Wandler, Zeitschrift für Literatur, Nr.20: Hanne Wickop

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Hanne Wickop

Das Meer

Sie war aufgewachsen in der Weltstadt mit Herz, der leuchtenden, wie ein Schrifsteller sie genannt hatte, in dem Teil der Stadt, in dem auch dieser für kurze Zeit gelebt hatte.

Mit Herz, fand sie, stimmte nicht, eher der Herzen. Luftgefüllte aus silbernen Folien, Lebkuchen mit grellen Versicherungen von Liebe, Herzen aus falschem und echtem Gold. Fast jeder trug sie, am Hals, an Fuß- oder Handgelenken. Auch sie hatte einige, als Ersatz. Eines stand für ihr eigenes verletztes, und jeder fand es besonders und schön.

So wie andere davon träumten, Schauspielerin oder Sängerin und berühmt zu werden, träumte sie in Bildern. Schon als sie noch ein Kind war, fand sie Gemaltes lebendiger als die Wirklichkeit. Die flache Leinwand, schien ihr, dehnte sich tiefer als der Raum, den sie mit ihren Augen ausmessen konnte. Gemaltes war ein Fest für sie, das ihren Blick lenkte und sie teilhaben ließ.

Dieses Sehen in Ausschnitten hatte sie beibehalten, dieses Festhalten eines Augenblicks besonderer Intensität von Licht oder Ausdruck. Ein Frauenarm in weicher Beuge über den Kopf gehoben, Matisse. Ein bestimmtes Blau, Yves Klein. Im Anrollen des Meeres sah sie die Welle von Hokusai. Die Iris war ohne van Gogh undenkbar. Eine rote Weste vervollständigte sich zu einem Bild von Cézanne. Manchmal war es auch eine Bewegung, eine Haltung von ihr selbst, etwas Empfundenes, das überlagert wurde von einem Bild, wie ein doppelt belichtetes Foto. Ihr war gar nicht bewußt, wie sehr sie damit auch den Künstler auf ein bestimmtes Werk beschränkte. Es war ähnlich, wenn Sätze, die sie dachte, wie Gelesenes waren, etwas Angeeignetes. In diesen Versatzstücken, den Ausschnitten aus Büchern und Bildern, die etwas von Kulissen hatten, in ihrer hermetisch abgeschlossenen Art auch etwas von einem Irrgarten, versuchte sie sich zurechtzufinden, suchte sie sich zu öffnen.

Es war selbstverständlich für sie, daß sie sich gleich nach dem Abitur an der Kunstakademie bewarb. Als sie das erste Mal die breite Freitreppe der Akademie betrat, schien es ihr, als besteige sie den Olymp, die Lehrer waren die Götter. Das ist lang her, denkt sie, und lächelt über ihre damalige Naivität.

Aber der Anfang war wirklich wie erträumt. Ihr Vater mietete ihr ein Atelier, so eines, wie sie es sich immer gewünscht hatte, wenn sie auf der Sonnenseite der Straßen ging. Sie schaute dann hinüber zur anderen Seite, ließ ihren Blick an den Fassaden der alten Bürgerhäuser hinaufwandern, bis zu den Vorsprüngen mit den großen Fenstern. Wie kleine Häuser sahen sie aus, kupfergedeckt schoben sie sich aus den Ziegeldächern, wuchsen aus ihnen heraus. Die Unterteilungen der Fenster rahmten den sich spiegelnden Himmel in einzelne Bilder. Dunkel, geheimnisvoll waren ihr diese Fenster vorgekommen, und als sie dann das erste Mal durch so ein Fenster hinausschauen konnte, blendete sie das gegenüberliegende Haus. Seine Fenster quadratische Gefäße, in die das Licht ungespiegelt fiel, vom Schwarz verschluckt. Sah sie von ihrer Arbeit auf, aus ihrem Raum heraus, dessen gleichmäßiges Licht ideal fürs Malen war, konnte sie beobachten, wie die Sonne mit den Formen des Fassadenschmucks von gegenüber spielte, den Blenden, den Vertiefungen, sie in Abgründe verwandelte, aufhob, reduzierte, oder durch lange Schatten scheinbar die Maße des Hauses veränderte. Wenn sie sich aus dem kleineren ihrer Fenster beugte, konnte sie sehen, wie der Mittag den Menschen ihre Schatten unter die Füße legte.

