Wandler Zeitschrift für Literatur No 27
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Kathrin Groß-Striffler
Helens Ritt
Wenn eine leichte Brise durch die alten Pappeln unten am Parcoursplatz
weht, fangen die Blätter an zu flüstern. Ich glaube, dass das die
Pferde nicht weiter stört, wenn sie in der Abreitkoppel auf ihren Ritt
vorbereitet werden. Diese liegt allerdings auch ein Stück weiter weg vom
Fluss und den hohen schlanken Stämmen an dessen Ufer. Wird die Brise aber
zum Wind und das Flüstern zum Plappern, legt das eine oder andere die Ohren
an oder schlägt unruhig mit dem Schwanz. Ich habe schon öfters beobachtet,
wie sich der locker gebogene Hals meines Pferdes plötzlich verspannte und
die Tritte ungleichmäßig wurden und ich vermehrt die Schenkel an
seinen Bauch pressen musste, bis es wieder willig den Zügel annahm. In
solchen Augenblicken wären mir alte gesetzte Kastanienbäume lieber.
Aber dann würde das einfallende Sonnenlicht nicht in hellen Flecken über
den Rasen huschen ...
Ich stelle mir vor, wie es dort ausgesehen haben mag, damals, vor einem Monat,
als das Unglück passierte, sehe die dicken Fässer am Oxer, die buntbemalten
Stangen an der Dreifach-Kombination, die schweren Sandsäcke rund um den
glitzernden Wassergraben. Sonnensprenkel tanzen über die Hindernisse hin
und sammeln sich auf den Büscheln von Herbstastern, die hier und da aus
Pflanzkübeln wachsen. Sanft und fast geräuschlos bläht sich die
Fahne am Start. Die Menschen sind feiertäglich gekleidet und stellen ihre
Picknickkörbe neben sich auf die Bänke. Ich rieche förmlich den
Geruch nach Würstchen und Kartoffelsalat und denke, genau so muss es gewesen
sein: ein Herbstturnier auf dem Lande. Eigentlich schade, trotz allem, dass
ich nicht dabei war.
Mein Augen brennen vom Nachtdienst und ich reibe sie mit den Fingerknöcheln,
wie es ein kleines Kind tun würde am Abend. Die Mutter hat die ganze Nacht
geweint. Manchmal heulte sie wie eine Wölfin, so dass ich die Tür
schließen musste, um die anderen Patienten nicht zu erschrecken. Dann
kamen Schluchzer, hart und tief aus der Kehle, und dann das Ächzen einer
alten Eiche, die sich im Sturm wiegt. Dazwischen gab es Zeiten der Erschöpfung,
wo sie ruhig war und ich vorsichtig meine Hand auf ihre Schulter legen konnte.
Die Tochter, so schien es mir, hörte nichts und sah nichts, lag reglos
da und starrte vor sich hin. Nur ihre Hand, die linke, öffnete und schloss
sich immer wieder in ganz regelmäßigen Abständen: so hilflos
schien die Geste und so bar jeglicher Kraft, dass es mir ans Herz ging. Die
rechte, die Zügelfaust, lag matt und still auf der Bettdecke. Einmal strich
ich darüber. Es war, als hätte ich Lehm berührt, kühl und
feucht, und meine Finger zuckten zurück.
Ich sann auf Wege, die Mutter zu beruhigen. Ich sprach leise "es wird schon
wieder" vor mich hin, während ich die Tochter versorgte, ihren Puls
fühlte und die Infusion überwachte. Meine Worte fielen in ihre Trauer
wie Regentropfen ins Meer. Andererseits wollte ich gar nicht, dass sie aufhörte
zu klagen, ich wünschte mich an die Stelle der Tochter, wollte diejenige
sein, die solch mächtige Gefühle auszulösen verstand. Also zögerte
ich die Zeit hinaus, die ich mit deren Pflege zubringen konnte, und badete im
Meer der Mutterliebe, stellvertretend sozusagen und mit heimlichem Vergnügen.
Der Weg zum Stall ist nicht weit, und die frische Herbstluft tut mir gut nach
der langen Nacht. Er folgt den Windungen des Flusses, führt am Parcoursplatz
vorbei und ein Stück über Felder, auf denen noch der Mais steht, mannshoch
und schmutzig-gelb; das Getreide ist schon abgeerntet, die Stoppeln sind untergepflügt.
