Wandler Zeitschrift für Literatur No 27

 

Zurück zu Titel & Inhalt von Heft 27, zur Wandler Startseite

 

Bas Kast

Datei 1 / Datei 2

 

 

Datei 1

Ich stieg aus dem Fahrstuhl, ging ein paar Schritte durch den düsteren Korridor und steckte den Schlüssel ins Schlüsselloch. Einen Moment zögerte ich noch, ich weiß nicht warum, dann öffnete ich die Tür. Es war spät, ich war todmüde und wollte mich sofort ins Bett legen.
In der Wohnung brannten die Lichter.
»Julia?« sagte ich und sah mich um.
Keine Antwort -
»Julia?«
Ich ging, noch im nassen Trenchcoat, die Treppe hoch - und dann sah ich sie liegen:
Sie lag auf dem Boden, lag wie ein Stein auf dem harten Parkett und starrte an die Decke (so wie ich heute), ich erschrak, ließ meine Tasche fallen und lief zu ihr hin.
»Julia!« rief ich, »mein Gott! was ist passiert? was ist passiert?«
Ich saß auf den Knien, ich hielt ihren Kopf, er war kalt, ich hielt ihn in meinen Händen.
Sie sah mich an, als würde sie mich nicht erkennen, sie starrte mich an.
»Was ist passiert!«
Ich wußte nicht, was ich tun sollte, ich sah umher, hastig, auf den Knien sitzend, ich suchte - ihr Kopf in meinen Händen - das Telefon …
Ich weiß noch:
Sie versuchte sich aufzurichten, langsam, mechanisch wie ein primitiver Roboter.
»Was ist passiert!« hörte ich; das war ich, der so schrie.
Ich war außer mir, ich zitterte, ich hielt ihren Kopf und suchte das Telefon.
Es war, als befände ich mich in einer Simulation -
Ich sah sie an:
»Deine Augen, Julia, sag mir, was passiert ist, was!«
Ich weiß nicht, warum ich so verbissen danach fragte.
Ich ahnte, was sie getan hatte, d.h. im Grunde wußte ich es -
»Niels …« sagte sie plötzlich und lehnte ihren Kopf an meinen nassen Trenchcoat, schwach.
»Mein Gott!« schrie ich, ich schrie flüsternd, »Julia! Was hast Du gemacht!«
»Niels …« sagte sie nur, leise. Und schwieg wieder -
Erst als ich zum Hörer griff, um einen Arzt zu rufen, flüsterte sie plötzlich: »Bitte nicht!«
Ich sah sie an -
»Bitte … keinen Arzt …«
Dann, nach ein paar ewigen Sekunden, fing sie an zu erzählen, stockend, flüsternd, was passiert war …
Das war passiert:
Diphenhydramin-HCl, Schlaftabletten, dreiunddreißig Stück -
Ich versuchte, sie hochzuheben, was nicht gelang.
Irgendwann standen wir doch, d.h. sie hing an meinem Hals wie eine Marionette.
»Keinen Arzt …« sagte Julia leise vor sich hin. Dann starrte sie mich wieder an, wortlos, mit Stielaugen.
Wir gingen die Treppe runter, vorsichtig, Schritt für Schritt, sie hing buchstäblich an meinem Hals, und fast wären wir hinuntergefallen, sie konnte kaum gehen, ich mußte sie halten, ich stützte ihren Körper, den sie an mich lehnte, schlaff, ihr Kopf reglos auf meiner Schulter. Es war unheimlich, sie war unheimlich: wie von einem Geist besessen, eine halbwache Leiche …
Unten im Wohnzimmer wollte sie etwas sagen, aber sie konnte nur noch stammeln wie ein Broca-Aphasiker, nur noch stottern: »Niels«, hat sie gesagt, leise, während ich ein Glas Wasser holte, »ach«, sagte sie, »Niels«, abgehackt, und daß es ihr - immer wieder mit Unterbrechungen - leid tue, daß sie keinen Arzt wolle, »keinen Arzt …«
Ich versuchte nicht zu zittern.
Ich weiß nicht, warum mein Körper zitterte, viel funktionsfähiger wurde er dadurch nicht.
Ich gab ihr Wasser, zitternd, ich redete weiß Gott was und gab ihr Wasser.
Sie konnte kaum sprechen, nur stockend, nur mit langen Pausen, wenn überhaupt, zumindest nicht in Echtzeit.
Wir befanden uns in der Küche, ich hatte sie auf einen Stuhl gesetzt, ich lief hin und her, verschwitzt, irgendwie ziellos.
Ich wußte nicht, was ich tun sollte.
Ich überlegte -
Ich versuchte mich zu konzentrieren und wusch mir den Schweiß von der Stirn.
Ich riß mich zusammen!
Sie saß auf ihrem Stuhl, starr, abwesend, ihr Körper saß da zwar gleich vor mir, aber sie war nicht da …
Irgendwann sagte ich in die Stille:
»Ich muß dich ins Krankenhaus bringen.«
Sie wollte nicht ins Krankenhaus -
Dann im Auto:
Geradezu totenstill saß sie neben mir, ein Glas Wasser in der Hand. Sie starrte auf die Scheibenwischer, schweigend.
Ich war schockiert, was ich nicht zeigte; schockiert darüber, was sie getan hatte. Ich sah auf die Straße.
Mir war kalt.