Licht und Schatten. Der Dom zu Monreale fällt ihr ein. Die Mosaiken, die den Normannendom auskleideten, hatten sie sehr beeindruckt. Damals hatte sie ihre Augen erst einmal schließen müssen, nachdem sie aus dem grellen Sonnenlicht ins Innere getreten war. Aber dann waren die goldenen Hintergründe der Bilder mit den Erzählungen aus dem Alten Testament wie von innen heraus erleuchtet. Als seien sie die Fenster des Domes. Der Reiseführer hatte sie aufgeklärt, daß fast alles was mit Schuld zu tun hat, Sündenfall, Scham, Vertreibung aus dem Paradies, Kain erschlägt Abel, Lamech Kain, der Kindermord zu Bethlehem und die Kreuzigung, an der Nordseite zu sehen sei. Wenn sie jetzt so darüber nachdachte, müßte das Licht durch die Südfenster auf all das Dunkle der Geschichte gefallen sein und es dadurch besonders erhellt haben. Aber sie konnte sich nicht erinnern, Fenster gesehen zu haben, ihr Blick hatte sich auf die geheimnisvollen Bilder konzentriert. Noch nie hatte sie so etwas gesehen, Bilder, die kein Ende nahmen, die wie eine schimmernde Haut die Mauern überzogen, ineinandergeflochtene Geschichten.

Das Atelier bewohnte sie schon lange nicht mehr. Diese Reise hatte sie verändert. Sie war das erste Mal allein in ein fremdes Land gefahren, hatte davon geträumt, daß sie wie die Künstler früherer Zeiten sich nach Italien begeben müsse, eine Art Reifeprüfung für ihr Künstlertum. Anfangs war sie begierig und staunend, dann ganz plötzlich übersättigt. Überdrüssig all dieser Vollkommenheiten reiste sie heim, packte den Rest ihrer wenigen Kleidungsstücke zusammen, ließ sonst alles zurück, auch ihre Bilder, und verschloß die Tür. Sie hatte den Zug nach Norden, den Zug genommen, der sie zur Insel brachte, auf der ihr kleines Haus steht. Es war einfach auf den Sand gebaut worden, hatte keinen Keller, der es in der Erde verankerte, aber einen schönen großen Raum mit Fenstern in alle Himmelsrichtungen.

Wenn sie hinausschaut, sieht sie den weißen Sand und das Gras, das hart ist, und an dem sie sich zu Anfang schnitt, als sie noch ihre weiche Städterhaut hatte. Es gibt kein Gegenüber, nur die Dünen im Westen, die sie vor dem Wind schützen und die die laute Stimme des Meeres dämpfen. Manchmal weiden Schafe auf den Grasdünen der Wattseite, das sieht dann aus, als hätte der niedrige Himmel einige seiner Wolken verloren.

Ausstellungen macht sie schon lange nicht mehr. Irgendwann war das alles unwichtig geworden, das Drumherum um die Malerei, dieser Kampf ausstellen zu dürfen. Diese ganze Schau und Arroganz, die mit der eigentlichen Arbeit nichts mehr zu tun hatte. Einmal hatte ein Galerist sie gefragt: Kennen Sie eigentlich das Programm sämtlicher Galerien dieser Stadt? Was, Sie gehen nicht auf alle Vernissagen? Dann sind sie auch kein Vollblutkünstler.

Schon damals in München hatte sie sich immer mehr zurückgezogen. In Galerien war sie nur noch gegangen, um sich die Bilder anzusehen, nicht zur Vernissage, um sich in Erinnerung zu bringen, mit dem Rücken zur Wand.

Wenn sie selber eine Ausstellung gehabt hatte und die Besucher sie ansprachen, ihr Bilder schilderten, die sie von ihr erworben hatten, so konnte sie sich an diese Bilder nicht erinnern, so fremd waren sie ihr. Erst wenn sie den Titel nannten, wußte sie, welches Bild gemeint war. Der Betrieb irritierte sie, sie hatte das Gefühl, sich zu verlieren. Je beliebter ihre Bilder wurden, um so mehr mißtraute sie ihnen.

