Wandler Zeitschrift für Literatur No 27
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Frank Randa
Im Bienenhaus
Im Fremdenführer der kleinen Stadt hat es keine Erwähnung
gefunden. Dabei lag es am Ufer eines kleinen Sees und an seinen Gestaden fällt
es nicht schwer, romantische Stimmungen zu modulieren. Das Bienenhaus. So nennt
sich das städtische Waisenhaus für minderjährige Mädchen,
gegründet von drei Schwestern, die es sich zur Aufgabe gestellt hatten,
der elternlosen Insassenschaft familiäre Defizite durch Erziehung zu Fleiß,
Arbeit und Tugend zu ersetzen. Allerdings rechnete sich das Geschäft mit
der blutsverwandschaftlichen Nachlaßpflege toter Eltern nur insofern,
daß es unterm Strich für alle reichte und niemanden übervorteilte.
So wurden die drei Schwestern durch ihr Erziehungskonzept weder reich noch berühmt,
der Umgang mit den Mädchen wurde nicht besonders liebevoll oder besonders
streng gehandhabt, was in der Konsequenz dazu führte, daß sich das
Bienenhaus ins graue Einerlei des Kleinstadtalltags farblich so passend einfügte
wie der Staub der Straßen. Eine kleine Besonderheit gab es freilich doch:
Das war die Rolle des männlichen Geschlechts. Hier wurde die Männerwelt
keineswegs verteufelt, das nicht, A B E R die Existenz einer solchen wurde schlichtweg
ausgeblendet. Dies fiel leicht, weil allen Mädchen, die hier Aufnahme fanden,
dies geschah, bevor sie denken konnten und später das Heim wieder verließen,
ehe sie es richtig gelernt hatten. Es mutet an wie eine abgedroschene Groschenheft-Saga,
dennoch wurde von einigen Mädchen erzählt, die, als sie in die Welt
entlassen wurden, völlig konsterniert die Tatsache zur Kenntnis nehmen
mußten, daß es menschliche Wesen gab, die sich in Anatomie und Wesenszweck
nicht unerheblich von der weiblichen Daseinsform unterschieden.
Männliche Unterstützung war hier auch nicht von Nöten, da alles,
was an Arbeiten in Haus und Garten anfiel, früher oder später durch
die geballte Arbeitskraft der hier zu betreuenden Mädchenschaft bewältigt
wurde. Was ein Mann mit seiner Kraft zu bewegen verstand, wurde hier mit Zeit
und Beharrlichkeit erledigt.
Jedoch wie fast jedes Prinzip durch gewisse Umstände eine Durchbrechung
erfahren kann, fügte es sich, daß auf das weibliche Monopol im Hause
zugunsten eines Großneffen der drei Schwestern, der hier Hauslehrer werden
sollte, eine Hypothek aufgenommen wurde. Die Belastung, ein solches Haus zu
führen, ließ sich, auch wenn drei Schwestern den ganzen Tag mit nichts
anderem beschäftigt waren, auf Dauer mit den Anforderungen eines modernen
Schulbetriebes nicht vereinbaren.
Hieraus nun auf einen Sinneswandel der drei Schwestern zu schließen, wäre
indes verfehlt. Folgende Vorzüge sprachen für den jungen Mann, in
deren Anbetracht die Erweiterung der weiblichen Domäne um eine männliche
Person hingenommen werden konnte. Zu allererst zählte, daß es sich
hierbei um jemand handelte, der über einen oberhalb des persönlichen
Bedarfs liegenden finanziellen Spielraum verfügte und bereit war, andere
selbstlos davon teilhaben zu lassen, und ein Kinderheim bietet immer Gelegenheit
für altruistische Investitionen. Schließlich verbrachte er seine
Jugendjahre in einem Laienkloster, das ihm zu einer Bildung verhalf, die an
keiner Schule der Welt zu erlangen gewesen wäre, er sprach neben Latein
mindestens drei weitere Sprachen, davon war eine außereuropäisch,
was ihn den drei Schwestern zusätzlich empfahl. Und letzten Endes gab den
Ausschlag für seine Anstellung, daß seine äußere Erscheinung
im völligen Mißverhältnis zu seiner inneren Schönheit stand.
An diesem Menschen mußten tausend Götter und tausend Teufel einen
unentschiedenen Kampf ausgetragen haben. So verschwenderisch wie ihn die Natur
mit ihren Geistesgaben ausgestattet hatte, genauso launenhaft ging sie mit seinem
Körper um. Er hatte eine geradezu schrille Stimme, die aus einem eingedellten
Brustkorb gepreßt wurde, feuerrotes, in keine Frisur zu bändigendes
Haar auf einem Kopf, der sich in zwei ungleiche Hälften aufteilte und der
unmittelbar zwischen zwei verwachsenen Schultern auf einem verkrümmten
Rückgrat saß. Eine Erscheinung also, die von weitem an einen uralten
Greis und beim Blick in sein Angesicht an die Begegnung mit Luzifer erinnerte.
