Wandler Zeitschrift für Literatur No 27

 

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Frank Krieger

Die seltsamen Seminare des Prof.Dr. B.Oelinger

 

 

Seltsam. Professor Doktor Oelinger steht im allgemeinen mit gespreizten Beinen, in einem Anzug, der entfernt das 19. Jahrhundert symbolisiert, und doziert. Nachdem seine Taschenuhr vor ihm auf dem Pulte ausgebreitet ist, ein direkter, unverlegener und auffordernder Blick in die Menge geworfen wurde, nach einigen breiten Schritten nach links und rechts und einem Kratzen oder Streichen des Hinterkopfes hebt er an und benutzt beim Sprechen eine breite, schnarrende Aussprache mit einem wichtigen und abenteuerlich rollenden "R", welches nicht echt sein kann.
Professor Doktor Belomir Oelinger ist Philologe, ein Professor für Deutsche Literatur. Seine bedeutende Habilitationsschrift, die nun auch schon einige Jahre zurückliegt und immer noch unter Verschluß gehalten wird, damit niemand davon abschreibt, beschäftigt sich - so munkelt man - mit "Reiseführern über Ulm". Schon deshalb veranstaltet er alle anderthalb Jahre das vielbesuchte und beliebte Seminar über "Reiseliteratur", unter die er auch Goethes "Italienische Reise" und Homers "Odyssee" zählt. Als C 3 Professor muß Professor Doktor Oelinger freilich forschen und veröffentlichen, was ihm sichtlich mißfällt, so sagt er zumindest, denn er ist schließlich "für die Lehre da". Sein letzter Aufsatz, veröffentlicht in einer eigens von ihm gegründeten literaturhistorischen Fachzeitschrift, die er auf Universitätskosten und von eifrigen Studenten auf Universitätskopierern anfertigen ließ, erregte nun doch einiges Aufsehen. Er untersuchte dort die Herkunft und Verwendung des Wortes "Köter" in der Deutschen Literatur, welches seiner Meinung nach von "Kot" stammt und plädierte nachdrücklich für die sprachhistorisch gerechtfertigte Umbenennung des "Köter" in allen gedruckten Werken zurück bis Luther zu "Koter". Die Exemplare seiner Fachzeitschrift lagen sogar einige Wochen kostenlos in seinen Seminaren aus und mitunter zitierte es sich daraus selbst: " . . . wie ein nicht unbedeutender Autor schreibt . . ."
In einem weiterführenden Aufsatz vergleicht er mit einem Kollegen aus der Sprachwissenschaft die Herkunft von "Köter" in weiteren 24 Sprachen und Literaturen, wobei beide nach mehrjähriger Arbeit herausfanden, das es eine seltsame und erklärungsbedürftige Korrelation zwischen den "Kötern" und der typischen Farbe von Briefkästen in diesen Kulturen gibt, was einfach kein Zufall sein kann. Zu diesem Thema wurde die Durchführung eines fünfjährigen DFG-Forschungsprojekts beantragt (und bewilligt), welches die Herren Professoren zu gemeinsamen Forschungsreisen in eben diese 24 Länder bringen wird. Auch der Ankauf einiger Hunde wurde ernsthaft diskutiert, wobei es Professor Oelinger durch geschicktes Taktieren fertigbrachte, zumindest für seinen eigenen Hund von der DFG bezahltes Futter auf Lebenszeit zu beziehen. Der größte Wurf aber sind Professor Oelingers Seminare, wie zum Beispiel seine "Quantitative Analyse von Literatur", in welchem er die Zahl der Adjektive pro Textseite bei verschiedenen Autoren und in verschiedenen Epochen zählt und miteinander vergleicht und sogar per Computer tabellarisch und somit wissenschaftlich exakt darstellt (Excel). Hier kommt er zu ganz interessanten Schlüssen, wie dem, daß manche Autoren mehr Adjektive als andere verwenden. Dieses Seminar wird sicher einmal in dankbarer Erinnerung von Studentengenerationen bleiben, wie auch sein Versuch, dem Inhalt eines Textes über die Berechnung des Verhältnisses von Seitenzahl zu "erzählter Zeit" beizukommen. Auch seine historischen Überblickseminare, die er in Serie produziert, erfreuen sich steigender Beliebtheit, so sein Seminar "Das Traditionelle - Jetzt und Damals", welches im Sommersemester Maibäume, Bismarcktürme, Walpurgisnachtsfeiern, Weihnachtsessen, Biergelage und deutsche Osterbräuche im Spiegel der Literatur der letzten Jahrhunderte unter die Lupe nimmt und seziert und zu dem bedenklichen Schluß kommt, diese Traditionen haben sich verändert! Im Wintersemester wird hingegen im Seminar "Das Dunkel - Vom Mittelalter bis in die Moderne" ein epocheüberschreitender Überblick über eben jenes weite Sachgebiet anhand von Gedichten, Dramen und Novellen gegeben. Bemerkenswert ist Oelingers dort immer aufgestellte Hypothese, die er scheinbar erst während des Seminars entwickelt, daß das elektrische Licht die Moderne in der Literatur ausgelöst hat, während für den Realismus die Kerze und für den Impressionismus das Gaslicht verantwortlich zeichne. So sei Goethe schon allein deshalb Realist, weil er laut Tagebuch gern bei Kerzenschein gearbeitet habe. Die Romantik stände hingegen im Zeichen des Mondenscheins, denn Kerzen wurden damals noch nicht als Massenware hergestellt und die Romantiker konnten und wollten sich die teuren Kerzen nicht leisten. Der Universalismus der Renaissance und Aufklärung stehe ganz im Glanz der Sterne, die man auch literarisch wiederentdeckte, während sich im Barock "die absolute Sonne" des Absolutismus zeige, Dunkelheit dort also nur als Kontrast zur Helligkeit vorkommen kann usw. usw., womit er durchaus Recht hat.
