Wandler, Zeitschrift für Literatur, Nr.26

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Rainer Wedler

Die Ordnung als verlorene, mühsam behauptete. Rechte Winkel, Geraden als Krücken, Geschwindigkeit, die sich selbst beendet. Das Chaos erschafft sich täglich neu. Alles funktioniert aus dem Zentrum heraus, dem Fokus aller Begierde. Das Mäandernde, Versickernde sucht den Mittelpunkt.

 

Im stickigen U-Bahnschacht, im zugigen, im schnellen Schnitt dein Haar, vom gelben Punkt ganz hinten im Auge festgebrannt, dein Haar, weil es so rot ist. Ich gehe jetzt bei Rot über die Straße und zeige den Vogel zurück. U-Bahnröhren zum Zentrum und hinaus ins Weichbild, ein ständiger Luftzug, von Maschinen und Lichtern angewärmt, durch Menschengeruch angereichert, verdickt bis zum Atemstillstand.

 

Die Stadt, eine Bewegung ohne jeden Abschluss, die Nacht bündelt das hitzige Licht bis zum Verbrennen. Die Stadt zieht an und verwirbelt Disparates, Desperados, mich auf der Suche nach dem roten Haar. Ich habe gespeichert: Ort und Zeit, hoffe auf die Wiederholung ihres Zusammentreffens. Seit Tagen.

 

Vom Strom getrieben, von Waren- und Menschenströmen, Samenströmen, immer wieder irgendwo angelandet, überflüssiges Schwemmgut. Ich bin aus dem schnellen Verbrauch des Genusses heraus in die langsame Annäherung. Unzeitgemäßer sein im Pseudo des Sofort und Ganz. Erst das Haar wiederfinden, das rote, gedämpfte, Kastanie. Es anschauen, ihm nachschauen. Erst diesen einen Sinn schärfen. Heraus aus den Zyklen der Schlussverkäufe, der Ausverkäufe, der Sensationsschnäppchen, heraus aus dem immerwährenden Fest der Waren Der Mittelpunkt hat sich längst aus seiner Verankerung gerissen. Flottierender Mittelpunkt, verlorenes Zentrum der explodierenden Megapolis, der Fauna und Flora gleichermaßen fressenden. Rot ist Halt.

 

Seit Wochen dasselbe. Sie gehört zu denen mit fester Arbeit, mit festgelegten Zeiten des Verkaufs ihrer Arbeitskraft. Ich sehe nur das Haar. Ich muss das Zeitband dehnen bis zum Punkt der höchsten Anspannung. Ich treibe nicht mehr im Strom. Mich lockt die Stadt, wie sie die Füchse lockt und die Marder, und sie wird mich ebenso bekämpfen, ohne dass sie mich erledigen kann.

 

Darüber ist es wärmer geworden. Die Tauben haben das Scheißen wieder voll aufgenommen, das gehört dazu: Ratten der Luft und Ratten der Kanäle. Und die Schaben, vor allem die Schaben haben noch Zukunft, wenn wir sie längst hinter uns haben. Wenn sogar das Synthetische verloren hat, das längst alles überwuchert, auch den erigierten Schwanz in der glitschigen Wichskabine.

 

Ich nähere mich vom Boden aus, der Mittelpunkt ist der Schlusspunkt. Die Sonne hat ihre Beine entblößt, schöne Beine, seidige Beine. Ich habe mir vorgenommen, fürs erste bis zum Knie, dann stopp und zurück. Die schönen Beine schwingen sich in die U-Bahn, als hätten sie nichts zu tragen.

 

Dann gehe ich durch das Pfingstwunder der Märkte, und redeten in fremden Zungen. Ich suche den Geruch ihres Haares, wie er sich ihn mir eingebildet hat, wie er sich festgesetzt hat. Ich greife in die Obstberge, in die Gemüseberge, die die fremden Zungen aufgebaut haben, und rieche. Nichts gleicht dem eingebildeten Geruch des roten Haares. Menschenschwemme zwischen Hochhäusern, gleisenden Bankgebäuden, die längst die Gedankengebäude ersetzt haben, Bankgebäude von kalter Radikalität bewohnt, blendend verblendet, blind machend, die Tauben stumm. Eintauchen in die Stummheit, in der Wortlosigkeit des Lärms.