An einer Biegung des Flusses, dort, wo ein paar Hügel in einer Mulde auslaufen,
liegen die Stallungen. Mein Pferd hat die Nase im Heu und schnaubt. Ich schütte
Hafer in die Raufe und lege mehrere Stückchen Würfelzucker auf das
Getreide. Weiche Pferdelippen nehmen sie auf, ich stelle mir die langen eckigen
Zähne darunter vor, die die Kristalle zermalmen, stetig und ohne Hast.
Ich lege meinen Kopf an die Schulter. Kein Zurückschrecken diesmal, seidige
Wärme dafür und verlässliche Kraft. Nach dem Ausmisten werde
ich reiten, etwas vorsichtiger als sonst und ohne Sprung über das Gatter.
Am Abend ist die Mutter nicht da. Der Arzt erklärt mir, dass er ihr ein
Beruhigungsmittel gespritzt habe und dass sie jetzt schlafen würde im Zimmer
am Ende des Ganges, das für solche Zwecke reserviert ist. Ich werde der
Tochter Mut zusprechen und mit ihr üben, die Finger zu bewegen. Ich glaube
ganz fest an die Macht des Willens - und an die Macht der Suggestion. Der Reiter
überträgt seinen Willen auf das Pferd, und das Pferd gehorcht. So
einfach ist das.
Am Bett sitzt ein Mann. Etwa in meinem Alter, als Vater kommt er also nicht
in Frage. Er schaut gleich wieder weg, als ich das Zimmer betrete. Trotzdem
fällt mir sofort eine gewisse Ähnlichkeit zwischen ihm und der Kranken
auf, die Stirn ist hoch wie bei ihr, die Augen stehen weit auseinander. Es muss
der Bruder sein. Den Ausdruck in seinem Gesicht kann ich nicht deuten, ich sehe
Falten und Furchen und erkenne Schmerz, aber auch noch etwas anderes, das mir
Unbehagen bereitet. Am liebsten möchte ich ihn davonschicken, irgendwie
passt er nicht hierher. Er scheint von meiner Ablehnung völlig unbeeindruckt
und brütet vor sich hin, leicht vornübergeneigt jetzt auf seinem Stuhl,
das Kinn in den Händen. Nach einer Weile gibt es nichts mehr für mich
zu tun. Ich kippe das Fenster, decke die Kranke zu und verlasse den Raum ohne
Gruß.
Spät in der Nacht: da ist es wieder, das Schluchzen, ich hatte es dann
doch regelrecht vermisst. Die Mutter kommt den Gang herunter und geht ins Zimmer
ihrer Tochter. Kaum hat sich die Tür hinter ihr geschlossen, da öffnet
sie sich wieder und der Bruder stürmt heraus und hastet Richtung Treppe.
Als ich ins Zimmer komme, sitzt die Mutter am Bettrand. Sie schluchzt nicht
mehr. Sie lächelt sogar, unverbindlich-freundlich, als ich mir an der Infusion
zu schaffen mache. Mir zittern die Hände. Ich wechsle die Flaschen aus,
so gut es geht, stelle die Tropfgeschwindigkeit neu ein und schleiche hinaus,
wieder grußlos.
Der Bruder kommt nicht zurück in dieser Nacht. Auch sonst bleibt es still
im Zimmer. Am Morgen ist mir, als hätte ich seit Ewigkeiten nicht mehr
geschlafen. Im Schwesternwohnheim falle ich angezogen aufs Bett und sofort in
bleiernen Schlummer.
Bunte Blätter kreiseln aus den Bäumen und regnen auf mich auf dem
Weg zum Stall. Zarte Spinnennetze spannen sich in den Ecken der Box. Fahrig
hantiere ich mit der Mistgabel, die dunkelbraunen Pferdeäpfel fallen immer
wieder durch die Zinken. Auch das Pferd ist unruhig und schlägt mit dem
Schweif, wenn ich in die Nähe seiner Hinterbeine komme. Um ein Haar steche
ich mit der Gabel in das rosa-bläuliche Fleisch über seinem Huf. Nein,
ich werde heute nicht reiten. Es soll für einige Zeit auf der Koppel grasen,
der Bauer wird es am Abend hereinholen.
Graue Wolken schieben sich am Himmel entlang. Binnen kurzem wird es dämmrig
werden und feucht und kühl. Ich fürchte mich vor der Nacht - der Schwärze,
dem Nebel - und dem, was sie bringen wird; umso größer ist die Furcht,
als sie unbestimmt ist und vage.
