Wandler, Zeitschrift für Literatur, Nr.26: WANDLER

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Sabine Stern

Da hängen drei, vier Gedanken in der Luft. Die einen durchschaubar, verraten durch den Gesichtsausdruck der Gehirnträger, meistens ohne Tiefgang, deshalb oft frei­schwebend oder sogar an der Straßenbahndecke klebend, wie gasgefüllte Luftballons. Manchmal findet sich darunter einer, klein und unscheinbar, der hängt schwer und keuchend in Augenhöhe und drängt sich auf. Ich kann ihn nicht wegschieben. Nicht abends, sondern morgens im Gewühl und in Hektik, meist montags und bei Regenwetter, wenn der ganze Frust der letzten Woche sich zu wiederholen anschickt, habe ich nicht die Kraft, ihn beiseite zu drängen. Er kam doch schon bis hierher, in die Straßenbahn direkt vors Gesicht, und stöhnt, wegen des langen und erregenden Weges aus dem Hinterkopf. Vielleicht nahm er einen Umweg übers Kleinhirn zur Hypophyse, um dort zu verschnaufen. Aber jetzt ist er da und versperrt mir den Blick ins Gesicht des Gegenübers. Oder verschärft ihn, vielleicht. Jedenfalls laden die beschlagenen, feuchten Fenster nicht zum Hinausschauen ein, und das Gedränge und der viele warme Atem im Gegensatz zu der kühlen Luft draußen lassen Schwüle entstehen. Feuchtes und Schlüpfriges fährt mit und heizt dem Gedanken so richtig ein. Desto mehr, je mehr ich versuche ihn auf keinen Fall zu denken. Gerade das stachelt ihn an. Er wird größer und drängt alle anderen gedachten oder ungedachten weit weg. Wenn es besonders eng ist, bringt er sie sogar zum Platzen, damit er selber mehr Platz hat.

Penetrant,  wie er nun mal ist, sitzt er jetzt fett und behäbig auf meinem Schoß, und ich hab's schwer in wieder loszuwerden, zumal ich ihn, wenn ich ihn nur streife, noch mehr zum Wachsen bringe, daß er mich beinahe erdrückt. Ich gebe auf, mich zu wehren, all die Last ist zu groß, auch die Lust und er sickert hinein.

Sind wir reif, der Gedanke und ich, bemächtigen wir uns unbemerkt, aber dreist, des unscheinbaren Menschleins gegenüber oder nebenan. Nichts schützt es, nicht Regenmantel noch Schirm oder Büroblick, auch die eilig erhobene Tageszeitung hält nicht stand, ist gleich durchdrungen, und die graue, körperähnliche Masse ist willig und gut zu gebrauchen. Ein verschämtes Reiben, vielleicht gar ein Griff hinein, und wie bei Aladins Wunderlampe entsteht pralles Leben, wo vorher ein Nichts, quillt pulsierend hervor. Es zeigt sich ein Muskel, auch Adern, bebend vom rauschenden Blut. Oben formt sich ein Mund, später Kopf, aber zuerst nur Lippen und Zunge, ein Schmatzen und Triefen und Augen, vom Staunen geweitet. Mittig entsteht ihm ein Torso, erst wabernd, dann fest und kräftig, noch tiefer, ganz tief, da wächst was, was vorher nie da. Dort stählt sich etwas hervor, groß und mächtig. Wird wachsend steif und erigiert von Eruptionen geschüttelt und vor Erwartung bang.

Magisch getrieben kippt alles herüber zu mir, dem Denker, dem Ursprung des Ganzen. Es kippt und grabscht, erst ins graue Nichts, und auch bei mir zunächst nichts als erstauntes Verwundern. Dann streichelt er hier und da meine formlose Masse glatt, und wie auf Bestellung springt ihm mein Busen in die Hand, wie pralle Zitzen, und der Nippel ist spitz. Die andere Hand erahnt tastend den zweiten, noch weich und samtig, bald ein Zwilling des ersten, als Lippen, nur Lippen und Kuß sich ihm antun.

Die Hände unterdessen wandern hinab zum eben geformten Schoß, der willig sich reckt. Sie modellieren den Po, der später zum Arsch, und sein und mein Schoß vergraben sich ineinander. Verhakt und verkantet, bis nur noch eine sehnsüchtige Masse, ein Traum, eine Tat, rhythmisch, sich wiegt. Ein Knäuel von Lippen und Zungen und mehr und Schmatzen und Eins.

Da klingelt die Bahn. Die Haltestation. Ich springe auf, wanke noch, stoße unbedacht den Gedanken, den süßen. Der platzt und ist fort. Und renn' meinen Weg.

Und bleibt er doch als Geistesblitz und läßt etwas Feuchtes, manchmal peinlich, zurück.


 


 

Wandler, Zeitschrift für Literatur, Heft 26

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