Wandler, Zeitschrift für Literatur, Nr.20: Dorothea Mosl

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Dorothea Mosl

Draußen.

Das Aus-dem-Haus-Treten. Der Körper ist warm, Arme und Beine sind gewillt, sich zu bewegen. Sie hat allerhand angezogen, die Kälte soll es nicht leichthaben, ihr unter die Wäsche zu kriechen. Die ersten Meter sind dem Gesetz des Automatismus unterworfen, der Körper legt los, regt sich, der Kopf ist noch im Warmen, bei den letzten Verrichtungen im Haus, langsam kommt er nach. Ein Geräusch holt das Ohr ein: Das will lokalisiert und bestimmt sein. Es kommt von oben, ein einsamer Vogel zerbricht mit forschem Ton die wattige Novemberstille. Wo aber ist er? Dann sieht sie ihn - ein mausgrauer Kerl mit durchgedrücktem Brustkorb, das Köpfchen in den Himmel abgespreizt, schwankt er auf einem dünnen Ast. Sie geht neben dem Bürgersteig, kein Auto kommt gefahren, es ist Sonntag, und die Straße schläft wie unter einem Bann. Aus Häuserritzen dringen Essengerüche, denen es auszuweichen gilt. Säuerliches wird angerichtet für Körper, die zur Erde drängen. Der Gedanke läßt sie schneller und lebhafter ausschreiten. Bevor die Straße das erste Mal einen Knick erfährt, kommt ihr aus einer Garage ein Kind auf einem Fahrrad entgegengeschlingert. Kind und Fahrrad sind winzig klein, die Beine des Kindes strampeln in aberwitzigem Tempo, der Oberkörper pendelt bedrohlich von links nach rechts, so wird die Balance gewahrt. Jetzt hat der zappelnde runde Käfer ein Ziel erspäht, das Kind torkelt auf sie zu und bremst einige Meter vor ihr plötzlich ab. Sie sehen sich an und keiner lächelt. Beide sind für Sekunden an ihren Platz genagelt, dann löst sich das Kind aus der Erstarrung. Sie ziehen ihrer Wege.

Häuser zeigen ihre schmutzigen Fassaden wie gestrandete Wale. Ein Mann betreibt Kosmetik an seinem Daimler. Als sie ihn grüßt, lächelt er ertappt und versteckt seinen Kopf schnell hinter der Motorhaube. Auch für ihn wird heute gekocht. Sie gelangt an eine Straßenkreuzung. Eine kleine Teerstraße führt ins Freie. Es geht sich gut, fast so wie an den Tagen, die einem Rückenwind bescheren. Sie fühlt ihre Stirn kühl und glatt unter der Mütze. Erdschollen schieben sich auf einem Acker ineinander, auf einigen wächst noch etwas, saftige grüne Halme mit fleischigen Blättern, die nicht zur Jahreszeit passen wollen. Ein Horizont läßt sich nicht ausmachen - es herrscht Hochnebel oder die Wolken hängen sehr tief, wer will das schon entscheiden. Sie kann ihren Atem hören, so still ist es rings umher, und sie versucht verschiedene Formen des Atmens: hastig und mit offenem Mund. Seufzend. Tief und ruhig. Beängstigt wie die Atemgeräusche des Opfers in Krimis. Sie setzt probeweise kurz mit dem Atmen aus. Und hört hinter sich einen fremden Atem gehen. Eine alte Frau radelt auf einem rostigen Klapprad wenige Meter hinter ihr. Sie radelt so langsam, daß es aussieht, als ginge sie spazieren. Auf ihrem Kopf sitzt eine grüne Wollmütze, die jeden Moment herunterzufallen droht. Die Frau ist dick und hat ein Gesicht wie ein eigensinniges junges Mädchen. Die junge Frau geht schneller, sie fühlt sich von der Alten verfolgt. Im Takt ihrer Schritte flüstert sie: Nein, nein, nein, nein. Dann hat sie die Alte auf dem Fahrrad trotz ihrer Zeitlupenbewegungen eingeholt. Sie spürt, daß sie ihr auf gleicher Höhe von der Seite ins Gesicht starrt. Schnell wendet sie ihr den Kopf zu und bemüht sich, sie strafend zu grüßen. Die Alte merkt nichts, sie lächelt ihr freundlich nickend zu und schiebt ihren festen Körper auf dem Fahrrad sehr langsam weiter. Denn sie hat Zeit. Ihr Rücken sieht aus, als würde sie sich noch überlegen, ob sie nicht doch absteigt und mit der jungen Frau ein Schwätzchen hält. Ein lehmiger Feldweg mündet von links in die kleine Straße ein. Schnell biegt sie ab. Die Dicke merkt es zu spät.