Im Krankenhaus empfängt mich Stille. Auf Zehenspitzen laufe ich zum Zimmer,
öffne leise, zögernd die Tür. Nur der Bruder sitzt am Bett. Er
schaut mich immerhin so lange an, dass ich verlegen werde. Seine Haut ist grau,
die fettigen Haare sind im Nacken zusammengebunden. Männer mit langen Haaren
sind mir ein Greuel. Ich zwinge mich, seinen Blick zu erwidern - und mir ist,
als fiele ich aus großer Höhe wie ein Blatt vom Baum, sachte kreiselnd
wie dieses, und noch im Fallen sage ich mir: Blätter stürzen nicht
ab und prallen nicht auf, also schließe ich die Augen und lasse mich treiben.
Er hält die Hand seiner Schwester - die rechte - mit beiden Händen
umschlossen, beschützend und doch ganz zart. Ich versuche, kompetent auszusehen,
und messe den Puls an der linken und sehe die feinen Härchen auf seinen
Fingern. Hinter uns geht die Tür auf. An der Art, wie er die Hand seiner
Schwester loslässt, weiß ich, wer hereingekommen ist. Ich ertappe
mich dabei, dass ich ihn besänftigen will. Er starrt seine Mutter an. Ich
habe noch nie Hass empfunden - zumindest kann ich mich nicht erinnern - aber
jetzt weiß ich, wie er aussieht. Ich flüchte mich ins Schwesternzimmer
und gräme mich und martere mich mit Fragen, auf die ich keine Antwort finde.
Ich weiß nicht, was zwischen den beiden vorfällt in diesem Augenblick.
Ich weiß nur, dass die Mutter den Rest der Nacht still und zusammengesunken
am Bett ihrer Tochter sitzt. Keine Rede davon, sie zu trösten, sie ist
jenseits von Trost. Ich bin mir auch gar nicht sicher, ob ich das noch gerne
wollte.
Am Morgen finde ich eine kleine blaue Primel im Schwesternzimmer für mich.
Daneben eine Karte: Sie können doch nichts dafür. Bernhard.
Nach der Regennacht ist die Luft seltsam klar, wie es so nur im Herbst sein
kann. Ich sehe hoch zu den Wipfeln der Bäume, wo sich jeder Zweig einzeln
und scharf umrissen abhebt vom lichten, fast durchsichtigen Blau des Himmels.
Ich habe keine schützende Kuppel über mir, nur helle, endlose Weite,
und mir ist das recht so. Heute werde ich den Sprung übers Gatter wagen.
Wir werden sanft aufkommen, mein Pferd und ich.
Ich flechte meine Haare zu einem dicken schweren Zopf und warte auf das Ende
der Geschichte und den Anfang der neuen. Doch vorher muss Bernhard mich noch
zum Parcoursplatz mitnehmen, unter die Pappeln, die mit ihren nassen Blättern
klatschen, und mir von Helens Ritt erzählen, und ich werde ihm zuhören.
Ich werde sehen, wie sie ihr Pferd auf scharfe, enge Volten zwingt und über
die Sprünge treibt. Ihre Mutter wird mit durchgedrücktem Kreuz auf
der Tribüne sitzen, und ich kann erkennen, dass sie ihre Hände im
Schoß verkrampft. Wenn der Windstoß über den Platz fegt, werden
sich meine Nackenhaare sträuben und ich werde mich nicht wundern, dass
das Pferd scheut und den Sprung verweigert, einmal, zweimal, dreimal, bis es
schließlich ausscheidet. Aber was dann kommt - damit hatte ich nicht gerechnet
und auch nicht rechnen wollen, nicht mit den schmalen Lippen der Mutter, die
einen Befehl formen, einen Befehl, der noch im Aussprechen zum Fluch wird und
mir und Bernhard in den Ohren gellt. Und ich kann mich nicht abwenden von dem
Sprung und dem Sturz und Helens Kopf, der auf die Stange schlägt, und dem
Ausdruck in Bernhards Augen.
Aber dann sage ich zu ihm, und diesmal bin ich es, die ihn an der Hand nimmt
und ein Stück wegführt, Richtung Fluss, weißt du, bei uns Reitern
heißt es: erst wirf dein Herz über die Hürde, und dann springe
ihm nach ... . Und dann bin ich ganz still, während Bernhard meinen Worten
nachsinnt, doch dann nickt er, zum Glück, und lächelt mich an.
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