Ich starrte auf die Straße, ich zwang mich, auf die Straße zu sehen, wegzusehen, ihr nicht in die Augen zu sehen - und spürte, wie sie mich ansah, mich fixierte, vorsichtig; sie schämte sich.
Ich fuhr ins Labor …
Es regnete, Nieselregen.
Einmal eine rote Ampel:
Ich sah aus dem Fenster, nach links, nach rechts - man sah nichts außer ein paar Neonlampen hie und da; ich fuhr weiter …
Sie sagte kein Wort.
Sie fragte nicht, wohin wir fuhren, sie schwieg und starrte auf die Frontscheibe oder auf die Scheibenwischer, die sich hin und her bewegten wie ein stilles Metronom.
Ich parkte vor der Eingangshalle, direkt vor der Tür.
Arm in Arm gingen wir ins Gebäude.
Drinnen angekommen, setzte ich sie auf einen Stuhl und rannte zum Lift.
Kurz danach kam ich zurück mit einer Spritze und einer Ampulle Apomorphin. Ich wußte immer noch nicht, wie lange es her war, seit sie die Pillen geschluckt hatte.
Ich wußte nur, daß sie Angst vor Spritzen hatte. Doch irgendwie hatte sie jetzt plötzlich mehr Angst vor mir: als sie mich mit der Nadel nähern sah, sagte sie nichts -
Etwas später hing sie über dem Waschbecken im WC und mußte sich übergeben …
Wieder zurück im Appartement, die Lichter brannten noch, ließ ich ein heißes Bad voll laufen. Sie saß auf dem Bett und zog sich aus.
Inzwischen ging es ihr ein bißchen besser.
Ich öffnete ihren BH, und sie sah mich an:
»Was hast Du denn vor?«
Ich schwieg -
Dann hob ich sie hoch, nahm sie in die Arme, sie hing sich an meinen Hals und schloß die Augen, und ich legte sie ins warme Wasser.
Eine Zeitlang stand ich neben der Wanne, dann kniete ich mich hin.
Erst jetzt, neben der dampfenden Wanne sitzend, spürte ich den Schweiß an meinem Körper, eine Schweißschicht auf dem Rücken, ein dünner Film, ich war immer noch im nassen Trenchcoat, ich saß auf den Fliesen und Knien, ein paar Finger in der warmen Wanne.
Ich sah auf ihren Körper im Wasser, ihren nackten Körper, auf das Fleisch.
Stille -
Sie nahm meine Hand und führte sie zu ihrem Bauch und zeigte mir, wo der Schmerz sitzt, »dieser ewige Schmerz«, der Schmerz im Fleisch.
Ich sah sie an.
Sie sah hilflos aus, schwach.
»Versprich mir, daß du das nie wieder machst«, sagte ich, meine Hand auf ihrem Bauch, der sich gerade über der Wasseroberfläche befand.
»Ja«, flüsterte sie.
»Nie wieder«, sagte ich.
»Nie wieder«, sagte sie.Geschlafen hat sie nicht, merkwürdigerweise, nur ganz kurz, sonst war sie wach, obschon narkotisiert, die Augen pausenlos weit geöffnet, irgendwie komisch.
Dann, etwa eine Stunde später, draußen war's noch dunkel, wir konnten beide nicht schlafen, wir saßen im Schneidersitz auf meinem Bett und tranken Tee, ich hatte Kopfschmerzen und war müde, sie hatte schon wieder eine Kerze angezündet - da hat sie mir von ihren Halluzinationen berichtet (im Flüstermodus): von dem bellenden Hund, den sie auf der Decke gesehen hatte. Und als sie im Labor auf dem Stuhl saß und ich oben das Apomorphin gesucht habe, da habe sie mich neben sich sitzen und reden sehen …
Ich hörte kaum zu.
Eine Funktionsstörung der Neuronen, dachte ich.
Ich saß da und trank meinen Tee.
Ich war müde.
Ich war froh, daß sie noch lebte; das Apomorphin hatte sie wieder hergerichtet.
Später in der Nacht, wir hatten uns längst hingelegt, ich schlief schon fast, plötzlich Julias Stimme:
»Niels?«
Noch einmal:
»Niels?«
Ich erschrak -
Julia umarmte mich und küßte meinen Hals mit trockenen Lippen.
»Niels …« wiederholte sie, leise.
»Ja …« sagte ich aus dem Halbschlaf heraus.
»Kochst du mir morgen was?«
»Wie bitte?«
»Kochst du morgen?«
»Wie …« ich lächelte, obwohl ich wirklich todmüde war, ich spürte meinen Körper, »Julia - wie kommst du denn darauf?«
Ich sah sie an.
»Ich habe schrecklichen Hunger …« sagte Julia. »Kochst du mir einen Lachs? Einen Lachs …« sagte Julia, leise lachend, als sei sie beschwipst, »Mmmh …«
Ich sah sie an -
»Einen Lachs …« wiederholte sie, irgendwie lachend, fast kichernd, jedenfalls komisch.
Ich schwieg, ich war müde, ich schloß die Augen wieder, ich drehte mich auf den Rücken.
Ich wollte schlafen -
»Ja …« sagte ich dann ohne zu denken.
»Versprochen?«
»Versprochen …«
Ich lachte, ich weiß nicht warum …
(Ja, ich glaube, ich habe noch kurz gelacht.)
Irgendwann sind wir eingeschlafen -