Einen besseren Partner, der die Teilhaberschaft in Sachen Bildung in diesem
Mädchenpensionat übernahm, konnten sich die drei Schwestern mitnichten
wünschen. Denn auch, wenn es im pubertären Mädchenalter hin und
wieder zu Gefühlsverwirrungen kommen sollte, nie würden sie derart
entgleisen, Liebesbande zu diesem ungestalten Krüppel zu knüpfen.
Und auch umgedreht war der Großneffe viel zu klug, als daß er die
Erwägung, eines der reiferen Mädchen könnte an seinem tumben
Körper nur die Spur eines Wohlgefallens finden, ernsthaft in Betracht zog.
Eines der reiferen Mädchen war Sabine. Sie war mit sechzehn Jahren nicht
nur das älteste Kind, sondern sie bewohnte das Heim auch am längsten
von allen. Sabine war sie ein echtes Findelkind, denn eines morgens fand eine
der Schwestern vor dem Gartentor einen abgestellten Korb mit einem Säugling.
In Anlehnung an die Benennung des Waisenheims wurde das Mädchen auf den
Namen Sabine getauft und lebte seitdem hier.
Auf ihrem Lebensweg wuchs sie in die Notwendigkeiten dieser Anstalt hinein,
so wie sich ein edler Wein an die Wandungen seines Gefäßes schmiegt.
Fast schon konnte man sie als vierte Mutter im Bunde mit den drei Schwestern
zählen.
Sie war von einer so bezaubernden, schlichten Schönheit und strahlte in
ihrer Anmut so viel menschliche Wärme aus, daß die drei Schwestern
ihr als Namen passender den von Madonna oder wenigstens Maria hätten geben
sollen. Doch das wußte Sabine nicht, denn sie hatte nie die Gelegenheit
gehabt, Schönheit als Wert zu empfinden.
Es war also nur selbstverständlich, daß ihr die zusätzliche
Aufgabe zukam, dem Großneffen bei Verrichtungen in seinem Haushalt behilflich
zu sein. Er hatte sich mit seiner Bibliothek etwas abseits in einer stillgelegten
Baracke als sein Domizil niedergelassen. Weil sich Sabine bescheiden in jede
Pflicht fügte, die sie kaum als eine solche empfand und sie ihn als Wesen
sah, das ihrer Fürsorge bedurfte, wie sie jedes Wesen sah, kannte sie auch
keine Furcht oder gar Abneigung gegen diesen Menschen, dem sie neben ihren anderen
Aufgaben nach dem Frühstück der Kinder oder am Abend als Haushaltshilfe
betreute. Und das war gut so: weinten anfangs die Kinder, wenn sie ihn erblickten,
weil sie vor seiner abscheulichen Gestalt erschraken, tat Sabines Gleichmut
das ihre dazu, daß er schon bald als gleichwertig neben allen anderen
stand. Hinzu kam, daß er ein herzensguter Mensch war und seine Unterrichtsstunden
so zu geben verstand, daß die Kinder, die vorher so manches, was zum Leben
zu lernen obligatorisch gewesen ist, als Last auf ihren schmächtigen Schultern
verspürten, während seiner Schule in reinste Begeisterung gerieten.
Schon bald ergab es sich, daß ihr, die jedes Amt bisher als gleichrangig
betrachtet hatte, dieses das liebste wurde. Zuerst spielte sich diese Zuneigung
ziemlich lange im Bereich des Vegetativen ab und spiegelte sich in geröteten
Wangen und glänzenden Augen wider. Dann blieb sie von Mal zu Mal bewußt
länger bei ihm, als es zur Verrichtung der Hausarbeit erforderlich war
und als sie bemerkte, daß ihm ihre Gesellschaft nicht unangenehm war,
machte sie ihm die ganze Heilige Nacht zum Geschenk.
Wenige Monate darauf, schien sich ihr Wesen zu verändern. Aus ihrem Gesicht
wich die Klarheit und der Alltag bereitete ihr nicht mehr das Vergnügen
wie bisher. Ihr Morgen begann unausgeschlafen und die Nacht beschenkte sie nicht
mit Schlaf. Nur die Stunden bei ihm brachten Sabine die Rast, welche sie benötigte,
um das zu formen, worauf sich ihr Körper vorbereitete.
Es kam der Tag, als die Sommerkleider der Anstalt wieder zu tragen gewesen wären.
