Wandler, Zeitschrift für Literatur, Nr.26: WANDLER

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Peter Lober

Die Sonne zeichnet bereits erkennbare Muster. Auf dem Markt werden Setzblumen verkauft. Geranienkästen werden vor die Fenster gestellt. Insekten wärmen sich. Man könnte sich wohl fühlen.

Auch dieses Mal ist der Mai gekommen. Die gesunden Pflanzen haben zu grünen begonnen. Es scheint so zu gehen, wie es im­mer ging. Einiges ist zerstört, immer war einiges zerstört.

Er sitzt vor einem Kaffee und raucht, z.B. am Ludwigsplatz. Er betrachtet Vorübergehende. Er hat nichts zu tun, das scheint ihm Zeit zu lassen. Er ist nicht gewohnt, Zeit zu haben, meistens ist er beschäftigt. Es irritiert ihn. Er ist allein und kann davon nicht reden. Damit könnte erklärt werden, weshalb er nachzudenken beginnt.

Ein Mann mittleren Alters, so schreibt es sich am leichte­sten. Er raucht, obwohl er weiß, daß es schädlich ist. Seine Verhältnisse sind leidlich geordnet, so ist es am einfach­sten. Er sei beschrieben als einer von vielen. Nichts Außer­gewöhnliches soll ihn absondern. Er ist nicht klein, noch groß. Er ist nicht zu dick, doch es schadete nichts, wenn er abnähme. Er glaubt ein bißchen, aber beileibe nicht alles. Er ist versichert, weil man nie weiß. Kompliziert ist er nicht, doch ebensowenig problemlos.

Es gibt ihn als Figur, doch nicht als Individuum. So wie er sind viele möglich.

Er deutet alles sehr gegenständlich. Da ist etwas im Beruf, das sich entzieht. Da ist noch etwas Unausgesprochenes zwi­schen ihm und der Frau. Auch zu den Kindern ist sein Ver­hältnis nicht unbedingt eindeutig. Er versucht, wenigstens seine Freundschaften als gesichert anzusehen. Er tröstet sich ungeschickt.

Er ist beunruhigt. Er spürt, daß etwas falsch ist. Er fragt sich, wer ihn so mäßig geplant hat. Unerfüllte Wünsche fallen über ihn her. Er beschließt, sich etwas zu kaufen. Nach diesem Entschluß fühlt er sich besser.

Er bestellt noch einen Kaffee. So wäre alles in Ordnung. Er würde seine zweite Tasse trinken, eine weitere Zigarette rauchen, irgendwann stünde er auf und würde sich einreihen unter die, die etwas zu tun haben. Doch irgendwo, nach der zweiten Tasse Kaffee, ist ein Knick.

Jemand begrüßt ihn. Beide erkundigen sich nach ihrem Befinden. Gleissner geht es gut. Dittmer sagt, daß es ihm schlecht geht. Gleissner wird unsicher. Er hatte nicht erwartet, eine richtige Antwort auf seine Frage zu bekommen. Das wollte er nicht wissen. Er hatte nur so gefragt. Wie es sich gehört. Was ist schon anzufangen mit einer Antwort.

Gleissner weiß nicht weiter. Es fragt Dittmer, weshalb es ihm schlecht geht. Dittmer nimmt die Frage ernst. Er sagt, was ihm fehlt. Er spricht von seinen Sorgen, von der Angst um den Job, von den Eheproblemen. Er sagt: "Nichts mehr ist sicher, am wenigsten das, was sicher erscheint."

Jetzt möchte Gleissner am liebsten zahlen. Er beschließt, einen Termin wahrnehmen zu müssen. Er mag dieses Gespräch nicht. Der Tag ist viel zu schön.

Dittmer unterläuft seine Entschließung, er verabschiedet sich schnell. Gleissner fragt sich, ob er nicht genug auf Dittmer eingegangen sei. Er fühlt sich schuldig, weil er sich dem Gespräch entziehen wollte. Es gelingt ihm, seine Unruhe noch einmal zu verschieben. Also zitiert er sich den Satz: Jeder muß selbst sehen, wie er klarkommt. Am Ende des Satzes weiß er, daß er sich wieder gedrückt hat.

Gleissner wird ärgerlich. Zum wiederholten Male bemerkt er unpräzise, daß der Tag schön ist. Eigentlich wollte er den schönen Tag besser ausnützen. Er versucht, Dittmer für sein Unbehagen verantwortlich zu machen. Als er jetzt an seine berufliche Aussichten denkt, scheinen ihm seine Möglichkei­ten geringer. Das Verhältnis zu seiner Frau war auch schon besser. Die Kinder kommen ohne ihn zurecht. Es kommt ihm so vor, als hätte er etwas versäumt. Gleissner beginnt, sich nachdrücklich unwohl zu fühlen. So ist der Tag weniger schön. Grund genug, an sich selbst Fragen zu stellen.

Er fragt nicht. Er hat keine Lust. Er will nicht Trübsal blasen. Er zahlt und geht. Er hat beschlossen, etwas zu tun zu haben.

Dittmer wälzt sich auf die Seite. Er wird wach. Sie schläft noch. Er ist froh, daß sie noch schläft. Sie haben Streit gehabt. Sie streiten manchmal. Wie es scheint ohne Grund. Er steht leise auf.

Alle geht wie gewohnt. Er denkt nicht nach, alles ist schon erprobt. Als er sich Kaffee macht, bemerkt er, daß er vor­handen ist. Er zieht die Jalousien hoch. Draußen ist es schön. So wie die Sonne strahlt, schätzt er sie sonst nur im Fernsehen. Ich stelle mir vor, daß Vogelstimmen zu hören wären, wenn er das Fenster aufmachte. Er läßt es zu.

