Wandler Zeitschrift für Literatur No 27
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Angela Kreuz
Schick mir doch ein Mail!
Es war eine traumlose Nacht. Eine von den Nächten, die nicht
dazu da sind um tiefere Gedanken an sich vorüberziehen zu lassen; Erkenntnisse,
die einem Zusammenhänge von Ereignissen offenbaren, die noch nie so klar
und ausdrücklich vor einem standen. Nein, es war eine Nacht, die einfach
da war und nicht vorübergehen wollte, die einem hämisch ins Gesicht
grinste und dabei sagte: "Hier bin ich. Ich ziehe mich in die Länge
und du kannst nichts anderes machen als abzuwarten, bis ich verschwinde, bis
es Tag wird. Ansonsten habe ich dir nichts zu sagen."
Chris wälzte sich herum. Sie hätte einiges zu tun gehabt, zum Beispiel
ein Kapitel für die nächste Prüfung zu lernen, aber es war noch
zu früh dafür, sie wollte damit erst um neun Uhr beginnen, nach dem
Frühstück. Der Wecker würde um halb acht klingeln, danach würde
sie genervt auf die grüne Snooze-Taste über der Digitalanzeige drücken,
mehrmals, und dann um halb neun unter die Dusche zu springen. Währenddessen
würde ihr Frühstücksei in einem Kochtopf, den sie sich zu Beginn
ihrer Studentenzeit bei WOOLWORTH im Sonderangebot für 9.95 DM gekauft
hatte, vor sich hin kochen. Sie kochte sich selten ein Ei zum Frühstück,
da sie dies als besonderen Luxus ansah, den sie sich nur selten gönnte.
Was sollte am nächsten Tag so besonders sein? Nichts, aber da es in der
letzten Zeit keinen außergewöhnlichen Tag gegeben hatte und Chris
seit Wochen das Gefühl beschlich, dass sie nur noch für die Prüfung
leben würde und sich nur wenig gegönnt hatte, dachte sie an ein schönes
Frühstück, das sie vor ihrem Lernalltag aufmuntern könnte. Und
da ihr in dieser traumlosen Nacht nichts einfiel, an das sie hätte denken
können (und das nichts mit der Prüfung zu tun hatte) dachte sie an
ihr Frühstücksei am Morgen. Wie sie es mit einem Streich gezielt köpfen
würde. Und danach die feinen weissen Salzkristalle in die dunkelgelbe Mündung
streuen - Sie erschrak. War das eben beschriebene Frühstücksei die
Erfüllung ihrer Sehnsüchte? War sie geboren worden um ein Buch nach
dem anderen auswendig zu lernen und sich auf ein Frühstücksei am Morgen
zu freuen? Gab es keine anderen Inhalte in ihrem Leben? Sie setzte sich auf.
Chris fühlte sich sonderbar entfremdet, als sie den Mond betrachtete, der
durch ihr Fenster schien. Kurz überlegte sie, ob sie nicht ihre Kerze anzünden
wollte, die aus einer leeren Thunfischdose neben der Matratze ragte.
Plötzlich war sie wild entschlossen, irgend etwas zu tun. Sie knipste das
Licht an und setzte sich neben ihren Schreibtisch. Die "Kulturblätter"
lagen vor ihr, ein dünnes Magazin mit Kinoanzeigen, Veranstaltungen und
jeder Menge Kleinanzeigen. Chris blätterte das Heft durch, verweilte bei
den "loneley hearts", wie sich diese Rubrik nannte, die Inserate über
amoröse Gesuche enthielt. Ab und zu las sie diese Kontaktanzeigen; eher
aus einem voyeuristischen Interesse heraus als aus einem konkreten Anlass. Auf
eine Anzeige wurde sie aufmerksam. Sie lautete:
"Mir schrieb noch nie ein Mann ein Gedicht!
Bin 32, attraktiv, liebe Gedichte, Literatur, Spaziergänge am See. Bin
offen, interessiert und unkonventionell. Schick mir doch ein Mail!"
Chris las die anderen Anzeigen durch, aber sie kam wieder und wieder auf das
eine Inserat zurück. Als ob ihre Augen automatisch zu diesen Zeilen zurückspringen
würden las sie es noch mal und noch mal und fühlte sich absurderweise
auf irgendeine Art und Weise angezogen von dieser Frau. Dabei hatte sie seit
einigen Monaten (nach der letzten grossen Enttäuschung) alle Beziehungswünsche
von sich gewiesen und hatte nicht vor, sich auf eine Frau oder einen Mann einzulassen.
Sie wollte für sich sein, ihr Studium abschliessen und frei und ungebunden
sein um danach in eine neue Stadt ziehen zu können, in der sie Arbeit fand.