Am nächsten Morgen, als ich aufwachte, lag sie, den Rücken mir zugewandt, reglos in meinen Armen. Einen Moment lang glaubte ich, alles nur geträumt zu haben. Ich fühlte mich erleichtert. Ich drückte ihren Körper an meinen; er war kalt. Ich flüsterte ihr etwas ins Ohr, ich wollte sie wecken. Aber sie reagierte nicht. Sie wachte nicht auf. Sie war tot. Julia war tot.

Datei 2

»Zuallererst, Wagner, damit es hier wieder vorangeht, müssen wir diese Bewerber erschießen!«
Wagner saß, an diesem Tag, an dem ich zum ersten Mal von dir hörte, an meinem Schreibtisch, saß mit dem Kopf zwischen den Bananenblättern und schraubte - durch eine dicke Lupe blickend - an einem seiner künstlichen Käfer. Ich spazierte, etwas angespannt, mit ständigem Stechen in den Schläfen, durchs Zimmer.
»Sobald sie mal irgendeine schlechte Science-fiction durchgeblättert haben«, sagte ich, während ich mir den stechenden Schmerz im Kopf massierte, »denken gleich alle, sie stehen am nächsten Morgen auf und bauen eine künstliche Intelligenz. Und mit ihr fliegen sie dann durchs All und besuchen ferne Galaxien!«
»Übrigens Niels«, unterbrach Wagner, »eine Frau hat sich beworben.« Er beugte sich von seinem Gerät hoch, wodurch der Stuhl, auf dem er saß, kurz quietschte, strich seine blonden Locken aus dem Gesicht und sah mich erwartungsvoll an. Er lächelte. Er legte den Schraubenzieher, einen kleinen Kreuzschraubenzieher, hin und musterte den mit aufgeschobener, verdrängter Arbeit bedeckten Schreibtisch. Dann zog er, wie bei einer Lotterie, einen Umschlag aus dem Papierberg. »Hier«, sagte er, »der Bewerbungsbrief.«
»Wagner«, sagte ich und guckte - die Hand noch massierend an der Stirn - aus dem hellen Fenster vor mir, »diese Assistentengeschichte war ein Fehler.« Ich sah ihn an. »Jetzt bewerben sich schon die Frauen!«
Wagner lachte und legte den Brief hin. Dann nahm er den Lötkolben und beugte sich wieder über sein Gerät, grinsend.
Es war nicht so gemeint, trotzdem: ich habe es immer - auch wenn das, bedingt durchs Metier, nicht oft vorgekommen ist - schwierig gefunden, mit Frauen zu arbeiten. Irgendwann, früher oder später, meist früher, verliert sich die Distanz und das Unvermeidliche passiert.
Ich lehnte mich an den Fensterrahmen und schaute hinaus, Blick auf den stahlblauen und straff gespannten Himmel über mir. Man fühlte förmlich, wie die Sonnenstrahlen in die Augen drangen, ein dumpfer Druck in den Augäpfeln, ein leichtes Stechen, so hell war's.
Durch die Scheibe hindurch hörte man - stark gedämpft - ein ununterbrochenes Verkehrsrauschen, dazu, hin und wieder, in unregelmäßigen Intervallen, ein Hupen.
Ich setzte meine Brille auf. Hie und da lag noch ein schmutziger Streifen Schnee am Straßenrand, über den farblosen Feldern in der Ferne hing ein dünner Dunstschleier; man sah die Kälte …
Es zischte, der Käfer summte kurz auf, mein Kopf drehte sich, unwillkürlich, Wagner lötete, der Käfer qualmte.
Blick auf die Uhr: es war zehn. Noch eine gute Viertelstunde bis zur Vorlesung (eigentlich ein Seminar, eine Informationsveranstaltung über das kommende Semester, aber da ich diese Art von Veranstaltungen nicht ausstehen kann, würde ich etwas über die Funktionsweise von Emotionen sagen, Emotionen als Schalter - eine kleine Theorie von mir, pikant, ein bißchen provozierend, kam immer gut an).
Ich ging zu meinem Schreibtisch, setzte mich Wagner gegenüber und schaute auf die Post vor mir. Ich sah den Brief, den Wagner herausgefischt hatte, nahm ihn in die Hand und musterte die blaue Handschrift auf dem Umschlag. Eine sehr feminine Schrift, eine recht schöne und, im Gegensatz zu meiner eigenen, die keine OCR (Optical Character Recognition) jemals entschlüsseln könnte, es sei denn, ich würde sie programmieren, auch noch eine leserliche Schrift.
»Aber wer weiß, Wagner«, sagte ich, auf den Umschlag in meiner Hand schauend, »vielleicht fehlt dem Kind ja nur die Mutter?«
Wagner guckte hoch und grinste.
»Ich hole mal einen Kaffee gegen das Kopfweh«, sagte ich, warf das Kuvert wieder auf den Papierberg, wo es hingehörte, und machte mich, in einem Dickicht von Post und Pflanzen, von Kabelsalat, Steckern, Batterien, Folienstiften, Widerständen, Disketten, Zangen, Zigarettenschachteln, Kameras, einem Oszilloskopen, einer Schachtel mit Zuckerwürfeln, Zahnrädern, Silikonchips, kleinen Kugellagern, Sensoren, Schrauben und Schraubenziehern auf die Suche nach zwei einigermaßen sauberen Tassen.
Das war vor ein paar Monaten, kurz vor unserem ersten Treffen, und ein Jahr nach Julias Tod.
Ich hatte damals zwar selbst die Annonce aufgeben lassen, aber so langsam gingen mir die Schreiben von, die Gespräche mit den Bewerbern, sowie die Kopfschmerzen ihretwegen auf den Geist.
Ich hatte keine andere Wahl. Ohne weiteren Assistenten ging es bei uns voran wie bei den Schnecken. Wie bei den kriechenden Kreaturen von Wagner!
