Wandler, Zeitschrift für Literatur, Nr.20: Dieter Lohr

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Dieter Lohr

Speed

Die Welt hätte für Hagen vollständig aus Autobahntunnels bestehen können. Immer dicht unter der Oberfläche, fast an ihrer Unterseite der inneren Außenwelt, gleichsam wie das Blut der Erde durch deren Adern zu schäumen, und mit anschwellender Fließgeschwindigkeit den eigenen Herzschlag zur Raserei zu schüren. Immer scharf an der Grenze, den festen Boden der Realität unter den Rädern zu verlieren, im Blutrausch abzuheben und den gleichen Abstand zu allen Gefäßwänden zu halten. Wenn oben unten links rechts zum neonen Flimmer zerfließen und die Außenwelt sich in Unschärfe auflöst, bleibt nur noch eines in einer Richtung real: Das schwarze Loch voraus. Vorwärts.

Welches Auto Hagen dabei benutzte, war Hagen egal, vorausgesetzt, es brachte 220 Stundenkilometer zur Strecke; auch das Auto ist Außenwelt. Die eigene Außenwelt durfte es nicht sein; Hagen hätte sich weder ein solches Auto noch die Bußgelder wegen überhöhter Geschwindigkeit leisten können. Ein Raumschiff wäre zweckdienlich gewesen.

Der Tachometer, die Innenbeleuchtung der Außenwelt, erlischt; als Pulsuhr fungiert die Außenbeleuchtung der Innenwelt: Im Stillstand stehen die Tunnelneonröhren noch still, flimmern jedoch bereits in Vorahnung der sich anbahnenden Streckenführung; bei der Anfahrt kommt Leben ins Spiel um Leben und Tod, die Linie der Lichter bewegt sich und beginnt zu fließen. Aus dem Fließen wird ein Fluß, und aus dem Fluß ein Strom. Hagen braucht nur der Stromlinie zu folgen.

In England sind die Autobahnen auf ihrer gesamten Länge von Straßenlaternen gesäumt, deren Stroboskope aufpeitschend den Takt schlagen, aber in England gibt es keine Berge und keine Tunnels, die Verkehrsadern liegen offen. Hagens Blut wird hier nicht in Bahnen gelenkt, und bei klarem Himmel sind die Sterne sichtbar. Der Sternenhimmel bewegt sich nicht, Hagen mag fahren, so schnell er will. Keine Bewegung bedeutet kein Leben, und kein Leben bedeutet den Tod. Ein Raumschiff wäre zweckdienlich.

Wo viel Licht ist, da ist viel Schatten, und wo viele Berge sind, da sind viele Tunnels. Hagen fährt lieber in Österreich und der Schweiz; die Außenbeleuchtung der Innenseite der Außenwelt ist lebendiger als die Außenbeleuchtung der Außenseite der Außenwelt, Tiefgang beständiger als Oberflächlichkeit.

Natürlich kannte Hagen den Kunstgriff, konkurrierende Mobilien aus dem Verkehr zu ziehen, ohne selbst aus der Bahn geworfen zu werden und im Rennen zu bleiben; eine Frage des behutsamen Anfahrens, leichten Gegenlenkens, Abbremsens und Beschleunigens im rechten Moment; bei zunehmender Geschwindigkeit steigt jedoch das Risiko der Eigengefährdung relativ zur Pulsfrequenz, insbesondere bei Gegenverkehr. Die Geschwindigkeit, bei der die Geschwindigkeit beginnt, relativ zu sein, ist mit dem Auto unerreichbar. Hagen brach daher nach nur wenigen Berührungspunkten den Kontakt zur Außenwelt ab und fuhr seinen eigenen Weg. Theoretische Raumschifferscheinprüfungen haben wohlweislich die Relativitätstheorie zum Gegenstand.

Hagens Leben ging ziemlich schnell zu Ende. Hätte am Ende des Tunnels GAME OVER - INSERT COIN aufgeleuchtet, er hätt's nicht mehr gesehen.


 

Wandler, Zeitschrift für Literatur, Heft 20

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