Die Anzeige beschäftigte sie. Diese Frau suchte offensichtlich ausschliesslich nach einem Mann, der sie nicht war. Sie war eine Frau. Gedichte liebte Chris auch, sie schrieb selber welche. Sie wollte mit der Frau Kontakt aufnehmen. Chris dachte an ihre Email-Adresse, die neutral klang, weder männlich noch weiblich: Chris.Nerohld@uni-konstanz.de. Sie könnte ihr als männlicher Adressat ein Gedicht schicken. Würde sie überhaupt zurückmailen? Chris überlegte, wie viele Gedichte diese Frau insgesamt erhalten würde. Vielleicht fünf bis zehn? Sie kramte einen Gedichtband hervor und suchte nach etwas Passendem. Keines der Gedichte, die sie in der letzten Zeit geschrieben hatte enthielt eine erotische Anspielung und waren daher unbrauchbar. Sie wollte nicht, dass diese Frau sie für einen sexuell desinteressierten oder unerfahrenen Mann hielt. Ein Gedicht sollte ja gerade die Sehnsucht der Frau ansprechen, so dass sie neugierig wurde und es sollte sie zum Träumen verleiten. Chris stand auf, stellte sich vor einen grossen Spiegel und betrachtete sich. Ihre Gesichtszüge wirkten angespannt; Augenringe zeichneten sich unterhalb ihrer mandelförmigen Augen ab. Die kurzgeschnittenen schwarzen Haare waren zerzaust und aus dem vollen Mund ragte eine dünne selbstgedrehte Zigarette wie der Stiel eines Lollys. Sie ging zum Schrank und holte einen massgeschneiderten Herrenanzug heraus, entledigte sich ihres T-Shirts und zog ihn an. Danach trat sie wieder vor den Spiegel. Sie nickte sich zufrieden zu und setzte sich an den Schreibtisch. Chris konnte dieser Frau kein altes Gedicht schicken, das lange zuvor unter völlig anderen Umständen entstanden war. Vielmehr sollte es ein aktuelles, sozusagen brandneues Gedicht werden, was aus der Stimmung heraus geschrieben würde, die sie ergriff, als sie die Anzeige wieder und wieder durchlas. Sie dachte darüber nach, wie diese Frau aussehen könnte und stellte sie in Gedanken neben sich in den Spiegel. Die Unbekannte hatte in Chris`Vorstellung etwas Mitreißendes an sich, ein gewinnendes sympathisches Lächeln, halblange Haare, dunkle Augen und eine samtige Haut. Sie schrieb auf ein Blatt Papier:
Hast du den Mond betrachtet, heute Nacht?
Er ließ mich nicht schlafen.
Ich stand auf und las deine verlockenden Zeilen.
Nun sitze ich da und träume.
Chris tippte die Zeilen in den Computer und schickte das Mail kurzerhand ab.
Danach zog sie sich aus und legte sich auf`s Bett. Das Frühstücksei
hatte seine Bedeutung verloren. Sie konnte nicht einschlafen vor lauter Was-Wäre-Wenn-Gedanken
und malte sich verschiedene Situationen aus, in die sie in kürzester Zeit
geraten könnte. Der Wecker klingelte. Sie hatte vergessen, die Kerze auszublasen
und diese war vollständig heruntergebrannt, als sie dann doch eingeschlafen
war. Schwungvoll stand sie auf, sprang unter die Dusche und zauberte sich ein
einladendes Frühstück. Sie schlürfte laut ihren Kaffeee und freute
sich darüber, dass sie allein war und niemand daran Anstoß nahm.
Danach legte sie ihre Bücher für die Prüfung auf den Tisch. Es
war lächerlich, zu hoffen, die Unbekannte hätte schon geantwortet.
Trotzdem sah sie ihre elektronische Post durch. Die Absenderin des letzten Mails
kannte sie nicht. Ihre Hände zitterten, als sie den Text durchlas.
„Lieber Chris!
Du schläfst also heute nacht auch nicht. Ich weiß nicht, was ich
jetzt schreiben soll, da ich mir dich kaum vorstellen kann. Wie wär`s,
wenn wir uns in den nächsten Tagen unverbindlich treffen? Würde es
dir am Mittwoch um 19°°h passen? Im BLUE NOTE?
Es grüßt dich - Beate“
Chris war verwirrt, sie hatte auf einen Briefwechsel gehofft, hinter den sie
sich hätte verstecken können und nun steuerte die Frau direkt auf
ein Treffen zu. Was sollte sie tun? Ausreden erfinden und den Termin mehrmals
verschieben, bis die andere das Interesse verlor? Andererseits war das Angebot
zu verlockend um es aus zu schlagen. Chris könnte sich ja an einen Tisch
in ihrer Nähe setzten und sie von dort aus heimlich beobachten. Sie mailte
zurück:
„Hallo Beate!
