Wandler, Zeitschrift für Literatur, Nr.26: WANDLER

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Beate Schäfer

Angeheiterte kleine Gesellschaft. Ein Mann, drei Frauen, zwei von ihnen im zeitgemäßen Leopardenmini, verlassen das Taxi, senken die Absätze und Sohlen ihrer Schuhe in den Schneematsch und begeben sich zum Eingang der Kellerbar. Rote Lichterketten, silberne Sterne in den Falten der schwarzen Lackpapierbespannung längs der Treppe. Flitter, festgetreten auf den Stufen, und zwei Köpfe von langstieligen Barverkäuferrosen, halbwelk, nicht zertreten - wie unaufmerksam. Eine schwere Tür, drinnen dann Hip-Hop-Musik, ein Rhythmus ohne Gewalt, an ihm scheiden sich die Körper, die einen zucken, die anderen erschlaffen; drinnen dann Hip-Hop so laut, daß der nächste, der redet, nicht hört, daß er schreit; drinnen auch eine Weihnachtsüberraschung: tausende durchsichtiger Kugeln, Plastikkugeln mit Glitzer darin, auf dem Boden, bis zu den Knien den kleiner Gewachsenen, den Großen bis zur Wade, die Kugelnähte sind rauh und kratzen an Nylonstrümpfen; die drei Frauen dem Mann hinterher durch das Gestöber, an der Bar vorbei; zwei Barkeeper; der Tresen besetzt, auf den Hockern die Hocker mit angezogenen Beinen, verkrampft, als tauchten aus der ballenen Glitzerflut ab und zu Krokodile auf und schnappten nach ihren polierten Schuhen, auf denen der Schneematsch sich Großstadtflecken frißt. Hinten, ganz hinten in dem bedröhnten, schwarzdämmrigen, spotbeleuchteten Raum ist ein Tisch frei geworden, die Aufbrechenden schieben eine Welle glitzernder, raschelnder Kugeln vor sich her, die den Ankommenden gegen die Beine schwappt, diese wiederum drängen die Welle zurück und eine eigene Welle dazu; zwischen den Parteien wogen die Plastikkugeln, reiben mit ihren Rändern an den Nylonstrümpfen der Frauen und glitzern bedrohlich. Man schiebt sich schweigend aneinander vorbei. Die Kugelwoge glättet sich. Musik überdröhnt jedes Gefühl, jedes Bedürfnis zu reden. Zwei Lautsprecher pro Tisch. Der Mann, die drei Frauen, davon zwei im Leopardenmini, wählen ihre Stühle und vertiefen sich in die Cocktailkarte. Die Frau ohne Leopardenmini kann sich nicht konzentrieren. Sie hat Wein getrunken, Sekt und einen Cognac, und außerdem müßte sie dringend mal aufs ... Suchend schaut sie in die spotbeleuchtete Schwärze der Bar. Kein Hinweis. Der Kellner kommt. Also schlägt sie die Beine übereinander und bestellt einen Polar-Bear: Crème de Cacao, Sahne, Rum. Ihr Kollege sagt etwas zu ihr, was sie nicht versteht, weil er nicht schreit. Er grinst, sie lacht, dabei spürt sie ihre volle Blase.

        Der Polar-Bear ist eine Enttäuschung. Zuviel Sahne, zuviel Eis, zu wenig Crème de Cacao, viel zu wenig Rum. Dafür ein riesiges Glas voll. Hip-Hop und ein mißlungener Cocktail. Und ein Meer glitzernder Plastikkugeln zwischen der Frau und dem Klo.

        Nachdem sie ihren Polar-Bear getrunken hat, steht die Frau, die keinen Leopardenmini trägt, schwankend auf. Glitzerkugeln rascheln um ihre Beine. Die beiden Frauen im Leopardenmini greifen fast gleichzeitig in ihre Handtaschen; sie holen kleine, aufziehbare Plastikweihnachtsmänner heraus, mit dicken roten Backen, weißen Bärten und Skiern an den Füßen. Die Leopardenfrauen ziehen die Weinachtsmänner auf. Schon das Aufziehgeräusch durchdringt den Dröhnpegel der Musik; dann laufen die Weihnachtsmänner über den Tisch, kreischendes Leopardenlachen, kreischendes Abspulen der Weihnachtsmännermechanik, kreischendes Wiederaufziehen, hysterisches Leopardengelächter; darüber Hip-Hop aus Lautsprechern direkt neben dem Ohr.

