Wandler, Zeitschrift für Literatur, Nr.26:

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Bernd Hettlage

Ich war noch beim Renovieren der neuen Wohnung, strich tagsüber die Wände, duschte gegen Abend und hetzte ins Theater, die Handrücken besprenkelt mit hartnäckiger, weißer Farbe. Ich betreute damals bei den Abendvorstellungen die Technik. Ein Job im Verborgenen. Klappte alles, drückte ich an meinem computergesteuerten Pult die Lichtwechsel richtig, fuhr die Regler für die Spezialeffekte gefühlvoll rein und raus und versäumte keins der Stichwörter für die Toneinsätze, merkte es kein Mensch. Der Beifall am Ende galt nicht mir. Nur wenn ich einen Fehler machte, nahm mich der Saal wahr. Alle drehten sich zu mir um. Und ich, im Hintergrund zwischen den High-Tech-Apparaten sitzend, war innerhalb einer Sekunde schweißgebadet. Aber ich will mich nicht beschweren. Im Grunde gefiel mir der Job. Ich konnte selbstständig arbeiten, und die Schauspieler bedankten sich immer mal wieder.

Ich kam mir wie einer dieser Vorführer im Kino vor, die jahrelang Filme in sich hineinfressen, sie in den zwanzig oder fünfzig Vorstellungen, die sie pro Stück mitansehen, analysieren und sezieren und später erfolgreiche Regisseure werden. Vielleicht würde ich ein Theaterstück schreiben und berühmt werden.

Gegen Mitternacht kam ich normalerweise nach Hause, trank noch ein Bier am Küchentisch, während durch das offene Fenster die Geräusche der Nachbarn über den Hinterhof hallten: Stimmen aus dem Fernseher, lautstarke, alkoholhaltige Gespräche, manchmal Liebesgestöhne, dass wie ein Echo von den Wänden in meine Küche prallte und Erinnerungen weckte. Ich versuchte ein mildes, gönnerhaftes, abgeklärtes Lächeln dazu aufzusetzen, obwohl mich ja überhaupt niemand sah. Nur so zur Selbstachtung.

Ich war ganz zufrieden. Ich war aus meiner alten WG ausgezogen und hatte mir eine kleine Wohnung gesucht. Ich wollte eine Weile alleine sein. Ich wollte nachdenken und musste ausserdem eine Liebesgeschichte verdauen.

Es war der dritte oder vierte Tag in der neuen Wohnung. Meine Sachen standen schon drin, ich war in die unrenovierten Räume eingezogen und schob meine Möbel nun von Zimmer zu Zimmer, je nachdem, wo ich gerade strich und werkelte.

Am Abend vorher war Premierenfeier gewesen, ich lag noch im Bett und träumte vom neuen Stück. Ich hatte einen Toneinsatz, passte ihn genau richtig ab, fuhr ihn souverän rein. Ich fand sowieso, dass meine Arbeit etwas Künstlerisches hatte. Ich arbeitete mit den Schauspielern zusammen, ich hatte eine Verbindung zu ihnen.  Schließlich musste ich auch auf ihre Versprecher, ihr jedesmal anderes Tempo reagieren. Wir waren ein einziger, gemeinsam pochender Organismus.

Solche Ansichten behielt ich aber für mich.

Der Ton wurde auf einmal immer lauter, ein dröhnender Bass erfüllte den Saal, zerfetzte den Leuten die Ohren, alles wandte sich empört zu mir um, während ich verzweifelt an den Reglern drehte und den Fehler suchte.

Ich schreckte hoch. Dumpfe, pumpende Bässe ließen mein Bett vibrieren. Sie kamen eindeutig aus der Nachbarwohnung. Die Lautstärke war ... – einfach unverschämt. Ich sank wie erschlagen ins Kopfkissen zurück. Mein Kopf war ein Bergwerk, in dem kleine Zwerge irgendwelches Gestein von der Schädeldecke hämmerten. Techno-Zwerge.