Es wird Winter. Ihre Beine werden an den Oberschenkeln langsam kalt, trotzdem sie sich so rasch bewegt. Vor ihr nehmen Obstbäume Aufstellung. Einer nach dem anderen treten sie aus dem Nebel hervor und verschränken die Arme zum Gruß. Unter ihrem rechten Schuh hat sich ein Stein eingetreten, sie macht kurz halt, um ihn zu entfernen. Wie aus einem Huf, denkt sie dabei. Aus den Nachbarorten schlagen die Kirchenglocken an. Die Glocken von Ort A beginnen den Cantus, dann fallen ihnen launisch die Glocken von Ort B ins Wort. Ihre Botschaft aber lautet einhellig: Es ist zehn Uhr. Sie kräuselt überdrüssig die Nase, sie beginnt bereits, sich mit der Landschaft zu langweilen. Ihr Blick sucht die Gegend nach etwas Unterhaltung ab, während sie die behandschuhten Hände rhythmisch aneinanderpatscht. Zwei Läufer traben als schmale schwarze Silhouetten weit vor ihr in den Nebel hinein, sie folgt ihnen mit dem Blick, bis sie verschluckt sind. Im selben Moment schwirrt ein letztes Insekt dicht an ihren Augen vorbei, es dauert erstaunlich lange, bis der Nebel auch diesen kleinen, flackernden Punkt getilgt hat. Das angespannte Starren auf den winzigen Insektenkörper verursacht für kurze Zeit eine optische Irritation, so daß viele schwarze Pünktchen vor ihren Augen flimmern. Sie muß die Augen schließen. Als sie sie wieder öffnet, wird sie angesehen. Parallel zu ihrem Weg verläuft in einiger Entfernung ein zweiter Feldweg. Die beiden Wege werden von der Bundesstraße getrennt. Auf dem anderen Feldweg stehen ein Pferd und ein Mann. Das Pferd trägt eine Wärmedecke über dem Rücken und wird von dem Mann an einer langen Leine geführt. Frau, Pferd und Mann sehen sich über die Straße hinweg an. Sie setzt sich als erste wieder in Bewegung. Sie sieht geradeaus und geht einige Minuten lang so, ohne ihre Blickrichtung zu variieren. Als sie den Kopf wieder nach links wendet, hat sich eine kleine Böschung zwischen sie und das Pferd mit dem "Reiter-zu-Fuß" geschoben, nur die oberste Partie des Pferderückens hebt sich immer wieder wie in Wellen hinter der Böschung empor, so daß es aussieht, als bewege sich dort eine kleine braune Wanderdüne. Jetzt endet auch der lehmige schlechte Weg, und sie sieht sich nur noch ausgedehnten Wiesen gegenüber, deren Gras gelb und matt am feuchten Boden klebt. Sie versucht, in der näheren Umgebung einen Weg auszumachen, und sieht einige hundert Meter vor sich einen hellen Schotterweg freundlich blinken. Bis sie ihn erreicht, haben sich Plateausohlen aus Lehm an ihren Schuhen gebildet. Rechts des Wegs wächst mannshohes Schilf, es ist grau vor Dürre und die abgebrochenen Lanzen der Schilfhäupter nicken traurig zu Boden. Sie fährt mit der Hand in ihre müden Reihen, aber ihre Schäfte bleiben tonlos. Ein Auto biegt von der Bundesstraße in ihren Weg ein. Hinter einem Gitter tanzt ein mächtiger Collie und läßt seine Stimme vernehmen. Er bellt heftiger, als sie das Auto passiert, und sieht begeistert aus - gleich wird er seine Läufe werfen, und er würde auch mit ihr kommen, das sieht man. Der Mann hinter dem Steuer sieht verdrossen aus, er kennt die Untreue seines Tieres. Erst als sie die Straße überquert hat, öffnet er die Hecktür des Autos. Der Collie springt ihm mit einem kehligen Laut entgegen. Sie schlagen die ihr entgegengesetzte Richtung ein.