Ich selbst kam zu nichts: Wenn nicht gerade irgend etwas begutachtet oder ein DFG-Antrag erstellt oder das soundsovielte Gremium gebildet werden mußte, gab es eine Vorlesung, ein Seminar oder, viel unproduktiver ging es wirklich nicht, eine Fakultätssitzung. Und wenn es die nicht gab, irgendeine andere Sitzung, ein Kolloquium, eine Konferenz, ein Symposium, ein Kongreß, eine Tagung, irgendeine Versammlung mit einer Kumulation von kaum überbietbaren Eitelkeiten mußte schon stattfinden, Hauptsache man versammelte sich und hörte sich den dumpfen Fünf-Stellen-Hinter-Dem-Komma-Quatsch seiner Kollegen an. Und wehe dem, der sich bei diesen Gipfeltreffen der Geistesblitze nicht blicken ließ! Der wurde sofort als »unkollegial« abgestempelt, was natürlich ein weiterer guter Grund dafür war, nicht hinzugehen.
Wenn das bloß alles gewesen wäre!
Aber da waren ja noch die edlen Sponsoren, die mir ununterbrochen im Nacken saßen bzw. im Labor: von Apple, von IBM, von Siemens, von Sony (die sich besonders für Wagners Stahlhündchen interessierten). Nicht zu vergessen die zwei neuen Diplomanden, »die Belgier«, unsere Genies im Anzug. Dann schließlich: die fünf Doktoranden und Post-Doktoranden, ständig gingen sie mir im falschen Augenblick auf die Nerven mit ihren permanenten Problemchen, die allmählich wirklich zu einem Problem auswuchsen - einem Overflow, der mich am Arbeiten hinderte.
Und Wagner? Der war damals immer noch mit seinen künstlichen Käfern, Hündchen usw. beschäftigt: elektronischen Tieren, die noch nicht einmal annähernd die Intelligenz einer Kakerlake besaßen und nach fünf Jahren Entwicklung immer noch allerorts aneckten. Das Labor war voll von seinen Geschöpfen, überall krochen sie über den Boden, geradezu organisch, Wagner hinterher, auf den Knien kroch er seinen Kreaturen nach, das ständige Summen ging mir auf die Nerven (- ich weiß noch, als wir mal im ganzen Labor Stromausfall hatten und alle bei Kerzenlicht und einem Glas Mineralwasser zusammensaßen, funktionslos, denn ohne Strom funktionierte bei uns nichts mehr, überhaupt nichts: kein Rechner und keine Kaffeemaschine, in Folge dessen auch wir selber nicht, wir saßen nur unproduktiv da, und es störte mich, daß das Gebäude nicht einmal über eine stand-by unit verfügte - nur diese kleinen, akkugetriebenen Wesen von Wagner, sie waren die einzigen, die sich unbeirrt weiter ihren Weg durch ein völlig finsteres Gebäude bahnten …).
Wagner war mein Assistent. Das, was durchs ganze Gebäude über den Boden krabbelte, war seine Habilitation. Es war mal so eine Idee von mir gewesen, ein paar künstliche Tiere zu kreieren, und es war, wie die meisten meiner Ideen, wahrscheinlich eine schlechte.
Der Großteil aller Ideen, die unser Wanzenhirn produziert, ist schlecht, das gilt auch für die Ideen, die mein Hirn produziert, aber im Gegensatz zu den Kollegen von der philosophischen Fakultät, deren Output gleich null ist, produziert mein Hirn wenigstens ab und zu auch eine gute.
Wie dem auch sei:
So schlecht war die Idee gar nicht, Wagners Tierprojekt hatte nur einmal mehr gezeigt, daß die einfachen Dinge schwierig sind und die schwierigen einfach: integrieren können Roboter seit fast fünfzig Jahren, sie sind Weltmeister im Schach, aber wir können von Glück sprechen, wenn sie in zwanzig Jahren gehen können wie ein fünfjähriges Kind.
Ich war dafür, dieses Tierprojekt endlich abzuschließen, endgültig, es den Japanern zu überlassen, und ich glaube, sogar Wagner hatte allmählich genug davon (eine kleine Abschiedsfeier war schon geplant, die Krönung seiner Habilitation: ein Fußballspiel, einen Robocup, auf den er seine Tiere vorbereitete, das Training fand selbstverständlich in meinem Büro statt, auf meinem Schreibtisch, unter meinem Schreibtisch und um meinen Schreibtisch herum).
Es ging darum, sich jetzt voll und ganz dem neuesten Projekt zu widmen, meinem größten: dem Psycho-Projekt.
»Auf Psycho!« sagte Wagner triumphierend und erhob seine dampfende Tasse.
Ich lächelte und nahm einen Schluck von meinem Kaffee. Dann ging ich - die Kaffeetasse in der linken Hand und in der rechten eine Schachtel Zuckerwürfel - zum Fenster, lehnte mich an die Fensterbank und sah in die Sonne.
Ich suchte eine Zigarette.
Ich liebte das Wetter um diese Jahreszeit, die klare Luft, die trockene, männliche Kälte. Ich ärgerte mich bereits jetzt über den bevorstehenden Sommer, diese drückende Hitze in der Stadt, der nutzlose Schweiß am Körper, dazu dieser Gestank von Müll, der aus den Gassen drängt, dieser Gestank von Verwesung und Urin, geradezu deprimierend.
»Hast du vielleicht eine Zigarette, Wagner?« fragte ich.
Wagner schüttelte - inzwischen wieder durch die Lupe blickend - den Kopf: »Mensch, ich doch nicht!«
Ich sah mich um. Dann nahm ich einen weißen, in den Sonnenstrahlen glitzernden Zuckerwürfel aus der Schachtel und zerkaute ihn; es knirschte.
Wagner blickte hoch, sah mich an mit den blonden Locken im Gesicht, schaute auf die Zuckerschachtel und schüttelte nochmals, diesmal etwas empört, den Kopf.
Ich dachte an Psycho.