Am meisten war ich davon geplättet, wie jemand es fertigbrachte, in einem hellhörigen Altbau um neun Uhr morgens – ach was, egal zu welcher Zeit! – die Musik so laut zu drehen. (Wenn man das Musik nennen kann, keifte ich böse für mich).

Ein paar Minuten später stand ich vor der Nachbarstür. Natürlich schwante mir nichts Gutes. Wer es wagte, die Musik so laut zu stellen ...

Ich klingelte, nichts rührte sich. „Bumm, Bumm, Babooom!“ machte es drinnen. Nach einer Weile begann ich laut an die Tür zu pochen. Es war eine alte, weiße Kasettentür aus dickem Holz. Sie vibrierte. Wahrscheinlich kam das eher von der Musik als von meinen Schlägen. Dann schwang sie unvermittelt nach innen auf. Mühsam hielt ich das Gleichgewicht.

Vor mir stand ein Zwei-Meter-Riese mit Glatze in einem Wall von Lärm. Er schnaufte und kniff die Augen zusammen, so dass eine dicke, wulstige Falte an der Nasenwurzel entstand. Sein Gesicht war rot angelaufen, Bluthochdruck dachte ich bei mir. Schlank war er auch nicht gerade. Er trug nichts als einen schwarzen Slip und schwarze Socken. Ein Riesenbaby im Slip, das nach Bratfett stank. Ein wütendes Riesenbaby.

„Was soll das?“ schrie er.

„Die Musik.“ schrie ich zurück und deutete in seine Wohnung.

„Was?“

Seine Boxen pumpten  Bässe ins Treppenhaus, dass die Buntglasscheiben anfingen zu zittern. Der Riese verschwand nach innen, stellte die Musik tatsächlich leiser und kam wieder.

„Was willst Du?“ schnaubte er jetzt in normaler Lautstärke.

„Die Musik,“ erwiderte ich vorsichtig, „war ziemlich laut.“

„Ich bin eingeschlafen“, antwortete er schweratmend und dünstete dazu eine neue Welle von Fett und Essensgerüchen aus. „Ich komme immer erst um halb neun von der Arbeit.“ Er sagte nicht, welche. Ich tippte auf einen Döner-Imbiss oder etwas Ähnliches, das die ganze Nacht geöffnet hatte.

Wie gesagt, er war zwei Meter groß und sah nicht gerade freundlich aus. Deshalb sagte ich ganz ruhig und schon eher im Rückzugstonfall: „Naja, einschlafen oder nicht, mach’s einfach nicht so laut, ja.“

„Ich muss mich abreagieren nach der Arbeit.“

Nicht bei mir bitte, dachte ich und sah ihm ins Gesicht.

„Ich dachte, morgens um diese Zeit sind sowieso alle bei der Arbeit. Bist du arbeitslos?“ Er stützte sich in den Türrahmen und beugte sich vor.

„Ich bin am Theater.“

„Theater ...“. Er ließ eine schwere Pause folgen. Seine Augen waren klein und zugeschwollen wie die von Axel Schulz am Ende eines Kampfes. Ich hatte das deutliche Gefühl, dass für ihn das Wort Theater gleichbedeutend mit ‚Schwuchtel‘ war.

Ich wollte die ganze Situation jetzt beenden.

„Stell‘s das nächste Mal bitte leiser, ja,“ bat ich in einigermaßen energischem Tonfall, nickte nochmal bekräftigend und zog mich in die Wohnung zurück.

