Wandler, Zeitschrift für Literatur, Nr.26

Zurück zur Titel/Inhalt dieser Ausgabe, zur Wandler Startseite


Markus Orths

Auf meinem Weg hinunter zum Fluß kam ich am Walfisch vorbei, einer alten Eckkneipe, und aus den gekippten Fenstern drang Klaviermusik. Ich hielt inne und lauschte. Zuerst glaubte ich, das Stück sei von Dimitri Tiomkin, dann aber mußte ich an Max Steiner denken: das verwirrte mich. Von wem war es nun: von Steiner oder von Tiomkin? Ich wollte Klarheit und öffnete die Tür. Die Kneipe war gut besucht. Fast kein Sonnenstrahl drang durch die milchig-fettigen Scheiben, vor denen grauverstaubte Plastikpflanzen standen. Die Wände waren mit Kinoplakaten aus den Fünfzigern beklebt: rauchzerbissen.

Ich ging zur Theke und bestellte einen Martini. An den Tresen gelehnt, schwenkte mein Blick langsam über die Tische hinweg, ehe ich den Mann am Klavier ins Auge faßte. Er spielte selbst­vergessen dieses mir fremde Stück, das ich zugleich kannte und wieder nicht kannte, ein Stück, das eigentlich aus zwei Stücken bestand, zwei Stücke, die für den Film komponiert worden wa­ren, eines von Tiomkin, das andere von Steiner. Der Pianist ver­stand es, die beiden Stücke so ineinander zu verflechten, daß beide noch gut zu erkennen waren, daß gleichzeitig aber etwas Neues entstand, das sich über das bereits Bekannte legte. Ich war beeindruckt, fragte den Wirt nach dem jungen Mann und erfuhr, daß er Student an der Musikhochschule war, und sich seit eini­gen Abenden im Walfisch sein Geld verdiente.

Ich ging zu Schneider, so sein Name, ans Klavier, blieb mit dem Glas in der Hand neben ihm stehen und schaute ihm zu.

Schneider kümmerte sich nicht um mich, und auch ich sprach ihn nicht an, denn während er spielte, hielt er nicht etwa von Zeit zu Zeit inne, um die Noten zu wechseln oder die Finger zu dehnen oder einen Schluck zu trinken, nein, er spielte durchgängig, wie im Fluß, ohne Unterlaß. Und abgesehen von jenem ersten Stück, das mich in die Kneipe gelockt hatte, war mir die Musik, die er spielte, nicht bekannt, wohl aber schien es eine Musik für Bilder zu sein, für Bilder, die sich bewegten: eine Filmmusik. Ich genoß es, dem jungen Pianisten zuzu­hören, und ließ mich gleich­sam tragen von dem, was er darbot.

Nach einiger Zeit stellte ich mich so ans Klavier, daß ich ihm in die Augen sehen konnte, und ich begriff endlich, was dort vor sich ging: Der Pianist blickte, während er spielte, nicht auf seine Hände, nicht auf die Tasten, nicht auf das braune Holz des Kla­viers, nicht auf das wie sinnlos vor ihm aufgeschlagene Noten­heft, nein, er blickte, ohne den Kopf verrenken zu müssen, am Klavier vorbei, in die offene Kneipe hinein, zu den Tischen, an denen die Men­schen saßen und redeten: Schneider atmete alles, was geschah, gierig ein, um es zur gleichen Zeit ins Klavier zu bannen. Der Film, zu dem er die Musik spielte, lief vor sei­nen Augen ab, und Schneider fing die Wirklichkeit der Kneipe ein, als Spiegel aus Schall.

Ich sah genauer hin.

Schneider konzentrierte sich immer auf einen der Tische und studierte die Bewegungen und Mienen der Menschen. Stand plötzlich jemand auf, sprang auch die Rechte in höhere Gefilde; sah ein Pärchen sich tief in die Augen, zerschmolz die Musik; tippte jemand mit dem Bierdeckel im eckigen Wechsel auf den Tisch, wurde auch Schneiders Melodie fahrig und zerrissen; hörte ein Gast nicht auf zu lachen, trillerten Schneiders Zeige- und Mittelfinger passend zur Stimmlage. Und einmal fiel ein Glas um und mit ihm Schneiders Rechte in fünffingrigem Akkord schwer in die Tasten, und Bier und Melodie versickerten ein­trächtig, ehe sie vom Lappen des Wirtes und von Schneiders Glissan­dokuppen aufgewischt wurden.

