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Als Kind hatte ich eine abgehackte Hand. Zuerst war es ein grausiger Anblick. Die Fingernägel waren mit einem abblätternden, fliederfarbenen Perlmutt lackiert und ragten über den Rand einer Konservendose. Die Dose war rostig, leer und aufgeschnitten. Reste von angefaulten, spanischen Butterbohnen verharrte in einer trüben öligen Pfütze.
Tote Ratten lagen herum, dunkles zerzaustes Grau, dem die Eingeweide an den Seiten heraus quoll, und andere nervöse, flinke Ratten fraßen an ihnen herum. Sie zerrten mit ihren spitzen Zähnen wütend an dem zähen Fleisch. Eine zerbrochene Madonna aus Gips schenkte ihnen ein salbungsvolles, häßliches, weißgelbes Lächeln aus einer herausgeschlagenen Stelle der Figur. Manchmal lag auch irgendwo eine tote Katze dazwischen.
Einmal fand ich ein zerschmettertes Knäuel Katzenjungen in einem groben Kartoffelsack, der gegen eine Wand geschlagen worden war. Die Katzenjungen waren eben erst geboren worden, und sie waren noch warm und über und über blutig. Am nächsten Tag waren sie steif, und die Beinprothese eines Kriegsveteranen, aus verschnürtem Leder und zerkratzem dunklen Metall hatte sich zu ihnen gesellt.
Es starben jetzt immer mehr Kriegsveteranen, und was von ihnen übrigblieb, waren ausgebleichte Sexhefte und Benzinkanister aus der französischen Militärgarnison. Hüte mit ausgeleierten Schweißbändern und daneben, wie ordentlich abgelegt, ein müdes, zerkautes Gebiß mit bräunlich verfärbten Zahnstümpfen. Wintersocken, Faschingskostüme und blaue Turnerhemden. Eine ganze Legende verlorener Kriege und Ideale lag dort, von der Geburt bis zum Tod vernutzt - ausrangiert und erledigt.
Alles Verborgene lag dort. Versteckte Soldbücher. Sorgfältig gehütete Verbrechen. Wehmütige Erinnerungen. Persönlicher Krimskrams. Dort lag es nackt, wehrlos und offen herum. Auf brutale Art und Weise obszön wie ein KZ. Jede Menge Schuhe gab es, zertretene, mürbe und schief abgelaufene Schuhe, und ich reihte sie im Schlamm der Lastwagenspuren zu einer endlosen Parade auf. Das tat ich immer, und es war ein merkwürdig trauriges Bild. All diese Schuhe ohne Füße.
Es war ein heidnischer Ort. So willkürlich. So verletzend. So ohne Scham. So entblößt. Die Schuhe übten einen verdorbenen Reiz auf mich aus. Wie cremefarben ausgebleichte Mieder und die geplatzen Nähte in hauchdünnen Nylon-Strumpfhosen, die sich zu winzigen transparenten Geschöpfen in meiner Hand zusammenpreßten. Es war ein Nachlaß, es war Geschichte, es war ein vergängliches Leben. Ohne Respekt an einem Ort verscharrt wie totgeschlagene junge Katzen.
Fuhre um Fuhre darüber gekippt. Und die Maden krochen aus den verfaulten Kohlköpfen. Und die Brotlaibe schimmerten hellviolett und vom Regen aufgeweicht. Es roch nach Schwelbrand, nach Trümmern und Verwesung. Selbst ein Küchentisch, der auf dem Rücken lag, roch nach einer unheilbaren Krankheit. Fliegen und Ungeziefer stürzten sich in Scharen darauf, und die Luft stank tagelang verbogen, verrostet und fremd. Wie ein Spielzeug von unmäßiger Liebe zerschunden und schließlich zu Ende geliebt in den Hades geworfen.
Es war ein gewalttätiger Ort. Die Tage verschwanden dort unter dem Gestank nach Eiter und nach verschmorten Plastik und unter ewig düsteren Brandschwaden, die sich darin krümmten. Wir verschwanden dort. Wie Kinder, die verschwinden. Niemand wußte, was wir taten. Wir waren Kinder. Kinder an einem Ort, der alle Vergänglichkeit wie eine satanische Messe zelebriert. Wir verschwanden heimlich, gotteslästerlich, verdorben, sündig und gierig danach. Und hinterher stanken wir nach Tod und Kloake.
