Wandler Zeitschrift für Literatur No 27

 

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Lutz Eitel

Ein Freund von mir

 

 


„Mein Vater war Säufer. Ist einer. Ich seh ihn bloß nicht mehr.“
-Was war er von Beruf?
„Nebensache. Der Punkt ist nämlich: ich bin ein Arbeiterkind. Ich hatte ein zerrüttetes Elternhaus. Ich kriegte täglich Prügel. Oder wenigstens einmal die Woche, bis er sich endlich verpisst hat. Ich bin der Pöbel. Und was ist aus mir geworden?“
-Weiß ich doch.
„Ich hab Abi gemacht, eins komma sieben. Ich hab studiert.“
-Sei stolz auf dich.
„Hab ich was geschenkt gekriegt? Ich hab immer gearbeitet. Mein Leben lang. Während du dir von Papi...“
-Schon gut. Ich bin jedenfalls stolz auf dich.
„Und was hab ich davon?“
-Du bist ein außergewöhnlicher Mensch.
„Mein Arsch. Was hab ich davon, los sag schon.“ Georg leerte sein Bierglas und stand auf. „Weil: soziologisch gedacht müsste ich eigentlich kriminell sein. Denk mal drüber nach. Jetzt muss ich aufs Klo.“
Er spielte wieder seine Lieblingsrolle. Ich traf ihn alle zwei, drei Monate, nahm ihn in einen Club mit, und er stellte sich als Opfer der Gesellschaft dar. Früher war das anders gewesen. Jetzt fiel er mir auf die Nerven.
Er kam mit zwei vollen Biergläsern zurück.
-Danke. Sei fröhlich und unbeschwert. Ich such mir meine Freunde nämlich nach ihrer guten Laune aus. Das machen alle Menschen so.
„Ich war im Heim, zwei Monate lang. Hab ich das schon erzählt?“
-Ihr habt gesoffen und geraucht.
„Im Heim ist jederzeit ein Betreuer für alle deine Probleme verantwortlich, ein ausgebildeter Psychologe. Und wer ein Auto knackt, kriegt noch mehr Fürsorge. Und wenn man älter wird und Drogen dealt, erwischt wird, oder Tankstellen überfällt, dann ist der Staat zuständig und kümmert sich.“
-Warum überfällst du keine Tankstellen?
„Ich hab nie dazugehört, ich hatte nichtmal ein Mofa. Wie fang ich damit an?“
Er überlegte.
„So ein Skinhead. Der hat ab vierzehn eine Frau im Bett, was vom Rudel übrigbleibt. Der hat immer seine Freunde um sich, ein verschworener Haufen mit lauter gemeinsamen Interessen. Wozu braucht der eine Perspektive im Leben? Der Skinhead hats gut. Ich! sollte Ausländer zusammenschlagen. Ich kann bloß kein Blut sehn.“
-Gibt auch Gesetze dagegen.
„Scheiß Gesetze. Dann kümmert sich der Staat um mich.“
Er wurde schweigsam.
Ich langweilte mich, wollte ihn aber nicht betrunken in seiner schwarzen Laune allein lassen und wartete, dass er Zeichen zum Aufbruch gab. Ab und zu fiel ihm ein Nachtrag ein.
„Eigentlich liegt alles am Geld.“
„Nur von meiner schönen Seele kann ich mir auch keine Liebe kaufen.“
-Für diesen Satz hast du lange nachgedacht. Wir gehen.“

*

Die letzte Straßenbahn verpassten wir.
Wir tappten nebeneinander über das nächtliche Pflaster. Georg philosophierte.
„Das Problem sind die Medien.“
-Hört, hört.
„Wenn du, sagen wir, im Ghetto lebst, mitten im Bandenkrieg, und um dich herum schlitzt man sich mit Messern auf, das ist völlig normal. Da dreht sich kein Schwein danach um. Aber im Fernsehen kommt jeder kleine Unfall groß und wichtig daher, dann regen sich die Menschen auf: Unsere lieben kleinen Kinder erschießen einander! und verstehn die Welt nicht mehr, dabei ist das ganz natürlich...“
-Biologie.
„Genau.“ Er blieb stehen. „Scheiße“
-Was ist?
„Ich bin wieder nüchtern.“
-Keine Bange, merkt man nicht.
Er holte tief Luft und sah sich um. Ein Kaugummiautomat hing neben der Hausecke. Georg drehte den Hebel, ohne vorher Geld einzuwerfen. Nichts tat sich. Er ging einen Schritt zurück und trat seinen Stiefel in den Automaten. Die Plastikscheibe zerbrach; Georg untersuchte den Schaden und sah fast fröhlich aus. Im Verhältnis zu seiner üblichen Maske.
„Hier sind sogar Figürchen drin. Willst du einen Kaugummi?“
-Kann man ihn aufblasen?
Er versuchte es und spuckte dabei den Gummi aus.
„Nö, keine Chance.“
-Nein danke.
Der Boden einer Telefonzelle war bedeckt mit den Splittern ihres zerschlagenen Türglases.
-Sinnlose Gewalt gegen Dinge. Du bist dafür, stellte ich fest.
„Ich bin noch bei Mundraub. Aber eines Tages mach ich Karriere, du wirst sehen.“
-Da bin ich gespannt.