Die ersten Tage auf der Insel hatte sie nichts getan, nur das notwendigste eingekauft, und das war schon immer ein langer Spaziergang gewesen. Sie hatte auch keine Skizzen mehr gemacht, nur versucht, nicht mehr zu denken, nicht mehr bewußt zu sehen, nicht mehr in Ausschnitten. Nach einer Weile hatte sie ganz das Gefühl für sich verloren, war nichts mehr, nicht mehr geformt von Vorstellungen über sich. Zuerst war ihr alles durcheinander geraten, das Hören, das Riechen, Fühlen und Sehen, weil sie keinen ihrer Sinne mehr ausrichtete auf etwas Bestimmtes. Und dann eines Tages war es so gewesen, wie sie dachte, daß es Kindern geht, wenn sie das erste Mal Unbekanntes sehen, hören, schmecken oder riechen. Dieses ungeheure Staunen war in ihr, über das Einmalige, für das es noch nichts Vergleichbares gab. Plötzlich war alles unmittelbar, traf sie direkt. Sie begann wieder zu malen, wie ein Kind, das Sandburgen baut, ganz auf Vergänglichkeit, für den Augenblick, nicht mehr für andere bestimmt. Alles Wissen war gelöscht. Sie malte nur noch, was sie sah, nicht mehr wie früher, wo sie immer auch etwas erzählen wollte. Bei Regen malte sie tagelang immer den gleichen Ausblick aus einem der Fenster. Und jedesmal war es ein eigenes, ganz neues Bild. Sie malte die Gegenstände des Raumes, und immer war es wie zum ersten Mal. Bei trockenem Wetter aber ging sie ans Meer, ging zu ihm wie zu einem Geliebten, zitternd und voller Unruhe. Stundenlang sah sie zu, wie es sich bewegte, unter Himmel, Sonne und Wind Charakter und Farbe änderte. Sie ängstigte sich, wenn es gewaltig vor ihr aufstieg. Aber wenn es zu schlafen schien, wenn sie nur seinen Atem spürte unter der silbernen Haut, dann wurde auch sie ganz ruhig, verlor sich in der Zeit. Ihre Scheu war groß, sie traute sich nicht, etwas so Lebendiges zu malen, es anzuhalten, einfach auf Papier oder Leinwand zu bannen.

Aber die Dünen malte sie, sie waren in Bewegung wie das Meer, doch ohne Eile und auf eine sehr sanfte Art. Ihr Zimmer füllte sich mit Bildern, sie stellte sie mit dem Rücken zur Wand, so hatte sie auch alles, was sie außerhalb malte, im Raum, in dem sie lebte. Es beunruhigte sie nicht, daß Gegenstände dieses Raumes, die sie gemalt hatte, nach und nach verschwanden. Sie blieben ja auf den Bildern sichtbar. Sie nahm es einfach hin, sicherte auch jetzt nicht den Eingang ihres Hauses. Als der Schrank fort war, legte sie ihre Kleidungsstücke über einen Stuhl. Dann malte sie diesen Stuhl, der unter seiner Last fast verschwand. Malte die steifen Stoffe, gefaltet, die Brüche hart, und malte die weichen, fließenden, die dazwischen hervorquollen, gab Farben wieder und Muster, die sich mischten im weichen Licht. Sie arbeitete viele Tage daran. Das Licht der Fenster traf sich in der Mitte des Raumes, überschnitt sich dort. Nur sein Widerschein erreichte den Stuhl in der Ecke, drang in das Bündel von Kleidern und Wäsche. Sie hatte hier auf der Insel so zu malen begonnen, daß sie nur das Wesen der Dinge malte, nicht ihre eigene Sicht. Und auch dieses Bild war nur ein Stuhl, beladen mit Stoffen, ohne überhöhte Effekte. Wenn sie sich die Begrenzung der Leinwand wegdenkt, sieht es aus, als stehe er im Raum, genau wie der, dem er nachgebildet, und der merkwürdigerweise nicht mehr da ist.