Kein Kind - einmal von Kant abgesehen - ist von Geburt an intelligent. Aber schon nach ein paar Monaten Erziehung fängt es an, einfache Geschichten zu verstehen. Psychos Aufgabe war ein Kinderspiel: unser Geisteskind sollte Geschichten verstehen, einfache Kindergeschichten. Und dafür brauchte es genau das, was jedes andere Kind auch besitzt, wenn es beginnt, Sprache zu verstehen: Wissen. Das war unser Ziel: nicht ein weiteres, regelbasiertes Expertensystem, auch keine Kakerlaken, die über den Boden kriechen, sondern die Lernmaschine mit gesundem Menschenverstand.
Wagner war von dem Gedanken begeistert, ja geradezu besessen. Die letzten fünf Jahre hatte er seine Abende und Sonntage damit verbracht, Psycho (sprich: saiko) etwa 10 Millionen Wissenseinheiten einzutrichtern, banale Fakten, die jedes Kind kennt: Daß es nachts dunkel ist und dunkel bleibt und für gewöhnlich nicht plötzlich hell wird, bis ein neuer Tag anbricht, und daß es manchmal länger dauert, bis es wieder Tag wird, aber daß es immer wieder Tag wird und immer wieder Nacht. Wenn die Zeit es mir gestattete, stieß ich dazu und leistete Wagner und Psycho Gesellschaft. Bis tief in die Nacht saßen wir dann nicht selten in dem finsteren Keller, wo sich Psycho befand, tranken Kaffee und programmierten (da Wagner eigentlich Nichtraucher war, hielt ich mich, so gut es eben ging, mit den Zigaretten zurück, doch ab und zu, wenn es Probleme gab, also oft, holten wir uns eine Schachtel am Automaten, frustriert, und dann paffte auch Wagner eine mit - eine? Meistens ging die ganze Schachtel drauf, so daß man sagen kann, daß aus dem Ganzen dann wirklich eine Nacht- und Nebelaktion wurde …). Irgendwann, meist mitten in der Nacht, wenn die Welt schlief und sogar Wagner keine Lust mehr hatte, verabschiedeten wir uns in der Dunkelheit und fuhren nach Hause für ein paar Stunden Schlaf. Psycho indes arbeitete weiter, sortierte in der Zwischenzeit die eingegebenen Daten, suchte nach Inkonsistenzen im System, machte also im Grunde genau das gleiche, was alle anderen Menschen um diese Uhrzeit tun, nämlich träumen. Dann am Morgen: Die Berichte seiner Träume auf Endlospapier, Unit für Unit - Wagner und ich als Traumdeuter!
10 Millionen - der Input konnte sich sehen lassen, und doch hatte der Erfolg unserer Erziehung sich bisher, offen gestanden, in Grenzen gehalten. Psycho war noch lange nicht bei Verstand.
»Er weiß schon viel, aber er soll alles wissen!« so Wagner. »So gut wie alles -«
Ich sah ihn an.
»Niels«, Wagner hatte den Schraubenzieher in der Hand und bewegte ihn hin und her, so wie Eltern ihren Zeigefinger, wenn sie ihrem Kind mahnend etwas klarmachen, »er denkt noch nicht richtig. Er macht immer noch viel zu viele Fehler …«
»Soll das dein Ernst sein? Auch ich habe nach fünf Jahren Erziehung noch Denkfehler gemacht, die Kollegen von der philosophischen Fakultät machen den ganzen Tag nichts anderes, und die Welt hält sie trotzdem für intelligent, also was soll's. Ich bin sicher, wir stehen kurz vor der Bifurkation!«
Wagner grinste, er nahm einen Schluck Kaffee, dann blickte er wieder durch die Lupe. »Ich hoffe, du hast recht, Niels, ich hoffe es wirklich …« murmelte er vor sich hin.
Ich sah auf die Uhr. Ein paar Minuten noch …
Ich stand am Fenster und zermalmte noch einen Zuckerwürfel.
Wenn man ganz seitlich guckte, sah man von diesem Fenster sogar den Englischen Garten. Karg und kahl sah er noch aus, eigentlich nach fast gar nichts, beinahe wie eine Baustelle, so ganz ohne Grün.
Diese riesengroßen Parks mitten in der Stadt sind aber auch eine Raumverschwendung.
(Übrigens: Wenn ich heute aus dem Fenster sehe - was mir inzwischen auf den Geist geht, denn seit einigen Wochen mache ich kaum etwas anderes: es fehlen nur noch die Gitterstäbe! -, dann sehe ich zwar auch kahle Bäume, Kastanien, aber nicht die vom Englischen Garten, denn ich sehe nicht aus dem gleichen Fenster wie damals: ich bin nicht im Labor, ich sitze in meinem Appartement. Und tippe. Und sehe aus dem Fenster. Und wie ich gerade tippe und aus dem Fenster sehe, da erscheint plötzlich unter mir auf der Straße - auf der ununterbrochen Autos fahren, ich weiß nicht wohin, irgendwohin, nach Orten, die ich nicht kenne, nicht kennenlernen möchte: sie interessieren mich nicht - eine Frau, eine Frau mit Kinderwagen und hellem Haar, wie das Haar von Evelyn. Ich sah sie, als sie plötzlich hinter einem der Bäume, die am Straßenrand stehen, hervortrat - und ich erschrak, zuckte kurz zusammen, wie es immer mal wieder passiert, sobald ich da unten eine Frau mit hellen Haaren sehe, und mich plötzlich der Wahn überfällt: das ist Evelyn! Ganz kurz nur zucke ich zusammen, ich registriere ein komisches Klopfen im Ohr, auch wenn ich längst begriffen habe, daß es Evelyn nicht ist … Sie wird nicht kommen. Ich sehe weg, versuche mich wieder zu konzentrieren, Blick auf die blätterlosen Bäume, die an der gesamten Straße entlang in Reih und Glied stehen. Obwohl, ganz kahl sind sie auch wieder nicht, diese Kastanien: vereinzelt hängt da noch ein dahinvegetierendes, auf den endgültigen Tod wartendes