Soweit die erste Begegnung mit ihm. Nicht dass die Musik jetzt wirklich leiser wurde, obwohl ich mir das anfangs noch versuchte einzubilden. Etwa zwei- bis dreimal die Woche schreckte ich morgens aus dem Bett. Mal wummerten die Bässe nur zehn Minuten lang, dann wieder schlief er offensichtlich drüber ein. Zweimal versuchte ich noch zu intervenieren. Beim ersten Mal stand ich vor seiner Tür, als ich von innen zusätzlich zum Techno-Gehämmer klatschende Geräusche und ein lautes Ächzen hörte. Entweder hatte er eine Domina zu Besuch, oder er patschte in irgendwelchen Schwermutsanfällen mit seinen Pranken auf den Küchentisch. Statt zu klingeln ging ich zum Bäcker um die Ecke, nahm eine Zeitung mit, trank zwei Tassen Kaffee und aß einen Schokoladencroissant. Ich aß sowieso in dieser Zeit mehr Süssigkeiten. Die Geschichte mit Sylvia beschäftigte mich doch noch stark. Ich nahm zu, nicht viel, aber  so um die zwei Kilo, die meine vorher makellose Linie verdarben. Etwa einmal die Woche holte ich mir zudem nach der Arbeit vom Italiener schräg gegenüber eine Pizza. So ein Mitternachtsmahl war zwar auch nicht gut für mein Gewicht, aber zusammen mit einer Flasche Merlot übertönte es das Liebesgeschrei im Hinterhof. Nach ein paar Wochen meinte ich zu spüren, dass die Blicke der Italiener mitleidiger wurden. Komischer Typ, immer alleine, dachten sie vielleicht. So nahm ich einmal einfach zwei Pizzen mit, worüber sie sich sichtlich freuten. Die zweite Pizza wärmte ich mir am nächsten Tag auf.

Beim zweiten Mal, als ich mich gegen den Lärm wehrte, vibrierte ich in meinem Bett solange im Rhythmus der Bässe mit, bis ich meinte, auf der Stelle verrückt zu werden oder mir eine Bratpfanne nehmen zu müssen, um dem Riesen den Schädel einzuschlagen. Ich sprang auf und rannte zu seiner Tür, ohne mir Zeit zum Nachdenken zu lassen. Auf mein Hämmern öffnete er, und ich röchelte nur: „Die Musik – ich halt’s nicht mehr aus!“

Er starrte mich aus bösen, kleinen Augen an, zuckte angesichts meiner verzerrten Miene die Achseln, verschwand nach hinten, drehte die Lautstärke herunter und kam zurück.

„Recht so?“ fragte er und legte in diese zwei Worte die deutliche Betonung, dass er mir nichts weiter als eine einmalige Gnade erwiesen hatte und ansonsten gar nichts entschieden war. Wieder drinnen in meiner Wohnung vibrierten die Wände immer noch, obwohl die Bässe jetzt wesentlich leiser dröhnten. Es musste ihre Frequenz sein, die die Mauern in Schwingungen versetzte. Vielleicht sollte ich mir eine andere Wohnung suchen.

  AmTag darauf klingelte er bei mir, schweratmend und in einer Wolke aus frischer, stark riechender Seife, die das darunter begrabene Bratfett doch nicht ganz überdecken konnte. Erst glaubte ich, er wolle sich tatsächlich bei mir über den fortdauernden Lärm entschuldigen, denn er wirkte so verlegen, als würde er einen Hut in seinen Händen drehen. Stattdessen sagte er: „Ich fahre in Urlaub. Ich wollte Dich fragen, ob Du meine Blumen gießen kannst.“

Ich spürte sofort meine Chance: Ich gieß sie und dafür ... Ich nickte mit dem Kopf, zurückhaltend zwar, vorwurfsvoll – verdient hast du’s ja nicht.

„Könnte ich schon machen.“

„Komm, ich zeig sie dir“, forderte er mich erstaunlich sanft auf.

Seine ‚Blumen‘ entpuppten sich als Grünzeug, die  Wohnung war ein halber Dschungel: zwei große Yuccapalmen, ein Gummibaum, zwei Bambusse, Schilfrohr und anderes Gesträuch, dessen Namen ich nicht kannte. Ich besaß überhaupt nur drei pflegeleichte Topfpflanzen, die es zur Not auch mal eine Woche ohne Wasser aushielten.