In seinem überraschend guten und vielbesuchten Seminar "Das Spaßhafte im Spiegel der Jahrhunderte" erzählt er sogar den einen oder anderen Witz, und entwickelt daraus eine eigene (scheinbar christliche) Humortheorie: "Humor zeigt das Heilige im Alltäglichen". Und wenn er besonders gute Laune hat, liefert er mit schnarrender Stimme einen Vortrag auf "Starkdeutsch", welches ihm sehr gefällt, weil es die Vokale auf anachronistische Weise verdreht und, weil er sich zur Darbietung dieser Sprechart weder sonderlich anstrengen noch verstellen muß. Oelinger hatte Glück, gerade in den 70er Jahren zu habilitieren. Einige ältere und kritische Studenten, die noch aus den achtziger Jahren übriggeblieben waren und seinen wunderlichen Weg verfolgt hatten, behaupteten sogar, er hätte ernsthaft Lehrer (an der Schule!) werden müssen, wären die 70er, die neugegründete Universität und sein damaliges SPD-Parteibuch nicht gewesen, welches ihm dadurch von Vorteil war, weil es ein Gegengewicht zu der braunen Vergangenheit einiger älterer Professoren darstellte. Nur aus diesem Grunde sei Oelinger mit "Reiseführern über Ulm" Professor an der neu zu besetzenden Universität geworden - was pure Verleumdung ist. Wahrscheinlich, aber nicht zuletzt wegen dieser erfolgreichen Parteibuchkarriere, zählt er sich selbst zu den Altachtundsechzigern und zur außerparlamentarischen Opposition (obwohl er im Stadtrat und allen Gremien, Stammtischen, Vereinen und Verbänden sitzt), und er hatte sogar nach eigener Aussage die Studentenunruhen einige Jahre in Paris miterlebt, freilich ohne mit der Fähigkeit, einen vernünftigen Satz Französisch zu sprechen, heimzukehren. Daß er nun aber wahrhaftig Professor sei, hielten diese Studenten für eine abenteuerliche Verkehrung der Wirklichkeit und für einen im Universum einmaligen postfraktalen Zufall. Die Universität ließ allerdings verlauten, einmal Oelingers Posten nach dessen Pensionierung überraschenderweise nicht wiederzubesetzen . . .Ohne Zweifel besitzt Professor Doktor Oelinger aber ernstlich Talent zur Selbstpräsentation, und er identifiziert sich hierin zurecht mit Goethe, wenn er falsche Bescheidenheit ablehnt. Wie es sonst - aber nicht in diesem Falle - nur ganz oberflächlichen und nichtigen Naturen eigen ist, kann er "auftreten". Seine Seminare sind jedoch, so empfindet der eine oder andere, trotz seiner Autorität und der starken lenkenden Hand, Genuß und Qual zugleich, denn sie haben die seltsame Tendenz , sich gegen Ende in Ergebnislosigkeit und unerträgliche geistige Unentschlossenheit aufzulösen, welche die Germanistikstudenten, die daran gewöhnt sind, dankbar in einem logischen Nichts zurückläßt. Diese armen Studenten und Lehramtsanwärter haben es nun schon schwer genug, immer erraten zu müssen, was Professor Doktor Belomir Oelinger von ihnen hören möchte. Ein Höchstmaß an Konzentration, intuitiv unterwürfiger Verstellung und innerer Geistesabtötung scheint hier überlebensnotwendig, wobei die fähigsten Studenten in diesen Disziplinen, geduckte und leise-einfältige, fast religiöse Existenzen, zu seinen Lieblingen werden. Diese fragt er nach den Antworten, die er geben würde und immer schon suggestiv vorverrät, setzt sie sich zur Seite und redet sie ständig mit "Herr . . . . " an, wobei sie sich nun in eine absurde Höhe gehoben fühlen, die sie unmöglich ohne bleibende geistige Schäden überstehen können. Daß keines seiner eigenen Kinder nun weder eine akademische noch eine künstlerische Laufbahn eingeschlagen hat, betrübt und beunruhigt Professor Oelinger nachhaltig. Er bewohnt jetzt allein eine achtzimmrige Villa am Rande der Stadt. Nur ab und zu besucht ihn dort noch ein ironischer Sohn, der freilich meist einen Freund mitbringt . . .
Seine Kinder können ihm nun in seiner grandiosen Laufbahn nicht nachfolgen. Dabei hat er doch vieles getan. Obwohl beispielsweise jedes seiner Kinder entweder ein Streich- oder Blasinstrument lernen mußte, hielt sich das musische Talent der Sprößlinge erstaunlicherweise in starken, man kann sagen, bürgerlichen Grenzen. Zumindest bekamen die Kinder aber Muskeln, denn Professor Oelinger hielt kleine und leichte Instrumente für seine Familie als zu unbedeutend. Zeitweise waren so die Oelingerkinder in der Stadt immer daran zu erkennen, daß sie mit einem riesigen Instrumentenkasten für Kontrabaß, Tuba, Posaune oder Cello unterwegs waren und manchmal auch mit zwei Kästen. Und Blasinstrumente sind nun aus irgendeinem Grunde für Professor Doktor Belomir Oelinger von ganz herausragender Bedeutung, denn, wann immer er einen Musiker trifft, stellt er ihm die Frage, die seine allgemeine Kompetenz verrät: "Was blasen Sie?"

 

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