Das Haus ist jetzt leer, es beherbergt nur noch ihre Bilder. Sie nimmt sich vor, am nächsten Tag wieder draußen zu arbeiten. Bisher hat sie es nicht geschafft, die Dünen so zu malen, daß nur ihre Schwere und ihre Beweglichkeit sichtbar werden. Sie hatte zuviel gewollt. Die Schreie der Möwen, das Gras, wie es sich an den Sand klammert, und das Meer dahinter, alles sollte gleichzeitig spürbar werden. Man muß nichts erklären, denkt sie, das Geheimnis ist ganz einfach, man konnte es eher blind, über Berührungen erfahren.

Es ist jetzt die Zeit, in der die Nächte sich ausdehnen. Die Sonne überquert den Himmel nur noch in einem flachen Bogen, ist dem Meer und ihr näher in diesen kurzen Tagen. So, fast in Augenhöhe, schmerzt ihr Licht. Aber am Abend rollt sie ihren goldenen Teppich auf dem Wasser aus. Eine lichte Straße, die zu begehen leicht scheint.

Eines Morgens erwacht sie und sieht das Meer, sieht es direkt durch ihre Fenster, vor denen sich sonst Dünen erhoben. Sie wundert sich. Wenn ein Sturm die Wellen so hochgepeitscht hatte, daß diese Schneise entstehen konnte, durch die sie jetzt das Meer sieht, müßte das Land überschwemmt worden sein. Sie öffnet die Tür, der Sand ist trocken, und auch das Rollen des Meeres in der Nacht, erinnert sie sich, war nur wenig lauter als sonst. Sie schaut eine Weile vom Haus aus zum Meer, das ihr so nah ist, ohne den Schutz der Dünen, und denkt, daß sie es jetzt geschützt vom Haus aus malen könnte. Sie versucht sich mit dem Gedanken daran vertraut zu machen, es gelingt ihr nicht. Sie weiß, daß sie das Wesen des Meeres nicht über ihre Augen erfassen kann, sie müßte zu ihm gehen, sich von ihm berühren lassen, weitergehen, eintauchen und bereit sein, den Boden unter ihren Füßen zu verlieren. Sie fühlt sich dem nicht gewachsen, hat noch immer Angst vor seiner Unberechenbarkeit, seiner Wildheit.

Sie tritt in den Schutz ihres Hauses zurück. Das Leinen reicht nur noch für einen Keilrahmen. Morgen oder übermorgen wird sie in den Ort gehen, neues Material besorgen. Hoch und schmal ist der Rahmen, wie geschaffen für ein Porträt. Sie wird sich selbst malen, dafür braucht sie keinen Spiegel. Sie wird malen, was sie von sich weiß, von ihrem Äußeren, und von dem, was in ihr ist.

Während sie arbeitet, zieht in seltsamer Klarheit ihr ganzes Leben an ihr vorüber, und über allem, wie Musik, die Stimme des Meeres. Sirenengesang, fordernd, lockend.

Der Winter ist vorüber. Schiffe bringen die ersten Touristen. Manch einer wandert am Strand entlang. Einer kommt über die Dünen und sieht dahinter das einsame Haus. Die Tür steht offen, er wundert sich. Der Wind hat weißen Sand hinein getragen, feinen weißen Sand, die Bilder versinken fast darin. Eines überragt alle anderen, sieht den Betrachter an. Der weicht erschreckt zurück, weil er das Haus für unbewohnt hielt. Er grüßt entschuldigend, wendet sich zum Gehen und schließt hinter sich die Tür.

 

Hanne Wickop ist Schriftstellerin und Malerin, 1939 in Hamburg geboren und lebt heute in München. 1993 erhielt sie ein "Literaturstipendium für Kurzgeschichten" der Stadt München. 1997 erschien "Hitze" im Münchner Stora Verlag. Zudem erschienen Veröffentlichungen in Anthologien und Literaturzeitschriften.

 

Wandler, Zeitschrift für Literatur, Heft 20

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