„Die da braucht sehr viel Feuchtigkeit. Sie kann ruhig schwimmen“, erklärte mir der Riese eifrig. „Und diese muss jeden Tag gegossen werden, aber nur ganz wenig.“ In seiner Stimme lag Zärtlichkeit. „Ich stell dir zwei volle Kannen in die Spüle.“

Ich konnte mir nicht recht vorstellen, wie die Pflanzen die dauernden Techno-Attacken ertrugen, weiß man doch, dass sie klassische Musik oder indische Sitarklänge mögen. Trotzdem sahen sie gesund aus und strotzen vor üppigem Grün.

„Du bist doch hier in den nächsten zwei Wochen, oder?“ Er sah mich fast bittend an.

„Keine Sorge“, antwortete ich. Vielleicht würde ich mir doch kei

ne neue Wohnung suchen müssen. „Ich mach das schon alles. „Und du wirst nach dem Urlaub die Musik nie mehr zu laut stellen, fügte ich im Stillen hinzu.

Zwei Wochen wollte er also weg sein. In der ersten Woche ging alles glatt. Er hatte mir einen Schlüssel gegeben, und ich war täglich in seiner Wohnung. Ich sah mich zum Ausgleich für meine Arbeit ein wenig um, diskret, nicht dass ich Schubladen öffnete oder so etwas. Jedenfalls nicht alle. Und ich warf auch nur einen Blick hinein, nie wühlte ich in Papieren. Er interessierte mich einfach. Ich wollte erfahren, was für ein Mensch er war, ohne ihn gleich kennenlernen zu müssen.

Einmal klingelte es, als ich seine Pflanzen goss. Ich schlich mich zur Tür und äugte durch den Spion, der in Brusthöhe angebracht war. Ich sah nur ein Stück schwarzen Stoff. Dann beugte sich der Besucher zum Guckloch herunter. Mit angehaltenem Atem wich ich zurück. Ich öffnete nicht. Nach einer Weile entfernten sich die Schritte. Ich eilte zum Fenster, das auf die Straße ging. Der Mann, der unten aus der Haustür trat, trug einen schwarzen Anzug und eine dunkle Sonnenbrille. Er konnte gut ein russischer Mafiosi sein. Als er zur Wohnung hinaufblickte, zog ich mich schnell ins Innere des Zimmers zurück.

Am Montag darauf fiel mir der Schlüssel des Riesen in den Gitterrost vor unserem Haus. Er rutschte mit hinaus, als ich meinen eigenen Schlüsselbund aus der Hosentasche zog. Ich hatte mich über den verdammten Rost schon oft geärgert. Das Gestänge war nämlich ins Pflaster einbetoniert. Man konnte es nicht herausnehmen, und auch vom Keller aus gab es keinen Zugang. Was hineinfiel, war verloren.

Was sollte ich jetzt tun? Mein Nachbar würde erst in einer knappen Woche zurück sein. Bis dahin waren seine geliebten ‚Blumen‘ längst verdurstet. Der Hausmeister war auch noch zwei Wochen in Urlaub, und unten im Gang hatte er einen Zettel angebracht, auf dem er sich dafür entschuldigte, keinen Vertreter gefunden zu haben.

Ich wartete, bis es dunkel war, dann ging ich auf meinen Balkon, der von dem des Riesen  nur durch eine schmale Wand getrennt war. Ich stieg auf die Mauer, die mir etwa bis zum Bauch reichte, klammerte mich an die Trennwand  und hangelte mich hinüber. Einen Moment hing mein Hintern drei Stockwerke über der Straße. Mein Herz klopfte im Techno-Takt dazu. Ich hoffte nur, dass niemand mich beobachtete. Ich schlug mit einem Hammer, um den ich ein Tuch gewickelt hatte, das Glas seiner Balkontür ein, griff hindurch und öffnete sie. Meinem Nachbarn war eine kaputte Scheibe sicher nicht so wichtig, wenn es nur seinen Pflanzen gutging, hoffte ich.