Mittwoch ist o.k., Blue Note auch. Wie erkenne ich dich?
Gruß von Chris“
Die Frau würde sauer sein, wenn sie Chris (der männliche Chris) verstzen
würde. Es war Chris klar, das sie nie wieder ein Mail von ihr bekommen
würde.
Sie lernte den ganzen Tag mit wenigen Unterbrechungen. Am Abend bekam sie ein
weiteres Mail von Beate:
„Hallo Chris!
Trage eine Glatze und ein Hundehalsband (ist nur ein Scherz). Ich werde mein
blaues Halstuch auf den Tisch legen. Also bis morgen dann.
Grüße von Beate“
In der Nacht schlief Chris vor Aufregung unruhig. Moralische Bedenken drehten
sich gebetsmühlenartig in ihrem Kopf und sie dachte daran, wie sehr sie
es selbst hasste, versetzt zu werden. Sie würde sich den Zorn dieser Frau
zuziehen, die auf den männlichen Chris warten und sich dabei mit der Zeit
blöd vorkommen würde, ignoriert, abgestellt, vergessen.
Chris betrat die Kneipe BLUE NOTE um dreiviertel sieben und hatte sich ein Buch
mitgebracht. Nur ein einzelner Tisch in der Mitte war belegt, an dem eine kleine
Gruppe von Männern saß. Sie bestellte sich ein Bier und wartete.
Der Raum war klein und sie konnte von ihrem Tisch in der Ecke alles überschauen.
Um fünf nach sieben kam eine Frau herein, die sie vom Sehen her kannte.
Die Bekannte nickte ihr unsicher zu und setzte sich an einen Tisch am Fenster.
Chris erschrak. Sollte sie Beate sein? Die Frau legte ein hellblaues Tuch neben
den Aschenbecher. Chris hätte vor Scham in den Boden versinken wollen.
Sie wußte von der Frau, dass sie sich in der Fachschaft ihrer Fakultät
engagierte. Chris hatte sich dort einmal bei ihr nach ein paar Skripten erkundigt.
Angestrengt starrte Chris in ihr Buch. Die Zeilen begannen zu tanzen und sie
konnte sich unmöglich auf deren Inhalt konzentrieren. Sie trank hastig
von ihrem Bier um sich zu beruhigen. Dabei wagte sie es nicht, zu ihrer Bekannten
hinüber zu sehen.
Es vergingen qualvolle fünfundzwanzig Minuten.
Beate stand auf und ging in Richtung Toilette. Sie bahnte sich einen Weg durch
den mit sperrigen Stühlen vollgestellten Raum und streifte dabei Chris`
Ärmel. Chris sah von ihrem Buch auf und sprach sie an, um der Peinlichkeit
der Situation zu entkommen.
„Wenig los heute.“ bemerkte Chris und Beate entgegnete: „Hm.
Bin grad versetzt worden.“ Auf ihrem Gesicht zeigte sich ein gekränkter
wütender Ausdruck.
„Sowas ist echt Scheiße.“ sagte Chris scheinheilig mitfühlend.
„Magst du dich rübersetzen?“
„Ja, o.k.. Ich geh`grad noch zum Klo.“ Beate entfernte sich. Chris
legte ihr Buch weg und atmete tief durch. Jetzt durfte sie sich nichts anmerken
lassen und musste den unverbindlichen Plauderton, den sie angeschlagen hatte,
aufrecht erhalten. Beate kam zurück und setzte sich neben Chris.
„Und wie läuft`s in der Fachschaft?“ erkundigte sie sich bei
Beate.
„Gar nicht. Da arbeite ich schon lange nicht mehr. Ich hänge momentan
nur noch an der Diplomarbeit dran.“ Beate starrte auf den Tabakbeutel,
der vor ihr auf dem Tisch lag.
„So ein Sack!“ entfuhr es Beate. Chris drehte sich eine Zigarette
und fühlte sich schuldig.
„Tut mir leid, dass ich hier so rumpeste. Wie heißt du eigentlich?“
Die Frage kam so unvermittelt, dass Chris zusammenzuckte. Sie räusperte
sich um Zeit zu gewinnen.
„Schon gut. Ich bin - Tine. Und du?“
„Beate. Die Glückliche.“ versetzte sie sarkastisch. „Ich
glaube, ich sollte besser gehen.“
„Wegen mir nicht, mein Krimi ist eh nicht so spannend.“ entgegnete
Chris. Sie wollte nicht, dass Beate zornig wegging.
„Trotzdem. Ich muss heim. Sorry. Man sieht sich an der Uni.“ Sie
stand aprupt auf.
„Ciaou.“
Chris sah ihr nach und fühlte sich verlassen. Die Bedienung kam an ihren
Tisch und sie bestellte sich noch ein Bier.
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