 

Vor vier Tagen habe ich sie ganz angesehen, weil ich dicht hinter ihr gegangen bin, bis sich die Tür das Wagens leise zischend hinter ihr geschlossen hatte. Beim Anfahren muss sie sich festhalten, dunkler Kastanienflaum unter dem Arm. Dann gehört sie dem U-Bahnschacht, seinem Dunkel, seiner Begierde zu verschlingen und auszuspeien. Begierde dringt durch Schaufenster, durch die Entlüftungsgitter der Kaufhäuser, schlägt sich nieder als Kondenswasser an den Scheiben eines überfüllten Busses.

 

Sie hat meine Ahnung ihres Geruchs bestätigt. Ihre Stimme habe ich gehört, als jemand sie nach der Uhrzeit fragte, immerhin drei Wörter: fünf nach neun. Wenigstens hat mein Denken ein Ziel. Die Stadt hat kein Ziel, kein endliches Ziel, sie ist Impuls, bestenfalls Wohnraum als Form für Menschenformung, Brutstätte für Menschenlarven, die vor der Entpuppung zugrunde gehen, die nichts wissen von nie erreichten Farben nie gewachsener Flügel, die ohnmächtig niedergetrampelt werden, bevor sie gehen können, die in den ungeformten Raum der Armen, der Verschwiegenen geschwemmt werden. Käfighaltung für Kapaune. Klingelleisten ohne Transzendenz, ohne wirkliche Stimme. Keine Erinnerung an den Geruch eines Schäferkarrens oder einer frischgemähten Wiese. Ohne die Seele einer Spielzeugschachtel voller Knöpfe. Obst, ungereift von den Tischen auf die Kippe.

 

Tagelang bin ich auf den Händen gelaufen, den Kopf entmüllen. Die Stadt - eine Verteilungsstätte des Überflusses an Überflüssigem. Sättigung ohne Sättigung. Trinken ohne den Rausch des Dionysos. Den Kopf freigemacht für die Frau aus dem künstlichen Licht der U-Bahnstation.

 

Ich gehe in den Park, einen der vielen Parks, vermurkste Antworten auf den unbebauten Raum, Schamblätter der Stadtplanung, verdreckte Parodie des südlichen Gartens, Karikatur des draußen vergifteten Landes. Inzwischen eine Computeranimation ? Und doch ein Unterschlupf. In dieser Sonne soll sie am Brunnen verbeigehen, ein starker Windstoß treibt die Fontäne gegen sie, das T-Shirt klebt auf ihrer Haut, die frierenden Brustspitzen stechen durch den Stoff, das Kastanienhaar ist dunkler geworden. Ich ziehe mein Hemd aus, sie nimmt es wie selbstverständlich, sie zieht das Shirt aus, ich schaue weg und sehe doch alles. Nichts sehe ich, Tagträumerei auf einer Parkbank.

 

Nomaden suchen einen Unterschlupf auf Zeit. Die Metropole verspricht Freiheit von der Rolle und bietet die Unfreiheit der Rollenlosigkeit. Das Problem der Zahl, der Korruption des Denkens, weil der Horizont nie ein Horizont ist, sondern nur Peripherie. Nur Gewalt ist noch Gewalt, virtuell und blutig zugleich. Sie gehört den Ausgesiedelten, den Deklassierten ohne die Kraft für eine neue Klasse.

 

Dann habe ich sie angesprochen, ohne Schnörkel zum Essen eingeladen. Ein Restaurant ist Glacis. Ich bin sicher, sie kennt ihren Part in diesem Stück auf der grell ausgeleuchteten Bühne der Magistrale. Ein Mann und eine Frau gehen, essen miteinander, werden spät in der Nacht ineinanderfallen, wenn das Licht gedämpfter geworden und Schließer und Putzkolonnen dort unten ihr stummes Stück aufführen. Das Zentrum versinkt in sich für diese Nacht und wieder für die nächste.

 

Ich spraye  meinen Namen auf ihre Nacktheit, schlecke ihn als verfließende Sahne von ihrer Haut, konzentrische Kreise zum Nabelkrater, zum Hitzepol. Eintauchen bis zum Verlust der Rolle, bis zum Aufblitzen der Realität.