Blatt. Irgendwie irritiert mich der Anblick, doch passiert es nicht selten, daß so ein Blatt, gerade während ich es betrachte, abfällt. Es bricht, es windet sich, es fällt nicht direkt zu Boden, es schwebt noch ein paar Mal hin und her, es dreht sich um seine eigene Achse - schließlich landet es irgendwo auf die Blätterdecke, auf bereits abgefallene, tote, verwesende Blätter … Unwillkürlich blicke ich doch wieder auf die junge Frau, sie winkt - und erst jetzt sehe ich den Mann, der auf meiner Seite der Straße steht: er ist es, dem die junge Frau zuwinkt. Mein Gott, ist der zapplig - neben ihm ein noch zappligerer Köter, der ihn ankläfft. Blick zurück auf die Frau. Ein bißchen, wenn man so will, sieht sie ihr, Evelyn, doch ähnlich (und nur deshalb habe ich den Text unterbrochen, nicht wegen der Bäume, nicht wegen der Blätter, was sind schon Blätter, sondern um diese Frau zu sehen, die, ich sagte es schon, nicht Evelyn, aber wenigstens imstande ist, ein paar Evelyn-Neuronen oder Julia-Neuronen in meinem Hirn zu aktivieren!). Blick auf den Mann: Jetzt hat er sich auf die Straße gestellt, es gibt aber keine Ampel, und er läuft, läuft doch nicht, er macht einen Anlauf, geht einen halben Meter auf die Straße, geht nicht weiter, er stockt, er bleibt stehen, schaut nach links, jetzt geht wieder einen Schritt zurück, seufzt, streicht sein graues Haar aus dem Gesicht (er hat mehr Haare als ich), schaut auf den Köter, der immer noch ununterbrochen kläfft, Wagner wäre neidisch, dann noch einmal auf die Straße, aber die Autos fahren einfach weiter, rücksichtslos rasen sie an ihm vorbei … Sie werden nicht halten, wenn er so weitermacht, er muß die Augen schließen und durch - ein paar Reifen werden quietschen, wahrscheinlich wird einer hupen, vielleicht wird es krachen, einer wird das Fenster herunterkurbeln und ihn anbrüllen vor Schreck, aber wenn er nicht aufhört sich so zu winden - schon allein der Anblick geht einem auf die Nerven -, sondern nur noch vorwärts geht: nur so werden die Autos halten, wird er diesen Fluß durchqueren und an die andere Seite gelangen, an ihre Seite -)
Zu Psycho:
Meiner Schätzung nach bedürfte es lediglich weiterer 10 Millionen Fakten. Irgendwann würde sie schon kommen, die Intelligenz. 20 Millionen Fakten - das war keine willkürliche Zahl, sondern das Ergebnis einer Hochrechnung, die auf Daten beruhte, die ich mir ganz sorgfältig ausgedacht hatte. Aber damit es jetzt auch endlich voran ging mit diesen Fakten, brauchten wir einen weiteren Erzieher - oder würde es nun doch eine Erzieherin werden? Eine Ziehmutter für unser Geisteskind? Wie dem auch sei: das also war der Grund für die Annonce, die ich aufgegeben hatte, der Grund für die Bewerbungsschreiben, für die Gespräche und die Kopfschmerzen. Und für all das, was passiert ist.
Was den beiden da unten auf der Straße betrifft: sie stehen immer noch da, ein irritiertes Zappeln auf der Stelle, kein Vorwärts und kein Zurück.
(Vielleicht macht er es nachher tatsächlich, der Mann, stellt sich auf die Straße und läuft, Verkehr hin oder her, und vielleicht höre ich nachher tatsächlich ein Reifenquietschen und einen Knall und einen Schrei, endlich ein kleines Spektakel vor meinem Fenster, es ist möglich, warum nicht, vielleicht ist ihre Zukunft jetzt schon Geschichte, und er weiß es noch nicht und sie weiß es noch nicht -)
Und was Psycho betrifft:
Viele Menschen, meist solche, die sich noch nie mit Intelligenz, noch nie mit Maschinen und noch nie mit Programmieren befaßt haben, glauben, das sei doch ganz unmöglich: eine intelligente Maschine programmieren. Aber was glauben denn diese Leute, sind sie selbst? Was ist ein Gehirn? Ein Computer, vierhundert Computer. Kein herkömmlicher Rechner, aber eine Maschine, nichts weiter, nur ist diese Maschine derart komplex, daß bis heute noch kein Ingenieur sie gebaut hat, was überhaupt nicht ausschließt, daß sie eines Tages gebaut werden wird - bloß dann ein bißchen verbessert. Unser Gehirn wimmelt ja nur so von Wanzen (bugs), die einem auf den Geist gehen. Wir sind abergläubisch und konzentrationsschwach, wir sind depressiv oder euphorisch, wir vertragen keine Kritik und haben riesige Mengen nutzloser Information gespeichert. Daß wir bei alledem noch denken können, ist geradezu verblüffend. Wir kriegen epileptische Anfälle, Krebs, Alzheimer. Unser Gedächtnis ist zu klein, unser Denken zu langsam -
»Niels!« sagte Wagner plötzlich und riß mich ruckartig aus meinen Gedanken. »Mensch, sag mal - hattest du nicht etwas vor?«
Ich blickte auf die Uhr: Viertel nach!
Hastig, ohne irgendwas zu schmecken, schluckte ich den letzten Rest - inzwischen kalten - Kaffee die Kehle runter. Fast hätte ich noch einen dieser kleinen, weißen Zuckerwürfel genommen, ließ es, die Finger schon an der Schachtel, dann doch, nahm statt dessen mein Notebook und ging.
Blick aus meinem Fenster, auf die Straße. Diese Frau, der Mann - sie sind nirgends mehr zu sehen, sie sind verschwunden.
Sie sind irgendwo in ihrer Zukunft.