Es wurde unser Leben. Eine endlose Suche nach dem Grund der Dinge. So vieles lag zerbrochen und verstreut herum. Wir wollten es berühren. Wir drehten es unschlüssig in unseren Kinderhänden, um das Unbegreifliche darin zu erforschen. Splitter, Scherben und rätselhafte Bruchstücke. Auseinandergebrochen, zerrissen und immer wieder durcheinander geraten. Verwirrende Atome aus einer Welt, in der die Dinge noch zusammengehört hatten. Danach waren sie verstoßen wie Kinder aus ihrer Kindheit. Etwas war unwiederbringlich vorbei.
Aber nichts konnte uns halten, dort zu sein. Wir waren oft zu zweit. Lew, der Heilige, der mein Gott war, und ich. Und manchmal lungerten auch ein paar Landstreicher herum. Wortkarg und grau zerzaust. Sie krochen geduckt durch eine ausgediente schäbige Welt, die in aufgerissenen lehmigen Erdlöchern vor sich hin stank und verschnürte Briefbündel und leere Poesiealben aus einem dreibeinigen Nachttisch heraus purzeln ließ. Sie suchte nach etwas Eßbarem. Wir aber suchten die Mysterien der Welt.
Von überall her kamen die Mysterien zusammen. Gesichtslos, verstümmelt und klassenlos herangekarrt. Vergilbte Photos von einem Haus und vollgekritzelte Postkarten aus magischen Ländern und ein Zirkelkasten ohne Zirkel im Inneren eines aufgespannten Regenschirms. Eine Zuckerrübe mit brüchigen Gummiringen für Einmachgläsern fest umwickelt. Und Kriegsorden, die auf vertrockene Osterglocken gefallen waren. Es floß alles durcheinander hindurch, hakte sich ineinander fest und verrottete. Ohne Aufgabe und ohne Würde.
Der Tod der Gegenstände brannte die Augen aus wie die verkokelten Rauchschwaden, die über alles hinwegzogen. Lew, der Heilige, der mein Gott war, fand einen mit einer Axt zerhackten Rumpf, einen Puppenkörper ohne Arme und Beine, eine Mißbildung ohne das blondgelockte Haupt eines Putto. Er band ihn auf Stelzen und steckte eine scharf geschliffene Messerscheide als Kopf auf den ausgedienten Körper auf. Überall Schicksal und Verdammnis. Es war ein gewalttätiger Ort.
Ein Ort, der die aus dem Paradies vertriebenen, heimatlosen Mysterien grob und unbekümmert aufeinander schmiß und sie aufschichtete zu dämonischen Altären. Uhrwerke, deren ausgeleierte Federn nutzlos an ihnen herumbaumelten, fraßen sich durch Glasaugen aus dem Vertreterkoffer einer längst vergessenen Porzellanmanufaktur. Knorrige Schuhsohlen mit Reihen aus winzigen rostigen Nägeln mutierten zu bedrohlichen, alles verschlingenden Mäulern von Ungeheuern. Es war ohne jede Vernunft. Es war ein Spiel, die verlorene Welt zu retten.
Als gäbe es einen geheimen Bauplan für den Grund der Dinge. Wir waren doch noch Kinder, und wir fühlten uns wohl dort. Wir verschwanden dorthin im Januarnebel und an all den regenströmenden, windgepeitschten Tagen im Herbst. wir waren dort in der Gluthitze des August, und wir wühlten unter dem Schnee nach ungeheuerlichen Entdeckungen und Funden über das Schicksal hinter den Dingen. Wir wühlten nach dem Abenteuer unserer Existenz, nach der Vergangenheit, nach der Heimat und den im Krieg verschwundenen Leichen. Und der Schnee schimmelte und stank nach Moder.
Es war vorbei. Die Dinge waren ausgenutzt. Oder sie waren wertlos. Oder hinderlich oder veraltet. Der Platz, den sie unnütz weg nahmen, wurde gebraucht, und andere neue schöne Dinge eroberten jetzt die Welt. Und das Land entrümpelte seine Geschichte. Es entrümpelte seine Geschichte der Dinge wie ein Weltkrieg seine Schuld. Hier war das Ende von allem.
Und dann war auch das vorbei. Der Alltag hatte nur noch Alltägliches zu entrümpeln. Wohnungswechsel und die üblichen Sterbefälle. Scheidungen und Trennungen. Wohlstand und seinen Nachlaß. Armut und ihren Nachlaß. Magnetisch angezogene Absonderlichkeiten und Sammelsurien. Ein Getriebe ohne Räder. Ein wundersame Ladung angehäufter Flamenco Gitarrenhälse von einer ganz eigenen Schönheit. Und eine ausgehöhlte gelbe Melone mit in Zacken herausgeschnittenen Augen, Mund und Nase und mit einer Kerze darin.