Währenddessen bot Schneiders linke Hand eine andere Tonfolge dar, eine monotone Begleitung, mit der Schneider wohl versuchte, den ver­rauchten Raum zu beschrei­ben, die müde Grund­stimmung der gesam­ten Kneipe, diesen vielmün­digen Gesprächs­fluß. In tief wispern­den Sequenzen sog Schneider das alles durchträn­kende Gerede der Men­schen in das Klavier hinein. Und das gelang ihm so gut, daß ich darüber vergaß, meinen Martini zu trin­ken.

Schneiders Spiel besaß die höchste aller Qualitäten, die gute Filmmusik auszeichnet: Niemand nahm sie wahr. Keiner der Gäste beachtete den jungen Komponisten, die Musik fügte sich um sie wie ein zweiter Atem, von ihnen selbst ausgeströmt, ohne im geringsten zu stören. Die Anwesenden waren bei sich selbst und bei dem, was sie taten und sag­ten. Keinem fiel auf, daß sie alle vom Klavier klar und präzise aufge­nommen und abgespielt wur­den. Alles um sie herum war für sie von einer natürli­chen Ord­nung, ganz so, als gehöre das Spiel wie der Rauch und das Bier zum Rahmen des Gewohnten.

 

Wenn die Musik, die ich hörte, nicht mehr zu dem paßte, was ich sah, schaute ich manchmal gleich zu Schneider hin, um heraus­zufinden, wohin dessen Blick gewandert war, manch­mal aber begann ich auch ein Ratespiel und versuchte selber den Tisch ausfindig zu machen, den Schneider gerade neu ins Auge faßte. Und während ich derart weiter zu den Tischen schaute, gebannt, in Fesseln aus Tönen, nahm ich plötzlich eine Wandlung der Musik wahr, es waren tiefe, schlundige Töne, die noch tiefer hinab­reichten als die linkshändige Begleitung: Schneider hatte begonnen, seine Hände zu kreuzen, die Linke vertonte weiter das bieratmende Geschwätz der Leute, während die Rechte sich über das linke Handgelenk streckte und zu den untersten Tönen des Klaviers zu kriechen begann, ein langsames, mattes Schildkröten­kriechen.

Ich ahnte wohl, daß er mich nun ansah, mich, der ich immer noch mei­nen ersten Martini in der Hand hielt, und ich wurde unruhig bei diesem lei­sen, bassen Ausatmen des Klaviers. Ich wagte nicht, mich zu ver­gewissern, ob meine Ahnung stimmte, ich klam­merte mich an den Ver­such, im dunklen Raum den passenden Gegenpol für die Musik zu fin­den. Das gelang mir nicht. Die Töne wurden leiser. Sie schienen ver­stummen zu wollen. Ich mußte erken­nen, daß nichts, was ich sah, dem entsprach, was ich hörte. Ich würde dem Mann am Klavier in die Augen sehen müssen, wollte ich endgül­tig wissen, worauf sein Spiel sich richtete. Spielte er wirklich diese Töne und sah mich dabei an? Ich verstand ihn nicht, ich war doch vollkommen still, und meine Augenli­der regten sich nicht, wie kam er dazu, der Mensch am Klavier, mich derart in Musik zu pressen, als krie­chendes Abwärtsgleiten in schwarze Gründe, was dachte er sich dabei, wie konnte er dies tun, ohne mich zu kennen?

Ich wandte mich um.

Tatsächlich, Schneider sah mir offen und unverhohlen ins Ge­sicht. Der junge Komponist beendete sein Spiel, ließ die Hände kurz über Kreuz auf den Tasten ruhen, als wolle er sie einem Feind zum Fesseln reichen, erhob sich dann rasch und schloß den Deckel des Klaviers.


 

Wandler, Zeitschrift für Literatur, Heft 26

Zurück zum Anfang der Seite, zur Titel & Inhalt von Heft 26, zur Wandler Startseite