Wandler Zeitschrift für Literatur No EditRegion327
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Matthias Falke
Diskofieber
After I got across the road,
I felt like I was sort of disappearing.
Salinger: Catcher in the Rye.
Sie waren die Passage entlanggekommen und drückten sich in den Eingang, wo ein wortloser Langhaariger ihnen das Eintrittsgeld abknöpfte und den Stempel auf die Handrücken schmierte. Dann stießen sie einander die Treppe hinunter, wo ihnen der Donner der Baßreflexboxen entgegenbebte. Die Luft schien in pulsende Detonationen erstarrt und walzte jeden Gedanken aus den vibrierenden Leibern. Die Mienen zu Masken der Coolness gefroren starrten Halbwüchsige blicklos aneinander vorbei. Schriftzüge und Graffiti, deren Neonfarben aus dem Schwarz der Wände aufkreischten, grellten ihn an und riefen einen vagen und skeptischen Genuß an der haptischen Gewalt der Sinneseinschläge in ihm wach. Rauch durchäderte die Dunkelheit, deren raumloses Gewölbe von nacktem Rhythmus durchrollt wurde. Sie drängten sich um einen flachen schmierigen Tisch; neben ihnen ein Pärchen, in hingebungsvollem Geknutschte verschlungen. Er ahnte, daß es penetrant sei, wie er dem Mädchen auf die geschlossenen Augen, den schlanken Halsansatz, das lippige Wühlen der Backen unter dem kühlen Make Up glotzte. Die Bedienung brüllte irgendetwas, das er als Aufforderung nahm, ein Bier zu bestellen. Dabei waren sie schon ziemlich betrunken. Sie hatten den Nachmittag auf dem Umzug verbracht. Eine Weile hatte er Judith auf den Schultern getragen, und das war immerhin so nah, wie er noch nie einem Mädchen gekommen war. Gunnar sagte hinterher, ihr Arsch in der knallengen Jeans hätte scharf ausgesehen, wie sie da in seinem Nacken thronte; und er redete sich jetzt ein, daß er ihn beneidet habe. Er hatte sie eben eine Weile so hochgenommen, damit sie über die Menge hinwegsehen konnte, und sie dann wieder zwischen das Konfetti und die Luftschlangen und die krabbelnden Kinder, die sich um die Gutzel stritten, abgesetzt. Nichts weiter. Wenn, dann stand er eher auf Melanie, ihre Freundin, aber da war natürlich nichts zu machen.
An der Bar und an den anderen Tischen war es ziemlich leer; auf der Tanzfläche
drehten sich zwei Mädchen in augenloser Ekstase umeinander, und er wußte
nur, daß es ihm niemals möglich sein würde, sich so gehen zu
lassen. Wir sind zu früh!, brüllte Maddin ihm ins Ohr, die gehen alle
erst durch die Kneipen! Vor zwölf is' hier nix los.
Nach dem Umzug hatten sie die Akademie angelaufen und sich erstmal einen angesoffen.
Dann waren sie mit den Rädern zwischen West- und Innenstadt hin- und hergependelt,
hier und da noch ein Pils mitnehmend. Bei der zweiten Fahrt hatte Maddin sich
mitten auf der Straße auf die Schnauze gelegt und sein Schloß verloren.
Irgendwann hatte Gunnar sich verabschiedet - sie wollten ins Eloy, und dem Muttersöhnchen
wurde es allmählich wohl zu heiß -, aber als sie zu zweit wieder
in Richtung Akademie lostrotteten, um noch ein Aventinus zu löten, war
ihnen Phil begegnet. Also wieder zu dritt, die Mädels hatten sich ja schon
lange abgeseilt. Sie hatten sich noch ein bißchen Mut angetrunken und
waren dann ins Madhouse geschlurft. Drei gröhlende Halbstarke, die einander
um die Schultern faßten und schwankend durch die Fußgängerzone
mäanderten.
