Wandler, Zeitschrift für Literatur, Nr.26

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Achim Stößer

Die plattgewalze Feldmaus dörrte in der Julisonne. Wenn eines der Steinchen, die Oki warf, traf, stob der Fliegenschwarm auf, schwirrte eine halbe Sekunde und landete wieder.

 

Bald begann das Spiel Oki zu langweilen. Er kramte in der Hosentasche nach einem Bonbon. Umständlich befreite er es vom klebrigen Einwickelpapier, das sich auch von seinen Fingern nur widerstrebend löste und vom schwachen Wind über den Hof getrieben wurde. Er trug nichts außer den Shorts und dem Noxon-Filter, und seine braungebrannte Haut war vom Schweiß fast ebenso klebrig wie das Bonbon. Er hob kurz die Atemmaske, um es in den Mund zu schieben, es mit einem kräftigen Biß zu zermahlen und das weiche Innere auszusagen.

 

Wenige Grad westlich starrte die Dolmetscherin auf das Schreiben, um nicht den Augen der Familie, die sie umringte, begegnen zu müssen. Nur noch ein paar Augenblicke wollte sie die Botschaft hinauszögern, die rechtskräftige Bestätigung der Abschiebung des jüngsten, vier Monate alten Kinds.

 

Mit einer Hand hielt Oki sich am Pfosten der Teppichstange, während er sie schnell und immer schneller umkreiste. Schließlich riß die Zentrifugalkraft seine Finger los, und er ließ sich auf den spärlichen Rasen fallen. Die harten Reste des Bonbons hatten sich zwischen seine Backenzähne gezwängt. Der Speichel löste sie zu einem stechend-süßen Saft auf. Er wischte die rostige Handfläche am kurzgeschorenen Stoppelgras ab. Die meisten Halme waren braun. Braun und trocken.

 

Einige Grad östlich starrte der Pilot auf das Headup-Display; die Landschaft dahinter, Wiesen und Felder, Seen und Wälder, Straßen und Flüsse, Städte und Dörfer, selbst winzige menschliche Pünktchen: all das nahm er nicht wahr. Er las nur die Werte der Instrumente ab, um darauf zu reagieren, und beobachtete, wie der Leuchtpunkt seiner Positionsanzeige auf der schematischen Landkarte von einer Farbfläche in die andere wanderte. Die letzte Order hatte sein Denken ausgeschaltet.

 

Auf dem Bauch liegend betrachtete Oki den grünen Grashalm vor seiner Nase. Langsam bewegte er das Brennglas hin und her. Auf dem Halm erschien eine zweite, winzige Sonne. Kurz ehe sie zu einem Punkt schrumpfte, fraß sie ein schwarzes Loch hinein. Ein bläulicher Rauchfaden stieg vom Rand des Lochs auf.

Mehrere Grad nördlich schleuderte der Händler mit einer ärgerlichen Geste das Telefon auf den Beifahrersitz und gab Gas. Wenn hier und da die Zollbehörden ein paar Kilogramm Heroin sicherstellten, traf ihn das nicht weiter; wenn aber einer seiner Leute sich mit einer Palette Waffenplutonium erwischen ließ, war das ein harter Schlag. Vor ihm auf der leeren Gegenfahrbahn saß ein Kaninchen. Er wechselte die Spur.

 

Der Riß im Beton unter der Teppichstange war stümperhaft mit Zement ausgekleidet. An mehreren Stellen war der Zement zerbröckelt. Aus einer Öffnung rasten Ameisen, andere flitzten hinein. Oki beobachtete, wie sie auf ihrer fast schnurgeraden Straße Krümel, Körnchen und Pflanzenteile schleppten.

 

Fast hundert Grad südlich kämpfte sich der Flüchtling durch das dichte Schilf am Ufer. Eine kurze Strecke flußaufwärts mußte die Furt sein. Erschöpft hielt er inne, um zu Atem zu kommen. Dann erstarrte er, als er auf seiner Brust den leuchtend roten Fleck entdeckte. Der Endpunkt des Ziellasers schwankte nur leicht. Er sah auf. Zwei Posten auf einem mobilen Wachtturm. Wie ein zärtlicher Finger strich der Laser über seine Brust, seinen Bauch, den Schritt, Beine, Füße, dann knallte ein Warnschuß. Das Geschoß fuhr dicht vor ihm in den Morast. Er sprang zur Seite, lief, weitere Schüsse fielen. Mit letzter Kraft warf er sich in den Fluß. Er wußte, daß er nicht schwimmen konnte.

 

Oki pustete. Der Miniaturorkan riß ein Loch in die wohlgeordnete Kolonne. Mit einer Ziegelscherbe kratze Oki einen roten Strich quer über die ehemalige Ameisenstraße. Aufgeregt wimmelten die Tiere durcheinander, rannten verwirrt in alle Richtungen, bis sie schließlich die Geruchsspur, die ihren Weg markierte, wiederfanden.

Die erste Ameise überschritt die Grenzlinie.

Oki hob das Brennglas.


Wandler, Zeitschrift für Literatur, Heft 26

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