Wandler Zeitschrift für Literatur No EditRegion327
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Volker Frick
Der Tod in Genf
Estela Canto über J. L. Borges' Ekstase
In 17 Kapiteln nebst einer Einleitung, denen jeweils Zeilen aus
dem Werk von Jorge Francisco lsidoro Luis Borges Acevedo vorangestellt sind,
und einer editorischen Notiz - "Den eigentümlichen Reiz ihrer Erinnerungen
bestimmt (...) der entwaffnend private 'unkollegiale' Blick auf den Menschen
Borges in und hinter seinem literarischen Werk." - versucht Estela Canto,
selbst Schriftstellerin, einzufangen die Jahre in denen ihr Borges' Nähe
zuteil wurde. Nah gekommen ist sie ihm jedoch nicht. Sie, die Abenteuer lieber
mit Männern anderer Herkunft genoß, in einem Argentinien, welches
nicht nur vielen deutschen Nazis Heimstatt bot, sondern durch eine Politik bestimmt
wurde, die sich als die softversion des deutschen Faschismus feiern ließ
(mit Madonna in der Hauptrolle), sie erzählt uns kaum vom blinden Barden
Borges, dessen Vater durch Erblindung gezwungen war seinen Beruf als Anwalt
und Dozent für Psychologie aufzugeben. Estela Canto erzählt sich selbst
und ihre Jahre, schreibt "Was man in Büchern liest, ist eine Sache,
die Realität eine andere."
Haben Sie Borges gelesen? Da ich meine Frau zum ersten Mal sah, hatte sie Borges
noch nicht gelesen. Jahre vergingen. Da sah ich sie wieder, und sie schenkte
ihn mir. Estela Canto schreibt "Nie ist ein Mensch mehr mit sich allein
gewesen ..." - Estela Canto ist nie allein gewesen, und der Loyalität
zur Einsamkeit kann sie nur reaktiv begegnen: den Sockel unter jenem Monument
wegzuziehen. Aber der Aristokratie des Geistes kann sie sich nicht beugen. Jorge
Luis Borges ist ein Erzähler, und es gibt keinen anderen, der Lesende so
sehr mit sich selbst konfrontiert. "Wenn Sie wollen, daß ich Sie
liebe,/ Lachen Sie nicht zu laut." rezitiert von Borges, so Octavio Paz,
im Original Verse von Toulet.
Das Labyrinth der Einsamkeit. Leben und Tod, Zeit und Ewigkeit waren die essentiellen
Themen des Traumtigers. Die epigraphische Architektur der Zeit in geschlossenen
Räumen und die Kartographie des Realismus in zirkulierenden Ruinen. Die
Stadt ist Text, Labyrinth, Montage, und die Fusion der Gegensätze eine
atomare Metapher für das Unendliche, Simulakrum eines mathematischen Modells,
das Labyrinth in der Monade. Relikte einer unmöglichen Erinnerung, Dinge,
die vielleicht gewesen. Sie war unfähig nicht zu denken. Der Dämon
des Zufalls ist der Tod des Textes. Die Poetik der totalen Vision - Blake -
hinter der Maske des Propheten erscheint im Museum unter den Wolken wartend
die Inschrift gleich einem Alptraum. Die eiserne Münze fällt in das
Inferno des Regens im Spiegel. Elegie des Mondes, Luna de enfrente. Gedicht
der Gaben. Einmal ist nie genug? Das okkulte Auge trifft auf Kognition, Referenz,
Lektüre. Das leere Buch, Traum und Tod, Zivilisation und Barberei, das
zyklische Duell und das Gegenüber als alien. Zwischen La Mancha und Babel
die Bewußtheit als Quelle der Welt. Er war unfähig nicht zu benennen.
Jörge Luis Borges war international unbekannt, bis er sich 1961 den Prix
Formentor, den Internationalen Verleger-Preis, mit Samuel Beckett teilt. Borges,
wie Proust und Joyce, blieb der Nobelpreis erspart.
"lf I were asked to name the chief event in my life, I should say my father's
library." 1986 starb Jörge Luis Borges in Genf (Leberkrebs), eineinhalb
Monate zuvor hatte er zum zweiten Mal geheiratet. Der Mond über dem Weg.
Ein anderer, der gleiche. Gebet an die Nacht. Geschichte der Nacht, ihrer Ewigkeit.
Übersetzungen von Virginia Woolf, Kafka, Michaux (Ein Barbar in Asien),
Carlyle, Emerson, Faulkner und Whitman. Der Süden. Und die Weltliteratur.
Mit-/Herausgeber literarischer Zeitschriften; schrieb unter Pseudonymen, zum
Beispiel gemeinsam mit Adolfo Bioy Casares als B. Suárez Lynch: Un modelo
para la muerte. Im Jahr 1946, nach dem Machtantritt von Juan Domingo Perón,
wird Borges zum Inspektor der städtischen Geflügelmärkte ernannt.
1955 dann, nach dem Rücktritt von Perón, zum Direktor der Nationalbibliothek.
Als 18 Jahre nach dem Sturz von Perón dieser 1973 durch Wahlen wieder
an die Macht kommt legt Borges dieses Amt nieder. Mitten in dem Schwarz-Weiß
von Buenos Aires eine halbtote Ameise. Versteinerte Menschen. Wir haben uns
lange gesucht und nie gefunden.
NoonzoomBuch. Aber was bedeutet das alles? Kann Estela Canto uns sagen, was
den Menschen Borges umtrieb? Oder ist es denn ausschließlich ein Buch,
wie der Klappentext es vorschreibt: "Über einen Schriftsteller, dessen
Manien und Neurosen direkten Eingang in sein Werk gefunden haben." Das
Buch erschien 1989 in Madrid unter dem Titel Borges a Contraluz, aber Estela
Canto war eine Frau, die den Worten und dem Werk diesen Liebhabers mittelalterlicher
englischer gauchos und des überzeichneten All-Tag-Augen-Blicks nicht wirklich
nahe kam. Konträr und antipodisch ist dieses Buch, analytisch sezierend,
doch auch gepflegt rotzig aufdeckend qua Rückblick Momente, die zwar spiegeln
ein zartes Aufscheinen eines tiefen Gefühls, aber doch auch vor Angst zittern,
da dieses Versagen trotz allen Versprechungen so spät schon letztes Wort
bleibt. "Er glaubte nicht an den freien Willen und liebte es, folgenden
Ausspruch von Carlyle zu wiederholen: 'Die Weltgeschichte ist ein Text, den
wir unablässig lesen und schreiben müssen und in dem auch wir beschrieben
werden'." Aber der Anfang ist gemacht. Jedes Spiel enthält die Idee
des Todes. In diesem Jahr feiert die literarische Welt den Hundertsten Geburtstag
von JLB. Fangen Sie an zu lesen.
Estela Canto: Borges im Gegenlicht. Verlag Antje Kunstmann München
1998,222 S.
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