Die beiden gingen jetzt auch auf die Tanzfläche und zappelten da ein Weile
rum. Er spürte, wie sich etwas in ihm auflöste und aus dem Körper
zurückzog, der als durchschütterte Hülle in dem Inferno zurückblieb;
ein Außenposten, den er von weit weg beobachtete. Aus dem Gezüngel
nebenan löste sich ein ernüchternd nichtssagendes Gesicht, das überflüssigerweise
zu Dany gehörte. Sie begann jetzt auf ihn einzureden, wobei er nur jedes
zehnte Wort verstand. Es interessierte ihn auch überhaupt nicht, er fand
die ganze Konversation unter so tumultuösen Umständen überflüssig.
Aber was ihn lähmte und in äußerste Apathie versetzte, erlebten
andere anscheinend als Stimulans. Auch an der Bar standen zwei, die sich wechselseitig
in die Ohren schrien. Irgendwo, wo es ruhiger war, hatten sie sich vermutlich
nichts zu sagen. Da hätte die Stille sie gelähmt, wie ihn hier der
Lärm. Dany war offensichtlich - mit einem müden Blick über den
Haufen aus Jeans und Lederfransen, aus dem hier eine Rockermähne, da eine
zigarettende Hand aufglühte, erschloß er sich mehr, als sie in stundenlangem
Gebrüll mitteilen konnte - mit ihrer Motorrad-Clique hier. Die Mädels
hatten alle ihren eigenen Freundeskreis, Tanzstunde und so, wie die Jungen den
Sportverein; daß er außer den Schulkameraden keine Freunde hatte,
brachte es mit sich, daß er an den meisten Wochenenden zu Hause hockte.
Eigentlich war es das erste Mal, daß er eine Diskothek betrat. Und er
begann darüber zu grübeln, was die Leute hierher trieb. Sie brauchten
die aufpeitschende Gewalt der Musik und des Stroboskopgewitters, um sich aus
der Lethargie zu reißen. Die Stille übertönen, die die Leere
des Alltags überfriert. Die Leere selber, die Öde und Langeweile wegzappeln
in der Euphorie der donnernden Rhythmen. Gleichzeitig das Nachdenken ersticken,
das Grübeln übertäuben, das aus dem Nichtstun aufgekrochen wäre.
Aber er grübelte doch auch! Er war ja fremd hier.
Phil und Maddin hatten ergebnislos versucht, die Mädchen auf der Tanzfläche
anzubaggern; jetzt hatten sie eine Partie Billard eröffnet. Er warf einen
Blick auf Dany, die wieder unter der Lederjacke verschwunden war, und schlenderte
hinüber, wobei er darauf achtete, ein völlig ausdrucksloses Gesicht
zu machen und seinen Gang auch auf keinen Fall vom Rhythmus des Hardrocks, der
gerade wie eine Naturgewalt über den Schuppen hereinbrach, beeinflussen
zu lassen. Er lehnte sich an eine Säule und beobachtete mit gelassenem
Sachverstand das Spiel. Schlechter hätte er es auch nicht gemacht; und
als sie endlich alle Kugeln in die Löcher gemurkst hatten, warf er eine
Münze auf den Tisch, und sie spielten eine Partie zwei gegen einen. Damit
es stilecht aussah, brachte Maddin eine Runde Whisky. Er betrachtete das filmreife
Glas, in dem ein einzelner mickriger Eiswürfel herumtrieb, und nippte entschlossen,
ohne die Miene zu verziehen. Dann hielt er sich wieder an der Säule fest
und sah den beiden zu. Beiläufig stellte er fest, daß Mitternacht
vorbei war, das faszinierte ihn irgendwie immer noch. Erst auf zwei oder drei
Parties war er solange ausgewesen, und der Datumswechsel, der sich gerade in
dem kleinen Fensterchen an seinem Handgelenk vollzog, erinnerte ihn an den Stolz
des Zehnjährigen, der an Silvester lange aufbleiben darf. Wie er so an
sich hinunterblickte, wurde ihm bewußt, daß er seine beste Hose
anhatte, Bundfalten, blau und grün kariert, und er fühlte sich noch
stärker fehl am Platz, inmitten von Heavy Metal Freaks in Jeans und Leder.