Dieser revidierte die beschaulichen Stunden Sabines pränataler Mutterschaft
in einen Skandal, der, um den Kind einen Namen zu geben, in die handhabbarere
Form eines Verwaltungsvorganges gegossen wurde. Aus ihm war zu entnehmen, daß
eine minderjährige weibliche Person schon bald eine Institution von Amts
wegen zu verlassen habe und eine volljährige männliche Person unverzüglich
in eine andere Institution zwangsweise aufzunehmen sei. Gemeint waren damit
Sabine, die nach ihrer Niederkunft das Bienenhaus zu verlassen hätte und
zwar ohne ihr Kind, einer solchen Person konnte freilich nicht die Fürsorge
eines kleinen Babys anvertraut werden und der Vater desselben, dem man wegen
moralischer und sittlicher Verfehlungen den Prozeß zu machen gedachte.
Zu letzterem sollte es nicht kommen. Ein wenig abgezweigtes Vermögen arrangierte
es, daß in einer größeren Stadt im Hinterzimmer einer verrauchten
Kaschemme ein Batzen Geld gegen einen neuen Paß getauscht wurde und sich
daraufhin ein verwachsener kahlgeschorener Plantagenbesitzer zurück auf
den Weg zu seinen Latifundien machte.
Sabine wurde nach der Entbindung zur Bewährung, denn bis zur Vollendung
des 18. Lebensjahres gehörte dieses Subjekt noch unter Aufsicht, in einen
katholischen Altfrauenstift gebracht, wo sie gegen Bezahlung Küchenarbeiten
zu verrichten hatte. Ihr Kind dagegen blieb im Bienenhaus, wo es aufgezogen
wurde wie vor siebzehn Jahren die Sabine. Durch diesen Austausch blieb die Kinderschar
im Hause stabil.
Um den Kindern des Bienenhauses zum Jahreswechsel etwas Erbauung und Abwechslung
zu verschaffen, wurden sie um die Weihnachtszeit in ein befreundetes Mädchenheim
nach Jerusalem verschickt, wofür im Sommer die Kinder aus Jerusalem ins
Bienenhaus gekommen sind.
Die drei Schwestern blieben daheim. Daheim mit dem kleinen Würmchen von
Sabine. Fast acht Wochen war es jetzt auf dieser Welt und morgen sollte es sein
erstes Weihnachtsfest erleben. Morgen glitzerte es nicht nur aus Kinderaugen,
auch die Erwachsenen spürten diese Seligkeit des Festes. Morgen würden
die drei Schwestern unterm Tannenbaum sitzen, für morgen wurden die Geschenke
festlich verpackt. Morgen sollte es wieder schneien und sehr kalt werden.
Am Heiligen Abend nach der Bescherung hatte sich jede der drei Schwestern in
ihren Winkel des Hauses zurückgezogen. Draußen hatte es angefangen
zu schneien und um diese Zeit war auf den Straßen der kleinen Stadt keine
Menschenseele zu sehen. Es war eine Stille wie auf einem Friedhof, fast mörderisch.
Nach der Abreise der Kinder hatten die Schwestern Muße, zu tun, wozu sie
sonst nicht kamen und gönnten sich, was in Gegenwart von Kindern nicht
schicklich.
Die Jüngste hatte sich mit einem Buch in einem Lehnstuhl niedergelassen
und las mit Spannung eine Samurai-Geschichte aus dem alten Japan. Es rührte
sie schon immer die Geschmeidigkeit der Bewegungen der Krieger an, und die Kämpfe
in denen auch brutale Szenen nicht ausgespart blieben, versetzten sie in ein
schauriges Gruseln, bei dem sie ihr Gesicht von den Seiten abwendete und sich
schüttelte wie nach dem Genuß eines kalten scharfen Schnapses. Soeben
standen sich in der Geschichte zwei Gewandträger gegenüber und fuchtelten
mit ihren Schwertern vor dem Gesicht des anderen herum. Der Stahl pfiff durch
die Luft. Wie von ungefähr traf eins den Hals der Schwester und ihr Kopf
kullerte polternd zu Boden.
Im Quergebäude saß die älteste Schwester nur mit einem Nachthemd
bekleidet auf ihrem Bett. In ihrer Hand hielt sie ein Fläschchen mit Morphiumtinktur,
von der sie sich mit leichter Verzückung etwas ins After rieb. Kurz darauf
verwandelten sie ihre Sinne in einen Vogel und sie flog durch eine bunte Welt,
berauscht von ihrer farbigen Vielfalt und der Geschwindigkeit ihres Fluges.
Die Farben funkelten, verschwommen ineinander, sie spürte eine Leichtigkeit,
als sei sie eine Feder, getrieben nur vom Wind.