*

Georg hatte sich den Schädel rasiert. Ich zog ihn damit auf, wie lieb und harmlos er aussah. Unschuldig wie frisch zur Welt gekommen. Die roten Speckbäckchen, die fröhlichen Grübchen.
„Warst du bei den Tagen des Horrorfilms?“
-Nein. Entweder wird mir schlecht oder der Film ist langweilig. Du sagst immer, du kannst kein Blut sehn.
„Kein echtes.“
Ein Film namens Skinner hatte ihn beeindruckt.
„Der Held ist zuerst ein kleiner Junge, der alle Nachbarstiere mit seinem Taschenmesser seziert, im Garten hinter der Hecke. Dann ist er ein ganz normaler Teenager, fingert mit seiner Freundin, traut sich nicht richtig, der schüchterne Typ. Eines Abends kommt sein Vater von der Arbeit, der Junge haut ihm irgendein Gartenteil übern Kopf, kettet ihn mit Halsring im Keller an die Wand und zieht ihm dann langsam die Haut ab, bei lebendigem Leib. Er rächt sich, weil der Vater mal sein Lieblingsstofftier weggeschmissen hat, oder irgendson psychologischer Scheiß. Der Vater ist eigentlich ganz nett. Der Junge zieht ihm erst die Haut von den Armen, das blutet nur wenig, und du siehst alle Muskeln und Adern, unglaublich scharf, wie durch eine rote Linse. Der Vater steht unter Drogen, deswegen schreit er nicht, er röchelt nur und zittert, und kuckt: erklär mir das, ich kapiers nicht.“
Georg kratzte an seinen Unterarmen.
„Zwanzig Minuten zieht er ihm überall die Haut weg, total gut gemacht. Richtig frische Farben, gelatinemäßig. Naja, vielleicht zehn Minuten. Am Schluss wird der Vater skalpiert und aufgebohrt, muss das selber auf einem Bildschirm mit ansehn. Nachher heiratet der Junge...“
-Buffalo Bill hat Indianer skalpiert.
„Die besten Szenen waren glaub ich trotzdem wegzensiert. Du hast nie seine Eier gesehn.“
Ich konnte ihn nicht länger ertragen.
-Findest du dich interessant so? Gefällst du dir?
„Was denn?“
-Dieser ganze Gewaltmüll, als wärst du sowas von abgebrüht. Vielleicht schaffst dus ja, dir gewaltsam eine Neurose zu züchten, viel Spaß damit. Ich finds bloß kindisch: läuft mit ner Platte rum, will unbedingt ein Nazi sein und kann nichtmal das...
Bis auf einen Schritt war er an mich herangetreten. Dann schlug er mir in die Magengrube. Ich war instinktiv zurückgewichen, spürte nur eine dumpfe Berührung und lag bereits vornübergeklappt auf den Knien, mit Tränen in den Augen, als ich merkte, dass er mir nicht wehgetan hatte. Ein dummer Reflex, ich bin das geborene Opfer. Ich tat so, als müsste ich um Atem ringen.
-Spinnst du? Arschloch! keuchte ich.
„Du kennst mich schlechter, als du glaubst. Ich bin nämlich gar nicht lieb. Ich bin unberechenbar. Gehts wieder?“
Ich war zu wütend auf mich selbst, um seine Hand zu nehmen. Ich stand vorsichtig auf, hielt mich vorgebeugt, kämpfte sorgfältig gegen imaginäre Schmerzen.
-Arschloch.
„In Zukunft mehr Respekt bitte.“
-Du bist lächerlich.
Ich ließ ihn stehen.