 

Draußen die ausgehöhlten Häuser, in die sie Lichter gesteckt haben. Ein paar vergessene Neonleuchten als Ausrufezeichen des Konsumismus. An zerbröselnden Fassaden bunt gesprayte Botschaften, Hieroglyphisches, Unterdrücktes, Vergessenes. Die Straßen schneiden ins verfaulende Fleisch der Stadt. Die Breite der Boulevards hat zugenommen. Aufmarschzeilen ? Auf dem Asphalt Spuren von gestern, letzte Aufschreie. In den Häuserschluchten kann die Phantasie ihre Flügel nicht entfalten.

 

 

Diese Nacht kritzle ich in mein Gedächtnis, rieche ich in mich hinein, schmecke sie in allen Knospen meiner Zunge.

 

Der Nabel der Frau ist Zentrum. Endlich bin ich heraus aus der ziellosen Bewegung, dem Opportunismus der Rolltreppen und Laufbänder. Weg von jeglicher Begradigung, weg von der Monumentale der großen Kreuzungen, weg vom blendenden Blindmachenden.

 

Der Nabel der Frau als Rückkehr, als Raum der Erinnerung und der Erwartung. Das Gewölbe ihres Bauches. Die Vielfalt des Geruchs. Raum und Zeit fallen in eins im petite mort.

 

Den nächsten Tag müssen wir überleben in der Wortlosigkeit des Lärms. Im Abgerissenen und Abgebrochenen, im Dialog der Tauben und Stummen, in den künstlichen Paradiesen aus Glas, Stahl, Messing und poliertem Marmor. Um sie schleicht die Natur als Hure und Stricher.

 

Und noch ein Tag und noch einen mit der Gewißheit der Rückkehr ins Fleisch. Dann wieder ein Tag und wieder ein Tag im Reich der Spekulanten, wo das Lebendige sich herumtreibt als Gewalt, versteckt unter der Wollmütze bis zur Nasenwurzel, wo das Bunte polizeilich zugelassen ist, wo dich der Schwindel anfällt, wenn du stehen bleibst. Nachts die Rückkehr.

 

Auf die Nacht der nächste Tag und ein Tag und ein Tag. Die Maskeraden der Maskierten. Funlarven. Der zynische Markt des Glücks, des falschen Glücks für echtes Geld. Und wieder die Heimkehr. Die Existenz hineinstoßen, auf die Existenz stoßen. Durch die dreifachen Scheiben, nicht zu öffnen, das nie abreißende Band des Lärms, als Obertöne die Polizeisirene, jede Nacht ein Erschossener, ein Erstochener. In ihr nähere ich mich den Zentrum jeder Stadt.

 

Und wieder die Tage, die Tage, die Tage. Ich vergesse ihr Gesicht, vergesse, dass ihr Haar rot ist. Die Tage sind ohne Tageszeit, Jahreszeiten nur angedeutet. Die Autos fahren mit eingeschalteten Scheinwerfern, weil die Stadt untertunnelt ist. Die Flugzeuge landen hinter den nächsten Wolkenkratzern. Ich ertappe mich, dass ich dieser Frau auf den Bauch schaue und dieser und der da, die sich gerade die Jacke zuknöpft.

 

Die Müllwerker streiken wieder einmal, die prallen Plastiksäcke stapeln sich, der Gestank schleicht auch in die Quartiere der Reichen. Jetzt wird es nicht mehr lange dauern und die Müllfahrzeuge werden zurückkehren.

 

Heute weiß ich nicht mehr, ob ihr Haar rot ist oder schwarz, vielleicht blond. Die Zentren sind längst austauschbar. Nuancen, ja, die kann ich ertasten, schmecken, die Tiefe im Fleisch ausmessen mit der Zunge, die Hitze riechen. Linien mit unvorhersehbaren Schnittpunkten. Aber Schnittpunkte. Die Dinge treffen noch immer aufeinander. Die Stadt als Summe ihrer Schnittpunkte, variabel, flüchtig. Dennoch. Und auch das Dennoch einer Frau.

 


Wandler, Zeitschrift für Literatur, Heft 26

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