Es war aber immer noch nichts los, und so brachen sie schließlich wieder
auf. Er warf sich im Gehen die Jacke über, wie er sich vorstellte, daß
es cool aussah, und schritt mit eiserner Miene am Türsteher vorbei. Sie
hielten sich aneinander fest und eierten zum Eloy hinüber. Die Innenstadt
war schon ziemlich tot, aber in der Seitenstraße, wo der Eingang war,
fuhr ein aufgemotzter Schlitten nach dem anderen vor. Er dachte, wie lächerlich
das doch sei, diese weißlackierten Coupés, und konnte es wieder
einmal nicht fassen, daß die Mädels anscheinend auf so was standen.
Mit dem Türsteher gab es eine kurze Diskussion, weil Maddin noch nicht
sechzehn war, aber weil Faschingsdienstag war, ließ er sie durch. Hier
herrschte jetzt doch ein anderes Flair. Keine Rocker, sondern Popper, kein Gammellook,
sondern gestylte Bräute, in schwarzem und glitzerndem Fummel. Auch die
Musik war irgendwie anders, wenn auch im Grunde derselbe mahlende Baß
alles andere zerstampfte. Es war ziemlich voll, auf der Tanzfläche eckten
dreißig Leute umeinander herum. Sie lösten ihre Bons ein und holten
sich was zu trinken; dann verzogen sie sich in eine Ecke hinter der Tanzfläche.
Der schwarze Boden stieg in flachen Treppen an, er lagerte sich auf eine Stufe
wie ein römischer Senator. Er konnte keine Freude, keine Heiterkeit in
den Gesichtern lesen, sich auch nicht vorstellen, daß das hier jemandem
Spaß machte. Ernst und verbissen starrten die vor sich hin, die allein
wie er im Hintergrund hockten und den anderen beim Toben zusahen. Die wirkten
dafür angestrengt und sonderbar mechanisch. Sie unterwarfen sich vollständig
dem Dröhnen, das aus den Baßreflexboxen auf sie einschlug, die seitlich
über der Tanzfläche schwebten, vom wandernden Licht der Spiegelkugel
überstrichen, vom Schwarzlichtstroboskop zerblitzt. Am schlimmsten waren
die, die sich partout unterhalten mußten und mit verzerrten Gesichtern
aufeinander einschrien. Was trieb die Leute hierher? Es konnte nur Flucht sein
und ein unfrohes, blindes Vergnügen an den synthetischen Gewittern, die
alle Sinne betäubten und billige Sensationen erzeugten. Er entfernte sich
immer weiter aus dem schwülen, von Parfum und Zigaretten durchzogenen Raum
und blickte durch sich selbst wie durch ein schmales Schlüsselloch in den
Tumult hinein, der seinen ganzen Körper mit schierem Schalldruck belegte
und doch als etwas ganz und gar Äußeres von ihm abfiel. Mitten im
Donner, der in den hohen Frequenzen die Schmerzgrenze streifte, zog er sich
zurück, verließ das dröhnende Trommelfell und die bebende Bauchdecke
und entschwebte in einen schwerelosen Raum reinen Räsonements. Phil und
Maddin kamen erhitzt und aufgedreht, stürzten ihre Pils hinunter, erzählten
schreiend etwas von einem Mädchen, das sie angegraben hatten - sie zeigten
sie ihm auch, eine zierliche Dunkelhaarige, deren Bewegungen rund und verlockend
schienen -, und forderten ihn auf, mit hinaus zu kommen. Er verschanzte sich
hinter seiner Betrunkenheit, wies grinsend das leere Tabletten-Päckchen
vor und ließ sich betont schwerfällig zurücksinken. Er wollte
nur zusehen. Da vorne mitzukaspern fiel ihm ja im Traum nicht ein. Aber plötzlich
stimmte etwas nicht; sowie er sich eben noch ausgeklammert und in seiner geistigen
Überlegenheit gesuhlt hatte und die Tanzenden nur verächtlich und
fast mitleidig angesehen hatte, so kippte jetzt mit einemmal sein ganzer Haushalt
herum und er spürte, wie er den Boden unter den Füßen verlor.