Ich ertränkte sie beinahe, um erst in zwei Tagen die nächste Kletteraktion unternehmen zu müssen, und stand schon wieder auf seinem Balkon, als unten ein Polizeiwagen ohne Blaulicht vorfuhr. Zwei Uniformierte verschwanden in unserem Haus. Augenblicklich brach mir der Schweiß aus. Ich sah mich sorgfältig um, aber nirgendwo entdeckte ich ein Gesicht hinter einer Fensterscheibe. Mit zittrigen Fingern stieg ich auf meinen Balkon zurück. Ein paar Sekunden später war alles Licht in meiner Wohnung gelöscht. Niemand da.

Draußen schwere Schritte vor meiner Tür, ich rührte mich nicht und atmete kaum. Sie klingelten erst, bollerten dann gegen seine Tür, wie das Polizisten eben tun, ob in der Wirklichkeit oder im Film. Wahrscheinlich bekommen sie es genau so beigebracht. Gegenüber auf unserem Stock wohnte ein junges Pärchen, manchmal roch es im Flur nach Gras. Ich wusste, dass sie auch nicht öffnen würden. Als nächstes schellte es bei mir.

Niemand da.

Zum Glück riefen sie nicht: „Öffnen sie, wir wissen genau, dass sie da sind!“ Womöglich waren sie gar nicht wegen mir gekommen, und es hatte ihnen gar niemand den Balkoneinstieg gemeldet. Ich dachte an den Mafiosi. Vielleicht würde ich mir doch eine andere Wohnung suchen.

Die Hüter der Ordnung läuteten auch noch gegenüber, dann zogen sie wieder ab. Ich kletterte noch zweimal in die Wohnung hinüber. Als die Woche um war, erschien mein Nachbar nicht. Er tauchte einfach nicht wieder auf nach Ablauf der angekündigten Zeit. Dafür begegnete ich einmal dem Mann mit der Sonnenbrille in unserem Hausflur. Zum Glück sah er mich nicht aus meiner Tür kommen.

Weitere zwei Wochen vergingen. Ich hatte mich in der letzten Zeit ein paarmal mit einer ziemlich netten Frau namens Britta verabredet. Sie war blond und trug eine Zahnspange, die sie lispeln ließ, was eine erotische Wirkung auf mich hatte. Sie aber litt ein wenig unter der Spange und war froh, dass sie ihr in zwei Monaten abgenommen werden sollte. Ich baggerte ein bisschen an Britta herum und dachte immer seltener an meinen Nachbarn. Ich stieg noch weitere zwei Mal in seine Wohnung, dann fing ich an zu schludern. Was konnte ich dafür, wenn er nicht wiederkam. Außerdem musste der Hausmeister jeden Tag zurück sein, und der besaß sicher einen Schlüssel zur Wohnung des Riesenbabies.

Am fogenden Samstagabend  kam ich spät nach Hause. Nichts deutete auf eine Rückkehr meines Nachbarn hin. Sonntags stand ich entsprechend spät auf, an den Lärm von jenseits der Wand konnte ich mich kaum noch erinnern. Ich wollte Brötchen holen und öffnete meine Tür. Weiter kam ich nicht. Ich schrak zurück. Direkt vor mir lag ein Fleischberg in T-Shirt und Jogginghose, den ich sofort als meinen Nachbarn erkannte. Er lag da wie tot.

Ich nahm seine Hand, um den Puls zu fühlen, sie war eigentümlich steif. Der war wirklich tot, und zwar noch nicht lange. Hier auf meiner Fußmatte gestorben, und ich hatte nichts davon mitbekommen. Mein Puls beulte den Hals aus und wummerte im Kopf wie früher die Bässe seiner Musik. Vielleicht hatte er sogar noch geschellt, und ich hatte es einfach nicht gehört. Ich beäugte seinen Rücken vorsichtig nach Einschusslöchern oder Ähnlichem, aber da war nichts, auch kein Blut. Ich stand wie neben mir, als sei ich von der anderen Seite der Mattscheibe in einen Krimi gezogen worden. Ich rief die Polizei an.