        Die Frau ohne Leopardenmini stolpert in die glitzernde Plastikflut, richtungslos, hinter ihr die Weihnachtsmänner, die Leopardenfrauen, der Mann, und ein großes, leeres Cocktailglas; unentrinnbares Kreischen, unentrinnbare Musik, der Druck auf die Blase; und der eigene Kopf ohne klaren Verstand, trunken genug, doch unzufrieden, mit Gelüsten auf der Zunge, namenlos, mit der Begierde, die Zähne in ein Gebäck zu schlagen, das so vertraut ist wie der Geruch der Mutter, namenlos. Weil sie schwankt, zieht die Frau ihre Schuhe aus, schwarz, und stellt sie auf den Tresen. Der Fußboden ist kalt; die Plastikkugeln weichen zur Seite bei jedem Schritt, vorsichtig schlurft sie durch das Gewoge, irrt durch den schwarzhellen Raum; mit unstetem Blick sucht sie das Zeichen an einer Tür, einer Wand, einem Sturz - WC.  Alle außer ihr sitzen; an der Bar, an den Tischen. Nur sie wandert; auf der Suche, nicht freiwillig, niemand ist freiwillig unterwegs, auch nicht zum Klo. Der Druck auf ihre Blase ist schmerzhaft, ein tötendes, lustvolles 'gleich'; Widerstand gegen ihre Schritte bilden die glitzernden Kugeln, das Weihnachtsmeer wogt gegen ihre Fersen, gegen die Waden, die Fußgelenke; mühsames Vorwärts, zielloses Bahnen, der Schmerz und die Lust verklären den Blick, Lichter flackern, verschwimmen in Aureolen, in Strahlen; Konturen weichen der Masse; Gesichter, Körper, Stühle, alles fließt, um sich wieder zu engen; Klanggeschwüre breiten sich aus, Stimmenkrebs, zerfressene Töne.

        Dort drüben, ist das eine Tür? Gewaltsames Drängen, Magnetwiderstand; die Frau in Strümpfen watet durch wallende Kugeln, gefüllt mit Glitzer; sie ist fast blind vor Lust und Schmerz, ihr Denken in äußerstem Krampf konzentriert auf jenen Muskel; und dort die Tür.

        Eisentür, ohne Klinke, nur ein Knopf, ein Schlüsselloch. Hier nicht das Ziel. Die Frau lehnt sich erschöpft gegen die kalte Wand, auch die Füße sind kalt; in Strümpfen auf dem kalten Boden steht sie bis zu den Knien in Glitzerkugeln, alle Sinne kalt konzentriert, bewußtseinsverfremdet, der Krampf in ihrem Innern läßt sie schmal werden, Mensch erstarrt wie gegossenes Eisen in glatter hoher Form, und die Füße bilden eine Spitze, den Punkt, zu dem alles drängt, an dem sich das Bewußtsein sammelt. Boden, unten, Mitte, Punkt, Mittelpunkt.

        Ihr Blick sammmelt sich in rotsilbernem Fokus. Neben einem Plastikweihnachtsbaum ein Bistrotisch. Als gehöre ihr Auge nicht zu ihrem gemarterten Körper, und als gehöre das, was sie sieht, nicht zu dem, was sie wahrnimmt, fixiert sie das Paar, das abseits von den anderen in einer Nische vor der Eisentür sitzt, inmitten der Glitzerkugeln, inmitten der Dekoration aus schwarzlackierter Wandbespannung, silbernen Sternen und rotem Tannenbaum, beschallt aus zwei Lautsprechern, wortzermalmende Musik. Der blonde Mann mit dem akkuraten Haarschnitt und der schmalen Oberlippe hält still. Ohne Hast, allumschlingend, kriecht die Japanerin auf seinen Schoß, kindergewalttätig in ihrer Umklammerung seines Halses. Kindlich-brutal im Nichtsehen, Nichtfühlen seines Widerwillens, spreizt sie die Beine, setzt sich auf ihn, als wären seine Jeans Haut, haarig, und ihre Jeans festes Jugendfleisch, zart und hell; er schaut starr gegen die Wand; dort steht die kalte Frau ohne Seinswissen, so voller Schmerz ist sie und nur noch Mittelpunkt; ihre Blicke treffen sich im rotsilbernen Nichts, schrauben sich ineinander, ohne zu sehen; der Mann erfüllt von Abscheu gegen das sich windende Geschöpf auf seinen Schenkeln; jetzt wippt es auf und ab, schiebt die Hüften hin und her, wippt, schiebt, wippt, schiebt; sie reibt sich an seinem wohlverwahrten Geschlecht, vor und zurück, rutscht, keucht dabei in sein Ohr, verhält einen Moment, um von neuem zu beginnen; er schaut starr geradeaus in die Augen der kalten Frau neben der Eisentür; sie sehen sich nicht, ihre Verbindung ist mechanisch, ohne Sinn, regungslos verharrt er; die Frau auf seinem Schoß hat den Kopf in den Nacken gelegt und stößt ihren Unterleib rhythmisch gegen seine Hüften; regungslos verharrt die Frau neben der Tür, sie ist nichts als Mitte vor Schmerz; die Japanerin zuckt und schreit und kommt, kommt in der eisigen Weihnacht; und da geschieht es, daß die kalte Frau an der Tür erwacht aus schmerzhafter Trance; etwas läuft warm ihre Beine hinab, süße, köstliche Lust; und ein Jauchzen, Frohlocken.

        Vorbei irgendwann. Lärm wird Musik, Stimmen gerinnen zu Worten, Farben wandeln sich zu Formen fester Gestalt; die Frau geht zurück durch die Bar, auf Strümpfen, ihr ist wohl, leicht, federleicht scheinen ihr jetzt die wogenden Massen der glitzernden Kugeln, die bei jedem Schritt rascheln; sie geht zum Tresen, nimmt ihre Schuhe, behält sie in der Hand, als sie die Bar verläßt, die schwere schwarze Tür aufstemmt, die Treppe hinaufsteigt; und dann tritt sie schuhlos hinaus auf die Straße, in den Schneematsch. Es ist Stille Nacht.



 

Wandler, Zeitschrift für Literatur, Heft 26

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