Er trinkt seinen Kaffee. Er liest die Zeitung nicht. Als die Ehe noch neu war, hatte sie sich immer gewehrt, beim Früh­stück alleine zu sein. Er stellt seine Kaffeetasse in den Ausguß. Er setzt sich noch einmal an den Tisch. Er weiß nicht, was den Gang der Dinge störte.

Dann muß er doch gehen. Er geht leise. Er will ihr nicht begegnen an diesem Morgen. Er wäre befangen gewesen. Er will stark vor ihr dastehen. Immer seltener ist er sich selbst glaubwürdig.

Während er auf die Straßenbahn wartet, könnte man ihn nachdenken lassen. Auch in der Straßenbahn wäre Gelegenheit und Zeit, ihm Unbewußtes bewußter werden zu lassen. Da es ungewiß ist, ob das Nachdenken an Straßenbahnhaltestellen und bei Straßenbahnfahrten etwas zur Klärung der Geschichte beiträgt, unterbleibt es. Feststellbar ist, daß der schöne Morgen nichts Wahrnehmbares an seiner Fahrt ins Büro ändert.

Dittmers Büro ist wie andere Büros. Es ist ihm vertraut, daran ändert sich nichts. Er arbeitet schon lange hier. Er kann sich nicht vorstellen, nicht mehr hier zu sein. Seine Kolleginnen und Kollegen finden seine Anwesenheit selbstver­ständlich. Wenn er Urlaub hat, warten die anderen genauso darauf, daß sein Urlaub vorbei ist, wie er auf das Ende des Urlaubs von Kollegen wartet. Auch an diesem Tag tröstet ihn das Gewohnte. Er weiß, was er tut, doch er könnte nicht sa­gen wie. Seine Arbeit ist nützlich, weil sie bezahlt wird. Dafür trägt er Verantwortung, die ihm gut tut.

In letzter Zeit hat er weniger zu tun. Bei den Kollegen ist es ähnlich. Von Entlassungen wird nicht gesprochen. Entlassungen sind ein Thema, das im Büro vermieden wird. Es gibt viele Themen, über die man nicht spricht, manchmal sagt einer: "Früher war alles ganz anders." Jeder stimmt dem zu. Ein anderer sagt dann: "Daran kann man nichts ändern." Auch das wird von allen bestätigt.

Er beschließt, in der Mittagspause nicht in der Kantine zu essen. Er will ein bißchen durch die Stadt gehen. Der Tag ist wirklich schön. Er geht z.B. die Kaiserstraße entlang. Er fühlt sich unter anderen Menschen sicherer als allein. Die Sonne wärmt schon. Er fühlt sich nicht wohl in seiner Haut. Er weiß nicht, was ihn stört. An der Straße sitzen Leute vor den Cafés. Einige essen schon Eis. Er biegt ab. Am Ludwigsplatz sitzt Gleissner und trinkt Kaffee. Sie sagen das Übliche. Als Gleissner ihn fragt: "Wie geht es?", sagt er: "Schlecht." Gleissner fragt ihn auch noch warum. Da gibt er ihm Antwort. Er sagt, daß er Angst hat um das Büro und um die Frau. Es ist ihm passiert. Er weiß nicht warum. Er weiß nicht, wann er sich darüber Gedanken gemacht hat. Gleissner reagiert verlegen. Er kramt in der Tasche. Dittmer merkt, es ist falsch, von sich zu reden. Jetzt ist es ihm peinlich. Er verabschiedet sich schnell. Er weiß nicht, wie es ihm pas­sieren konnte. Er beschließt, auf keinen Fall seiner Frau davon zu erzählen. Zurück ins Büro geht er im Schatten.

 

 

(aus: Dampedei 114, Juni 86)


               für Wolf W.

 

Dort an den Booten,

als wir uns rasierten

damit die Bärte besser wüchsen, hielten wir uns

und die großen Worte

für wahr.

Fürwahr,

fürstliche Zeiten

während der Zweifel

nur Worte waren

um die Väter mit der Welt

zu zertrümmern.

Seitdem sind viele

Wörter gemacht worden.

Auch die Welt steht noch.

 

 

 

(aus: Dampedei 119, Dezember 1986)


Eine Zeit reicht nicht.

Ein Leben reicht nicht.

Als ausreichend erwies sich nur:

Angst und Schmerz und die unbeschreibliche Ein­sichtslosigkeit der nach rückwärts Sehenden. Im Sommer entlauben sie die Bäume, weil sie nur den Winter kennen.

Der Herbst ist da, der Herbst ist da,

ist das liebste Lied der Brennstofflieferanten. Die Papierindustrie proklamiert den Tag des Baumes, Männer den Tag der Frau, die Nation den Tag des Kindes.

In diesem Sinn steht zu erwarten, daß Generäle zu einem Friedenstag aufrufen werden.

 

 

 

(aus: Dampedei 80, Mai 1983)


 

Arbeitssüchtig?

Licht und Luft und Sonne

Lust an der Arbeit

Reibung am Glück

Gelegentliche Versicherungen

der Bescheidenheit.

Kantaber, kantaber,

die gleichen Worte

eines Überdrusses

der sich selbst mariniert.

Sauer und Sodbrennen

wenn der Tag

kein Feuerwerk war

weil die Märchenprinzen

im überfüllten Kleiderschrank

blieben

und die Wörter

taktvoll Betulichkeit

säuseln

Noch bewegt sich der Tag

noch steht die Sonne

gelegentlich sichtbar

da

oben

Das nicht eingelöste Gestern

verbiegt sich vorm Morgen

Heute -

Heute, steht Vergessen herum.

 

 

 

 

(aus: Dampedei 113, Mai 1986)


 

Wandler, Zeitschrift für Literatur, Heft 26

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