Und sie kamen, einer nach dem anderen, als gäbe es nicht genug Arbeit: Erst ein Rettungsfahrzeug, als nächstes ein Streifenwagen. Die Sanitäter standen unschlüssig vor der Leiche, ich immer noch auf der anderen Seite in der Wohnungstür.

„Wir können nichts tun“, sagten sie. „Den Tod kann nur der Notarzt feststellen.“

„Dürfen wir mal telefonieren,“ fragten die Polizisten und kletterten über den Toten hinweg in meine Wohnung.

Als nächstes tauchte die Kripo auf.

„Können sie ihn nicht mal da wegräumen“, drängte ich, denn ich hatte nicht die geringste Lust, über meinen Nachbarn hinwegsteigen zu müssen. Es war seltsam, eigentlich war er nicht mehr mein Nachbar. Er war eher ein Berg totes Fleisch, etwas, das mich ans Schlachthaus erinnerte, obwohl ich noch nie in einem war.

„Erst muss der Notarzt den Tod feststellen“, beschied mich einer der Kripobeamten. Ich sagte nichts. „Holen sie doch mal eine Decke“, forderte der andere die im Treppenhaus rauchenden Sanitäter auf.

Ich rief Britta an. „Kann ich zu Dir?“ bat ich sie, nachdem ich ihr die Lage erklärt hatte.

„Ich hol dich ab“, bot sie an. Ich konnte ihre Neugier durchs Telefon spüren. Das abgebrühte Ding wollte unbedingt meinen toten Nachbarn sehen. Als der Notarzt kam, stieg ich endlich über ihn, beugte mich zurück, um die Tür zu schließen, und berührte dabei mit den Beinen den massigen, jetzt merklich kühleren Körper. Ich zuckte zurück. Fast hätte ich das Gleichgewicht verloren und wäre auf ihn gefallen. Britta kam und ging mit mir einen Kaffee trinken, nachdem sie den glatzköpfigen Riesen ausgiebig betrachtet hatte.

Nach einer Stunde kehrten wir zurück, Notarzt und Krankenwagen waren weg, aber die beiden Kripobeamten saßen immer noch vor dem Haus in ihrem Wagen. Als sie mich kommen sahen, stieg einer von ihnen aus.

„Erschrecken sie nicht“, sprach er mich sichtlich betreten an. „Er liegt immer noch oben. Wir warten auf den Leichenwagen.“ Er zuckte entschuldigend mit den Schultern.

Ich ging gar nicht erst hoch, machte gleich wieder kehrt und begleitete Britta nach Hause.

Mein Nachbar, erfuhr ich später, war an einem Herzinfarkt gestorben. Er musste in dieser Nacht zurückgekommen sein, hatte wohl gespürt, dass etwas Ernstes mit ihm vorging und noch versucht, bei mir Hilfe zu holen. Vor meiner Tür war er zusammengebrochen. Ich stellte mir immer wieder das Geräusch vor, als er auf den Boden krachte. Das musste doch Lärm gemacht haben. Dass ich davon nichts bemerkt hatte? Vielleicht hätte ich ihn noch retten können.

Seine Pflanzen waren fast alle vertrocknet. Vielleicht hatte er auch deshalb den Herzinfarkt bekommen, dachte ich in unruhigen Momenten. Wer weiß, was er vor meiner Tür gewollt hatte?

Eigentlich kann ich mich sogar bei dem Riesenbaby bedanken, denn seit dem Tage seines Todes sind Britta und ich ein Paar. Ich verbrachte damals die Nacht bei ihr, sie hatte es mir angeboten. Sie war den ganzen Tag schon aufgekratzt gewesen, als hätte das Ereignis vor meiner Tür sie beflügelt. Zum Glück hat sie seitdem aber keine weiteren morbiden Interessen mehr gezeigt - und ich finde sie auch ohne Zahnspange erotisch.

Einmal ging ich mit ihr sogar zu dem Italiener an der Ecke, nur um zu zeigen, dass ich jetzt wirklich eine Freundin hatte. Sie freuten sich alle sehr.


 

Wandler, Zeitschrift für Literatur, Heft 26

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