Da wachte im Nebenzimmer das Baby auf und fing an zu weinen. Langsam und immer
lauter drang das Plärren des Kindes in die Visionen der Schwester. Mürrisch
warf sie sich einen Morgenmantel um und ging, nach dem Kind zu schauen. Es war
Eile geboten, denn allzu lange hielt die Wirkung der Tinktur nicht mehr an und
wollte sie noch etwas vom Tag haben, mußte sie sich sputen. Mit benebeltem
Blick hob sie das Kind aus der Wiege und legte es auf den Wickeltisch. Schnell
war auch das Kind entkleidet, doch sein Stuhlgang war noch nicht beendet. Ungeduldig
wartete die Alte bis sich der Darm des Kindes entleeren würde, als ihr
schwindelte. Ihre Hände krampften sich in die Tischkante und ein weiterer
Strahl verdauter Nahrung drückte sich aus dem Kind. Das Zimmer begann sich
zu drehen und das Gesicht des Kindes veränderte sich zu einem Reptilienkopf.
Der Kot kroch langsam heraus wie eine Schlange. Aber der Strahl war nicht breiig
und weich, sondern hart und spitz. Ein überdimensionaler Stachel einer
wütenden Hornisse. Im Kopf der Schwester brummte es. Sie sah, wie das Kind
vom Tisch schwebte und mit ihrem Stachel auf sie zu flog, vor ihrer Brust wendete
und ihr den Stachel ins Herz rammte. Röchelnd sackte sie zu Boden und tränkte
bis zu ihrem Ende mit ihrem Blut die Dielen.
Die mittlere Schwester hatte derweil das Fenster weit geöffnet und genoß
die klare Winterluft. Neben ihr auf einem Nachtschrank stand eine Karaffe mit
guten Kräuterlikör. Sie ließ sich jedes Jahr ein Kistchen von
lieben Verwandten schenken. Zum Genießen kam sie allerdings nur sehr selten.
Heute war ihr so wohl, da sie sich ungestört wußte und weil sie sich
dieses Vergnügen so oft entsagen mußte, genehmigte sie sich heute
fast ein ganzes Fläschchen. Jetzt fröstelte ihr etwas und sie ging
zum Fenster, es zu schließen. Und als hätte es jemand darauf abgesehen,
ihr das Gleichgewicht zu nehmen, kippte sie strauchelnd nach vorn über
und stürzte aus dem Fenster.
Zwar minderte der Schnee das Geräusch ihres Falls, tat aber ihrem Heimgang
keinen Abbruch. Wie ihr Leichnam erkaltete, begann um sie herum der Schnee zu
dampfen, und das verdorrte Gras zu glühen. Der Boden vibrierte leis, als
wenn nicht sehr fern ein Dutzend Zwölfspänner durch die Winternacht
jagten. Die in immer kürzeren Abständen zerberstenden Fensterscheiben
verstärkten diesen Eindruck und steuerten ihrerseits den Schellenklang
herbei, bis aus den Fenstern Feuerarme die Efeu-Ranken an den Häuserwänden
umschlangen und in Sekunden das ganze Haus in Flammen stand.
Vom Kirchturm schlug es Mitternacht und der behäbige Glockenklang rief
die Christenmenschen zur Mitternachtsmesse. Ihr Klang geriet jedoch inmitten
des Rufs zur Messe in eine höhere Tonlage und das Läuten versprühte
plötzlich panische Hetze. Schon war der Feuerschein in der ganzen Stadt
zu sehen und die Menschen rannten entsetzt zum Bienenhaus. Selbst der kleine
See, der zur heißen Jahreszeit den Mädchen ein kühlendes Asyl
gewährte und der bei Windstille lachende wie weinende Kinder sich an seiner
Oberfläche spiegeln ließ ohne eine Regung zu zeigen, sah jetzt im
Schein der Flammen aus wie ein vor Staunen geöffneter Mund.
Die Leute aus dem Ort schöpften aus ihm Eimer um Eimer, doch das Bienenhaus
war nicht mehr zu retten und am frühen Morgen gaben die Löschtrupps
als auch die Flammen ermattet auf. Das Bienenhaus hatte sein Leben ausgehaucht.
Am gleichen Morgen wurde hunderte Meilen weit entfernt eine junge Mutter mit
ihrem Kind auf einem großen Schiff erwartet. Ohne Verzögerung wurden
nach ihrem Eintreffen die Leinen losgemacht, und das Schiff stach in See. Es
war dunkel, die Sterne funkelten und beschirmten das Schiff in seiner vollen
Fahrt über das Meer. Trotz der Kälte stand das junge Mädchen
noch lange an Deck und fuhr den Sternen entgegen, wo ihr Geliebter war.
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