Pferd und Reiter sind nicht mehr zu sehen. Sie geht auf dem Weg, den die beiden vor kurzem zurückgelegt haben. Die Pferdeäpfel dampfen nicht mehr, daran erkennt man, wie kalt es ist. Das Pferd wird wohl krank sein, erklärt sie sich den Reiter-zu-Fuß. Es muß bewegt werden und wird deshalb ausgeführt. Sie hat nicht auf den Weg geachtet und ist in einen der Pferdeäpfel getreten. Es wird ausgeführt, damit seine Verdauung funktioniert, erklärt sie sich weiter. Die Geräusche der Autos auf der Bundesstraße klingen durch den Nebel friedlich und beruhigend. Sie fühlt ihren Gedankengang langsamer werden, die Wahrnehmung des Geräusches, das ihr Tritt verursacht, genügt vollauf. Aber ein schneidender Ton läßt sie aus dem Halbschlaf auffahren. Ein Modellflugzeug zischt über ihr durch den Luftraum, treibt eine Krähe vor sich her und schraubt sich Sekunden später in den Nebel, der auch den Motorenlärm zum Verstummen bringt. Heute verschwindet alles im Nebel, sagt sie laut, Mann und Maus, Pferd und Flugzeug. Auch ihr Zuhause kann sie nicht sehen - dabei dürften es nur noch wenige hundert Meter bis dorthin sein, der Feldweg ist ja gleich zuende, und dort beginnt das Wohngebiet. Ihr Erscheinen schreckt einen Schwarm Elstern auf, die sich in einem dürren Strauch niedergelassen haben. Lautlos heben sie sich in die Luft, aber sie scheinen nicht so recht im Nebel voranzukommen. Ohne Eleganz landen sie nur wenige Meter weiter vor ihr auf dem Feldweg und müssen sich noch einmal erheben, um sich dann in sicherer Entfernung zu ihr auf einem Acker niederzulassen. Sie sieht ihnen bei ihrem Unternehmen betroffen nach. Das habe ich bewirkt, denkt sie, die Bewegung, diese zweimalige Bewegung dieser Vögel habe ich bewirkt. Weil ich hier an ihnen vorüberging, haben sie sich von da nach dort und von dort nach da begeben. Oooooooooh. Und sie lächelt etwas verlegen in sich hinein und macht dabei ein leichtes Doppelkinn.

Ein letztes Mal wird sie abbiegen, dann ist sie wieder in ihrer Straße. Geradeaus führt ein schmaler Weg mit einer schäbigen Teerdecke ins Dorf hinunter. Dort gehen Pferd und Mann. Das mächtige Hinterteil des Pferdes hebt und senkt sich gemächlich, und jetzt kann sie auch den Klang seiner Hufe auf dem Asphalt hören, ein Geräusch, das zuvor der Nebel geschluckt hatte. Die Leine, an der der Mann das Tier führt, hängt lose durch und berührt fast den Boden. Und doch scheint es, als sei das Eigentliche von Mann und Pferd diese Leine, als erführen beide den Impuls ihrer Bewegung durch das lederne Band, das den einen mit dem anderen verbindet.

Sie biegt ab und zwei Mofafahrer kommen ihr entgegen. Ihre Mofas knattern um die Wette, und als sie an ihr vorüberfahren, kann sie das Aftershave der Jungen riechen. Sie wendet noch einmal den Kopf und sieht, daß das Pferd, als das erste Mofa an ihm vorbeibraust, erschrickt und mit den Hinterhufen ausschlägt. Der zweite Mofafahrer verlangsamt sein Tempo und fährt, vorsichtig nach dem Pferd schielend, im Schrittempo an Mann und Pferd vorbei. Das Pferd macht ein paar schnelle, tänzelnde Schritte und dreht sich so einmal um den Mann. Der Mann nimmt die Leine etwas kürzer und tätschelt dem Pferd beruhigend den Hals. Das Geräusch des Tätschelns seiner Hand auf dem Pferdehals kann sie durch den Nebel hören.


 

Wandler, Zeitschrift für Literatur, Heft 20

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