War es nicht einfach nur Feigheit, daß er nicht mit nach vorne ging und
es wenigstens versuchte bei den Mädchen? Er traute sich ja bloß nicht,
sich hineinzustürzen, und interpretierte sich seine Feigheit noch als tiefere
Einsicht! Das war so altklug, er schmeckte sich selber schal und abgestanden.
Vielleicht war es vornehmer, hier zu sitzen und kluge Betrachtungen anzustellen,
sich vor sich selbst als Kulturkritiker und Aufklärer zu gerieren, aber
dort, war das nicht viel wirklicher? Dort waren die Freunde und die Mädchen.
Man ging in die Disko, um zu tanzen, und nicht um zuzusehen. Er bemerkte, wie
seine Gedanken sich ineinander verknäuelten, sich verschlangen und einander
in den Schwanz bissen. Und er registrierte, wie seine Verzweiflung sich einem
kritischen Punkt näherte. Er stand etwas mühsam auf und steuerte auf
die Bar zu, kalt über die Tanzfläche gehend, wo er brutal durch die
Schwebenden pflügte. Nein, es war ganz ausgeschlossen, so herumzuzappeln.
Er holte sich noch ein Bier und zog sich, am Rand entlang, wieder zurück.
Die Kumpels machten ihm Zeichen, er solle doch dableiben, sich auch amüsieren,
und Maddin zeichnete mit fuchtelnden Händen die Formen des Mädchens
nach, das vor ihm tanzte. Aber er verwies mit einer verrenkten Geste, indem
er sich selber vor den Augen herumfuchtelte, auf seinen angeschlagenen Zustand
und trollte sich in seine Senatoreneckchen. Dort liefen die Gedanken weiter.
Er wußte, daß er betrunken war, er hatte das Zeitgefühl verloren
und die Musik schien schneller zu werden. Manchmal drehte es sich ein bißchen
um ihn. Aber die Gedanken liefen weiter, jagten einander im Kreis herum und
überschlugen sich in immer neuen Schraubengängen. Das Gefühl
der Überlegenheit brach in das jämmerlicher Feigheit zusammen; aber
auch diese Jämmerlichkeit machte er sich doch noch intellektuell zurecht,
warum riß er sich nicht wenigstens jetzt zusammen und ging hinaus? Aber
mit jeder Schleife, in der er über sein Räsonieren räsonierte,
wurde es noch unmöglicher, sich gehen zu lassen und an der Ausgelassenheit
der anderen teilzunehmen. Mit jeder Biegung seiner furchtbar wachen und hellen
Analyse, die er in allem Alkohol der Welt nicht würde ertränken können,
entfernte er sich noch weiter und kringelte sich in die Achterbahn seiner Gedanken
ein. Er grübelte sich aus der Welt heraus und versponn sich in seine Einsamkeit.
Spontanes Mitmachen wurde immer noch unwahrscheinlicher, je mehr es sich heimlich
zu wünschen begann. Auch auf den wenigen Parties, auf denen er bis jetzt
gewesen war, hatte er nie getanzt, sondern sich hinter Männergesprächen
oder, wenn er allein zurückblieb, hinter ein paar Flaschen Liqueur versteckt.
Seltsamerweise empfand er die anderen gar nicht als lächerlich, selbst
für Maddin, der wie ein Dinosaurier über die Tanzfläche stakste,
hatte er auf einmal einen verzweifelten Respekt. Und wenn vielleicht einmal
ein Mädchen... Aber es war und blieb ausgeschlossen; gerade vor jemandem,
für den er schwärmte, würde er niemals in der Lage sein, sich
so loszulassen. Er war hier fehl am Platz. Aber auch diese Erkenntnis erlöste
ihn nicht. In einem Film wäre jetzt der Schnitt gekommen, aber er war und
blieb da, und sein Gegrübel legte sich in die nächste Kurve.
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