Als das Seminar zu Ende war, verschwand ich so schnell wie möglich durch die Hintertür, da ich schon registriert hatte, parafoveal, wie die zwei Belgier, meine neuen Diplomanden, nette Jungs, aber nervig, wie es nur die Jugend sein kann, auf mich lauerten, um mich mit irgendwelchen Fragen zu attackieren.
Im Lift atmete ich - mich in Sicherheit wähnend - auf.
Ich genoß die Ruhe - als mir plötzlich, auf dem Weg nach oben, klar wurde, daß ich mein Notebook nicht dabei, d.h. vergessen hatte.
Ich kam oben an, der Fahrstuhl öffnete sich, ich war genau dort, wo ich eigentlich sein wollte, das Labor befand sich vor meinen Augen, sozusagen in greifbarer Nähe, was die Unproduktivität meiner mir unmittelbar bevorstehenden Handlung einmal mehr unterstrich. Verärgert drückte ich auf den untersten Knopf, um wieder in den Keller zu gelangen, wo die Einführungsvorlesung stattgefunden hatte.
Kaum unten angekommen, hörte ich bereits die beiden Belgier:
»Du, paß auf mit dem Videoprojektor!«
»Jaja -«
»Hast du das Kabel?«
»Es ist hier.«
»Paß auf! Sieh doch, du trittst auf das Kabel …«
Ich blieb noch kurz vor der Tür stehen, hörte zu, wie die zwei Hochbegabten dabei waren, das Notebook zu deinstallieren, dann trat ich hinein.
(Übrigens sprachen sie ein perfektes Deutsch, diese Belgier. Erst später - als ich nämlich wieder mal ein Gutachten für ihre Begabtenstiftung schreiben mußte - erfuhr ich, daß sie zweisprachig aufgewachsen waren. Dann kam ich auch dahinter, daß weder der eine noch der andere wirklich Belgier war, auch wenn irgendwie jeder im Labor sie dafür hielt … Nicht, daß ich diese Information für besonders relevant halte, ich will nur die Fakten richtigstellen. Wie dem auch sei: Ich glaube, sie freuten sich letztendlich, auch wenn es nicht stimmte, daß man sie »die Belgier« nannte - so gingen sie zumindest nicht unter in der amorphen Studentenmasse.)
»Herr Nefarius! Sie haben Ihren Computer vergessen!« sagte einer der Diplomanden, als er mich sah. Er lächelte, irgendwie triumphierend, mit großen Kinderaugen hinter einer dicken, komischen Brille. Selbst war er auch dick und komisch, irgendwie kindisch, trotz Anzug, ein kindliches Lächeln mit roten Backen. Dazu diese unspezifische Begeisterung, die ihm ins Gesicht geschrieben stand, aber ununterbrochen, nicht als temporärer Zustand, sondern als Charaktereigenschaft, ich weiß auch nicht warum, so als hätte er immer gerade einen mühsam errungenen Erfolg erlebt.
»Sie sind sicher, daß nicht er mich vergessen hat?« sagte ich und guckte auf mein Notebook, das er gerade zuklappte.
»Schon fertig!« rief der Belgier mit der Brille und sah mich an mit begeistertem Blick: »Wollen wir in die Cafeteria?«
Die Frage war bei den beiden Belgiern nur eine Frage der Zeit. Mehr als das: sie war die Frage zu zwanzig weiteren Fragen.
Ich schwieg -
Einerseits hatte ich keine Zeit für ein belgisches Kaffeekränzchen.
Andererseits stellte ich mir plötzlich vor, wie oben in meinem Büro wahrscheinlich schon wieder ein paar Sponsoren von Sony saßen, nur darauf wartend, mir auf den Geist zu gehen mit Terminplanung, Budgetfragen usw. - Ballast für die Neuronen.
Dann noch lieber zwei Belgier und eine Tasse Kaffee!
(Nun gut, ich konnte auf die Sponsoren nicht verzichten, aber gerade das war ja das Problem!)
Außerdem waren sie wirklich sehr nett, meine beiden Diplomanden, auch wenn sie sich für hochbegabt hielten.
Ich hingegen hielt sie für homosexuell - eine Hypothese allerdings, die ich im Laufe des Semesters zugunsten der Nullhypothese verwarf.
»Gut«, sagte ich letztendlich, »laßt uns gehen.«
Wir spazierten zur Tür.
»Moment - muß der Videorecorder nicht mit?« fragte plötzlich der Belgier ohne Brille. Er hatte eine näselnde Stimme und sprach irgendwie mechanisch, wie ein Sprachprogramm in der Lernphase. Er trug einen ähnlichen Anzug wie der Brillen-Belgier, hatte aber nicht das feiste Grinsen und nicht die roten Backen, im Gegenteil, er war schlank und blaß, geradezu gelblich im Gesicht, irgendein Enzymdefekt. Er wirkte seriös, vielleicht durch seine Stimme, aber ich glaube, er hatte den gleichen kindischen Humor wie sein Kollege.
»Nein«, sagte ich, »der bleibt hier, der gehört mir nicht.«
In der Cafeteria wunderte ich mich, daß der Kaffee, den ich trank - und der mich, zusammen mit den Zigaretten, wieder aufmunterte, so daß ich nicht mehr so genervt war, mich überfiel nachgerade ein Redeschwall -, nicht gleich wieder aus mir herauslief: die Belgier durchlöcherten mich geradezu mit Fragen.
»Sie meinen: Emotionen als Gefahr?« fragte der Belgier mit Gelbstich und Androidenstimme.
»Klar«, sagte ich, zündete eine Zigarette an und nahm einen Schluck Kaffee.
Ich blickte durch den Raum.
Die Cafeteria war so gut wie leer, kaum ein Mensch zu sehen.
»Nehmen Sie eine typische Szene«, sagte ich, »ein Verliebter, na, Sie zum Beispiel«, und ich sah auf den Gelbstich-Belgier, »zeigt seinem Kollegen«, und jetzt sah ich auf den anderen, den mit der Brille, »seine neue Freundin, in die er sich gerade verliebt hat. Was passiert?«
»Wahrscheinlich mag die Freundin den anderen lieber und verläßt deshalb ihren Freund. Er ist jetzt schon Geschichte, und nur er weiß es noch nicht«, sagte der Brillen-Belgier sofort und grinste zu seinem Kollegen hinüber.
»Ist ja sehr witzig«, sagte dieser mechanisch.
»Sie müssen sich vorstellen«, sagte ich ohne zuzuhören: »Unser Freund hat tagelang von der Frau geschwärmt: sie sei das schönste Geschöpf, ein Engel usw. Sie kennen das … Jetzt sieht der Freund die Frau mit eigenen Augen und weiß nicht, wie ihm geschieht. Sie? Diese Person? Um Himmelswillen - was soll an dieser Person bloß so besonders sein? Und natürlich ist es nicht Frau, die etwas Besonderes ist, sondern der Zustand, in dem sich unser Freund befindet.« Ich sah den Belgier mit der Brille an. »Also - was ist mit ihm passiert?«
Schweigen -
Der Brillen-Belgier sah mich mit großen Kinderaugen an.
»Ganz einfach: Ein kleines, atavistisches Modul hat die Macht über das System übernommen. Der Rest der Maschinerie wird fortan gestört - die Wahrnehmung ist verdorben, die Kritikfähigkeit lahmgelegt. Unser Freund fühlt nicht mehr normal, er denkt nicht mehr normal. Er lebt in einer Wahnwelt, die er selbst nicht hintergehen kann. Durch die Umlegung des Schalters ist sein System funktionsgestört - aber bekanntlich kann er diesen Schalter nicht selbst betätigen. Mehr als das: Der Schalter selbst versetzt das System in einen Zustand, der dafür sorgt, daß er den Zustand nicht verlassen will. Wie bei einer Sekte.«
»Ja und?«
»Was heißt hier ›ja und‹? Wenn Sie morgen einen Virus auf der Festplatte haben, auf dem sich alle Ihre Daten befinden, finden Sie das dann auch lustig?«
»Und das wollen Sie vergleichen?«
»Ja, sicher. Das ist haargenau das gleiche.«
Die Belgier sahen mich an.
»Aber darum geht es gar nicht. Es geht nur darum: Emotionen sind große Schalter. Verliebtheit, Angst, Eifersucht - Schalter, die das Hirn in einen bestimmten Zustand bringen. Das Gehirn wird auf die Verfolgung eines anachronistischen Zieles hin optimiert, aber im Grunde hat diese Optimierung fatale Folgen für die Kognition …«