*

Der Fernseher lief ohne Ton. Ich kraulte Inges Nacken und wartete, dass sie ihren Tag zu Ende erzählte und sich mir widmete. Ihre Stimme wurde weicher und tiefer, sie rekapitulierte die letzten beiden Stunden.
Die Tür klingelte.
-Aha. Du.
Georg hielt eine Zeitung in der Hand und scharrte ungeduldig die Stiefel übers Linoleum.
„Bist du noch sauer?“
-Weshalb?
Ich wusste natürlich genau weshalb.
Verkaufst du jetzt Zeitungsabos? Herzlichen Glückwunsch.
„Lass mich rein. Ich muss dir was zeigen.“
Er begrüßte Inge mit einem Nicken, sie schaute weg.
-Ihr kennt euch?
„Ein bisschen“, sagte sie, ging in die Küche.
Georg drückte mir die Zeitung in die Hand. „Lies das hier.“
Übergriff in der Innenstadt. Eine 32-jährige Frau war nachts in einer Unterführung überfallen worden. Der Täter hatte sie mit einer Pistole bedroht und versucht, ihr eine Kette vom Hals zu reißen. Die Frau trug dabei minder schwere Verletzungen davon. Der Mann entkam. Er war Anfang zwanzig und trug eine Wollmütze.
„Das war ich.“ Georg streichelte seine Glatze.
-Quatsch. Mit einer Pistole.
„Ich hätte nur vorher drauf achten sollen, ob sie eine Handtasche trägt. Dann wusste ich nicht...“
„Was ist los?“ fragte Inge.
-Er überfällt neuerdings unschuldige Passanten.
„Und, lohnt es sich?“
„Ihr glaubt mir nicht.“
-Er hat sogar ein Schießgewehr dabei, pumpgun aufwärts.
„Kann er das? Er war nicht beim Bund.“
-Echt nicht? Zeig uns die Pistole. Knarre, heißt das wohl.
„Ich geh wieder. Ich wollte nur mal Hallo sagen.“
„Hallo,“ sagte Inge.
Ich begleitete ihn zur Tür.
-Gehn wir bald was trinken?
Er zog einen Gegenstand halb aus der Tasche, der alles Mögliche hätte sein können, und ließ ihn gleich wieder verschwinden.
-Ist die echt?
„Glaub doch, was du willst.“

*

Vielleicht war er sogar tot.
Ich hatte ihn ein halbes Jahr lang nicht getroffen, klingelte vergeblich an seiner Tür, eine Nachbarin wusste nichts über den jungen Mann im Untergeschoss. Ich versuchte pflichtgemäß ihn anzurufen, bis es eines Tages hieß: kein Anschluss unter dieser Nummer.
Gleichzeitig erzählten Freunde seltsame Geschichten. Georg ist ausgewandert. Georg wohnt bei seinem Vater in Hamburg. Georg sitzt im Gefängnis. Er ist erschossen worden, von der Polizei.
Diese letzte Version korrespondierte mit einem anderen Ereignis früher im Jahr. Bei einer Aktion der Polizei, die Drogenszene aus ihrem derzeitigen Lieblingsort, einer Straßenbahnhaltestelle der Innenstadt, in Richtung Peripherie zu vertreiben, waren mehrere Schüsse gefallen. Ein junger Mann, offenbar nicht zur Szene gehörig, war dabei ums Leben gekommen. Erzählte mir ein bekiffter Clown auf einer Party.
Details kannte ich nicht, ich las keine Zeitung. An der Haltestelle war drei Tage lang ein handgroßer roter Fleck zu besichtigen.
Ein echter menschlicher Blutfleck wäre sicher sofort weggereinigt worden. Ich glaubte die Geschichte eigentlich nicht.
Dieser junge Mann sollte jetzt auf einmal Georg gewesen sein. Absurd.
Inge war mit mir unzufrieden.
„Du hättest ihm irgendwie helfen müssen.“
-Das kann ich doch nicht ahnen, dass er sich erschießen lässt.
„Trotzdem.“
-Woher soll ich wissen, was er treibt? Er redet schon seit Jahren Gewaltscheiße und ihm gehts prächtig.
„Das merkt man, wenn einer in der Drogenszene abhängt.“
-Da war er nie im Leben. Garantiert. Er stand einfach blöd am falschen Ort. Wir sollten eine Zeitung abonnieren.
„Und sein Überfall?“
-Sein Sinn für Humor. Keine Ahnung.
Inge schnaubte.
-Wir wissen garnichts. Wahrscheinlich steht er gerade irgendwo in Hamburg beschürzt an der Spüle und putzt für seinen Vater die Schnapsgläser aus.
Aber das glaubte ich nicht. Sein gewaltsamer Tod fügte sich besser ins Ganze als einfach wortloses Verschwinden. Gefühlsmäßig. Wenn man ihn sowieso nie wieder sah.
Vor allem dachte ich: das hätte ich ihm nie zugetraut. Georg hatte etwas Spektakuläres vollbracht. Gewissermaßen.
-Ist doch irre. Ein Freund von mir ist von Bullen erschossen worden.
„Ein Freund von dir.“

 

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