichts, obgleich
er es vielleicht gehofft hatte, Nichts hatte sich dadurch verändert. Als
das Mädchen ins Zimmer kam, trocknete es sich mit zur Seite geneigtem Kopf
das lange Haar. Hast du unten schon Bescheid gesagt? fragte sie. Ja.
Sie, sie warf das Handtuch neben den jungen Mann aufs Bett und stellte sich,
stellte sich nackt vor den Spiegel. Er hatte die Augen wieder geschlossen und
schwieg. Seine Brust hob und senkte sich, sonst war keine Regung festzustellen,
einen Moment glaubte sie, er wäre eingeschlafen. Es klopfte an die Tür.
Ja!
Es war die Stimme des Mädchens. Sie hatte sich das Handtuch notdürftig
umgeworfen. In der Tür stand der Sohn der Wirtin, er war etwa fünfzehn
Jahre alt.
Ich soll den Korb bringen, stammelte er, wie er sie, halbnackt, vor sich stehen
sah.
Der junge Mann blieb im Bett liegen, während sie den Korb entgegennahm.
Sie bedankte sich, und der Junge verschwand. Er öffnete die Augen und setzte
sich auf die Bettkante.
Sie blieben stehen und schauten aufs Meer, das in der Bucht lag, grün und
verlassen. Die Bucht war von den sie umgebenden Bergen fast gänzlich in
Schatten getaucht, und die Stimmen des Mädchens und des jungen Mannes wurden
von einem Echo, das die Bucht durchzog, beantwortet.
Sie streiften ihre Schuhe ab, gingen durch den Sand, wo sie einige Muscheln
aufsammelten, und ließen sich in der Mitte der Bucht, wo ein Streifen
Sonne auf dem Sand lag, dicht am Wasser nieder.
Das Meer sieht so klar aus! sagte sie. Sie lehnte sich zurück, stützte
sich auf die Arme, den Kopf zurückgeneigt. Die Augen geschlossen. Er saß
neben ihr und sah hinaus in den Horizont. Da sah er sie an. Noch immer hatte
sie die Augen geschlossen. Schön, daß es hier so ruhig ist, sagte
sie. Er sagte nichts. Sie öffnete die Augen und sah ihn an. Was meinst
du, sagte sie, wollen wir schwimmen? Wir haben keine Badesachen. Dann schwimmen
wir eben so. Nackt?
Warum nicht? Es sieht uns hier doch niemand, oder? Wie verwirrt er plötzlich
war. Da war es also wieder, sie war schon ein Luder!
Ich weiß nicht, wollte er sagen, er stotterte es nur. Sie erhob sich und
musterte ihn abwartend. Na, ich gehe ins Wasser! erklärte sie. Und sie
zog sich die Hose aus, knöpfte die Bluse auf und warf beides neben den
Picknickkorb in den Sand. Nun los, sei kein Spielverderber!
Ach, er fühlte sich wie ein kleines Kind! Eine Zeitlang stand sie ihm so
gegenüber, bevor sie sich auch die letzten Kleidungsstücke abstreifte,
sich umdrehte und ins Wasser lief. Er sah, wie sie untertauchte, etwas weiter
draußen an die Oberflache kam und sich das Haar zurückstrich. Sie
wandte sich ihm zu. So komm schon! rief sie. Das Wasser ist herrlich! Er war
noch unschlüssig. Endlich entkleidete er sich und folgte ihr, die anfängliche
Kälte jagte ihm einen Schauer über die. Haut, doch dann war es ganz
angenehm, und er tauchte unter, stieß sich mit Armen und Beinen kräftig
ab und ließ sich regungslos vorwärtsgleiten, bis er nach kurzer Zeit
wieder an die Oberfläche trieb. Herrlich, stimmts? rief sie ihm zu. Stimmt,
gab er zu.
Sie schwamm ihm entgegen, wobei sie sich für eine Sekunde berührten,
als sie an ihm vorbeischwamm. Es war ein sehr schönes Gefühl. Das
Wasser glitzerte in der Sonne und bewegte sich leise und roch ganz frisch. Er
blickte ihr nach, während sie ans Ufer schwamm. In Ufernähe, wo das
Wasser niedrig genug war, um darin stehen zu können, da ragten ihr Brüste
über den Wasserspiegel. Er stand vor ihr, nur von einer Handbreit Wasser
von ihr getrennt. Plötzlich spürte er: wie ihre Hände seine Hüften
umschlangen und an sich zogen. Ihre Schenkel berührten die seinen, und
ihre Lippen schürzten sich, und sie küßte ihn lange und wortlos.
Sie faßte seine Hand und führte ihn zum Ufer, wo sie sich niederlegten.
Ihre Brüste preßten sich an ihn, warm und geschmeidig; naß
lag ihr Haar auf seiner Brust. Sie beugte sich über ihn, um ihn mit den
Lippen zu berühren. Sie atmete heftig, ihre Finger glitten seinen Rücken
hinauf und gruben sich in sein Haar. Ihm schien die Fähigkeit abhandengekommen,
sich zu wehren, ihre Hemmungslosigkeit steckte ihn an wie eine Krankheit. Ohne
etwas zu sagen legte sie sich zurück und zog ihn über sich, die Beine
angewinkelt, seine Taille umfassend, ihre Fingernägel in seine Schulter
gekrallt, und sein Herz schlug wie wild, und da ist auch dieses andere Schlagen,
das ihres Herzens, und das Schlagen mischt sich, und sein Herz bedeckt ihren
Hals, ganz wie von selbst, und der Druck ihrer Schenkel wird kräftiger,
und er fühlt ihren Atem auf seinem Gesicht. Herrgott, was soll das?
Danach legte er sich zur Seite und starrte in den Himmel hinauf. Man sah nur
den Himmel und die Sonne und ein paar Wolken, die vorbeizogen. Er spürte,
wie sich ihre Hand unter seine Schulter schob. Sie lagen nebeneinander da und
blickten hinauf in den Himmel, wo eine Möwe, ganz weit weg, ihre Kreise
durchs Blau zog. Er lag da und fühlte sich sehr allein.
[Titel & Inhalt Heft 27] [Titel & Inhalt Heft 29] [Wandler Startseite] [top]