»Eben! Das wollte ich gerade sagen: Warum werden wir dann überhaupt verliebt? Das hat sicher eine wichtige Funktion …«
»Ja natürlich!« sagte ich: »Hatte …« Ich nahm einen Zug von meiner Zigarette.
Die Belgier sahen mich an, wortlos -
»Die Geschichte kennen Sie doch …« sagte ich irgendwann und sah den gelbstichigen Belgier in die Augen.
Er schüttelte irritiert den Kopf.
Auch der Brillen-Belgier blickte mich nur schweigend an.
»Sagen Sie bloß, Sie kennen das nicht!« sagte ich erstaunt. Ich wollte die beiden nicht necken: ich war wirklich verblüfft.
»Verliebtheit«, sagte ich dann, »ist ein Partnerkitt, ein Kitt, den sich unsere Gene ausgedacht haben, um ihre Unsterblichkeit sicherzustellen. Letztendlich sind es die Gene, die den Schalter im Gehirn umlegen, damit wir sie kopieren.«
Die Belgier blickten mich nur irritiert an, einen Moment war ich verunsichert, aber allmählich wurde mir klar, daß sie wirklich keine Ahnung hatten, wo sie herkamen.
»Im Klartext: Wir sind Maschinen, die von Genen gebaut wurden, damit wir sie kopieren. Irgendwann werden wir sterben, aber unsere Gene werden weiterleben in anderen Körpern, d.h. wenn sie sich kopiert haben. Allerdings haben die Gene ein kleines Problem: Um sich zu kopieren, brauchen sie einen Partner. Aus diesem Grund programmieren sie ihre Träger so, daß diese sich ab und zu an einen Partner binden wollen. Irgendwann ist der Kopiervorgang vollbracht, der Schalter wird wieder umgelegt - und die Verliebtheit verschwindet …«
Keine Ahnung, ob die beiden Diplomanden mir folgten.
»Nun gut«, sagte ich, »zu Zeiten von Lucy, vor drei Millionen Jahren, mögen sie ja ihren Sinn gehabt haben, die Schalter im Hirn. Bei den Australopithecinen brauchte die Frau den Mann noch, der sie und das Kind mit versorgte, die Frau brauchte den Mann noch, um ihre Gene zu kopieren - und umgekehrt. Das gleiche gilt für die Schalter Angst und Eifersucht: auch sie dienen dem Genegoismus und hatten deshalb eine wichtige Funktion.«
Ich drückte meine Zigarette aus. Blick auf die Uhr - eigentlich hätte ich mich längst auf den Weg zu meinen Sponsoren machen sollen, ich wurde langsam etwas nervös.
»Und heute?« fragte einer der Belgier.
»Heute? Heute ist das alles ein Anachronismus! Wenn eine Frau abends einen Proteinhunger bekommt, dann geht sie zum nächsten Supermarkt und kauft sich ein Steak, ganz einfach. Sie sollte sich nicht verlieben, Verliebtheit ist vollkommen überflüssig, ebenso wie Eifersucht. Es ist Ballast und steht unserer Entwicklung im Weg. Und es wird Zeit, daß wir uns von diesem Ballast verabschieden!«
»Aber«, sagte der Belgier mit dem Gelbstich und einem selbstzufriedenen Lächeln, »wenn das so ist, dann ist auch Sex überflüssig, denn Kinder kann man auch im Reagenzglas herstellen.«
»Ja und?« sagte ich. »Natürlich ist Sex lächerlich!« Ich blickte auf den Tisch neben uns, an den sich gerade eine etwas ältere Dame hingesetzt hatte; sie sah irritiert zu unserem Tisch herüber.
Ich sah wieder auf die Belgier. »Finden Sie nicht?« fuhr ich fort, als ich merkte, daß sie schwiegen. »Sie sagen bestimmt: Aber es macht doch soviel Spaß! Nur denke ich nicht, daß der Sinn des Lebens darin besteht, Spaß zu haben. Ich bin Stoiker, kein Hedonist. Warum, wenn Genuß der Sinn des Lebens ist, sind wir dann nicht alle japanische Käfer? Die haben bestimmt weniger Sorgen und mehr Spaß in ihrem Leben als wir!«
»Sind Sie ein Mönch?«
»Das bin ich nicht«, erwiderte ich und sah auf meine Uhr, ich war etwas irritiert, ich mußte weg. »Das Gehirn besteht nun einmal aus verschiedenen Bauteilen, Modulen, die man nicht alle kontrollieren kann. Was das betrifft, hatte Freud durchaus recht: Wenn man alle diese Module unterdrückt, kann das zu Störungen im System führen. Ich sterbe schließlich, wenn ich sage: ab jetzt arbeite ich nur noch und ignoriere meinen Hunger. Das heißt aber nicht, daß ich mich von diesen Trieben beherrschen lasse und meine Zeit damit verschwende. Im Gegenteil, man sollte sagen: Schade, daß wir uns so entwickelt haben! Schade, daß ich jetzt meinem Sexinstinkt nachgeben muß, diesem Geschrei meiner Gene, daß ich ein Wegwerfidiot meiner Gene bin und an ihrer Unsterblichkeit statt an meiner eigenen arbeite - wieviel lieber würde ich an meinem Rechner sitzen und mich geistig entwickeln, statt meine Zeit mit etwas zu verschwenden, das mich keinen Nanometer verändert!«
»Ich habe aber schon das Gefühl, daß Sex mich verändert«, sagte der Belgier mit der Brille. Das verschmitzte, gelbstichige Grinsen des anderen verriet einmal mehr, daß sich meine beiden Hochbegabten, beflissen darum bemüht, wie Herren auszusehen, noch im pubertären Stadium befanden.
»Man fühlt sich erleichtert durch die Triebbefriedigung«, sagte ich und sah auf meine Uhr, »wie man sich erleichtert fühlt, nachdem man einen Hamburger gegessen hat. Aber hat der Hamburger mich verändert? Nicht im geringsten. Was habe ich dazugelernt? Gar nichts! Sex ist eine äußerst unproduktive Prozedur, die man hin und wieder durchführen muß, um nicht verrückt zu werden. Wie das Händewaschen eines Zwangsneurotikers: man muß es tun. Das heißt nicht, daß es einem etwas bringt und daß man es kultivieren muß bis zum geht nicht mehr. Der Sextrieb jedenfalls wird die erste Wanze sein, die ich entfernen werde, sobald man mich digitalisiert hat und ich mich selbst debuggen kann!«
Die Belgier lachten, obwohl ich es im Grunde ernst meinte.
»Warum sitzen Sie dann manchmal stundenlang an ihrem Synthesizer und spielen Musik? Ich weiß nicht, ob es kultiviert ist, was Sie spielen, aber das ist doch auch nur Genuß?«
»Stundenlang! Ich improvisiere ab und zu … Aber ich liebe Musik nicht, ich mache Musik. Ich höre mir auch nicht zweimal das gleiche Musikstück an, ich empfinde es als Erniedrigung, daß mein Gedächtnis sich das Stück nicht gleich beim ersten Mal gemerkt hat. Die meisten Menschen hören sich Musik an, um sie zu genießen. Ich aber will wissen, was Musik mit dem Gehirn macht, ich will wissen, was das ist: ›Musik genießen‹. Deshalb beschäftige ich mich damit«, sagte ich und sah nochmals auf die Uhr: schon wieder eins vorbei!
Länger konnte ich die Sponsoren wirklich nicht warten lassen, außerdem hatte ich nicht mehr soviel Lust, groß herumzudiskutieren über Dinge, die ich für selbstverständlich hielt, weshalb ich mich von den beiden Herren verabschiedete.
(Die Sorge um die Sponsoren erwies sich schließlich als überflüssig: Als ich oben ankam, waren sie noch nicht einmal eingetroffen, statt dessen begrüßte mich der kleine Käfer, an dem Wagner vor ein paar Stunden noch geschraubt hatte, und der sich jetzt offenbar selbständig gemacht hatte.)
»Ja, bis später dann …« sagten die Belgier.
»Wiedersehen!« sagte ich, schüttelte ihnen nacheinander die Hand, nahm mein Notebook und spazierte zum Lift.

 

[Titel & Inhalt Heft 27] [Titel & Inhalt Heft 29] [Wandler Startseite] [top]