Am Schluß war alles ohne Sinn. Ausgedient und ausgemustert. Eine weitere Verwendung war nicht vorgesehen. Es füllte die schmutzigen, lehmigen Erdlöcher, und es würde überquellen und in den Schwelbränden wieder und wieder zusammen fallen bis es genug wäre. Und dann würde Erde darüber geschüttet werden. Ein Berg Erde, dessen Geschichte man vergißt. So wie ein Krieg hinterher mit Planierraupen ganze zerbombte Städte und ihre Trümmer und ihre Opfer und ihre Wohnungen, ihre Läden und ihre Fabriken und ihre verbrannten Blumenrabatten und ihre Tierkadaver achtlos zusammen und beiseite schiebt und frische Muttererde darüber kippt.
Und das Wirtschaftswunder kippte den ungeliebten Rest später hinterher dort hin, wo es Fuhre um Fuhre unter der Oberfläche verschwand wie leere Patronen einer tschechischen Armeepistole in einem aufgeschlitzten Kopfkissen. Es lag an uns, was das alles zu bedeuten hatte. Es bekam langsam den Geruch verbrannter Eingeweide. Und hartnäckig wie die Ratten hörten wir nicht auf damit, an dem zähen Fleisch herum zu zerren der überlebenden und der zurückgekehrten und der schweigsamen Leichen, die unsere Väter waren.
Es trieb uns dort hin. Heimlich, neugierig und arglos. Wir waren schließlich Kinder, und wir hätten das Recht gehabt, es zu sein. Es war der perfekte Ort für Mordgeschichten. Für großartige trojanische Funde und Ausgrabungen. Für blutige, togeschlagene Katzenjungen. Aber wir fanden nie einen Piratenschatz und nie eine richtige Leiche. Wir wurden einfach nur viel zu rasch den verschwundenen Dingen immer ähnlicher. Wir wurden alt wie die alten Geschichten und fremd, in all diesen fremden Dingen, in denen wir herumstöberten.
Der Mann, der mein Gott war, hielt nicht mit als die neue, brave Wohlstandswelt darauf drängte, daß er mit ihr mithielt. Er wurde Müll. Er zerfiel und zerbrach. Eine leere Schachtel voller nutzloser Geheimnisse. Unbrauchbar. Seine klaren Augen nutzten sich ab und wurden stumpf. Er hielt nicht mit. Er ließ zwei hablbrunde, übergroße und besessen blankpolierte Schöpfkellen aus einem quälend eng gezurrten schwarzen Lederstiefel herausquellen und verschnürte ein verwirrtes Puppengesicht in das Maulgeschirr eines Hundes. Dieses Geheimnis nannte er: Meine Mutter.
Er steckte das Zerbrochene, das Fremde und die Mysterien neu ineinander und fand darin eine eigene Welt, die ihn schließlich verschlang.
Sein letztes Geheimnis war ein verfaulter Hundeschädel, der zu einem Hund gehörte, der von einem Lastwagen auf der Landstraße überfahren worden war. Er trennte den Kopf mit einem kleinen Taschenmesser mühselig vom Rumpf der Kreatur und nahm ihn mit. Er gab ihm ein Zuhause. Einen Ort, wo der Schädel zu ihm gehören sollte, und wo der Kopf des überfahrenen Hundes nie wieder einsam sein würde, weil er, der Heilige, der mein Gott war, ihn wirklich brauchte. Er holte diesen Schädel aus seiner Einsamkeit und aus seiner Verdammnis. Als gäbe es eine letzte Chance, gerettet zu werden. Aber seine Gebete waren umsonst.
Wir verloren unsere Kindheit so wie die Dinge dort ihre eigene Zeit und ihren eigenen Ort verloren hatten. Dinge, die man nicht mehr wollte, die man weg haben wollte, die man verschwinden lassen mußte. So verloren die Dinge ihre Heimat. Es lag nicht an uns, daß wir nirgendwo hin gehörten. Wir verloren unsere Kindheit und waren eine verschwundene Legende noch bevor das Erwachsenwerden begann. Wir blieben einfach verschwundene Kinder. Dort wo alles zu Ende ist, wor nichts mehr zueinander paßt, dort wo der Krieg seine Geschichten verscharrt hat.
Es war das große Mysterium am Ende eines Regenbogens, Es war die große Suche danach und wir verirrten uns wie kleine Kinder, die staunend, neugierig und in ihr Spiel vertieft den Weg verlieren. Regenbogenkinder. Wir gelangten nie dorthin an das Ende des Regenbogens. Und dann war der Regenbogen verschwunden.
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