Wandler, Zeitschrift für Literatur, Nr.20: Günther Kaip
Zurück zur Titel & Inhalt von Heft 20, zur Wandler Startseite Günther KaipLauraLaura wird immer schöner. Ihre Haare bauen ein Nest für Vögel. Seit ihrer Geburt sind sie ihre ständigen Begleiter. Gestern abend wollte sich Laura das Leben nehmen, sie hat geschrien und schickte die Welt zum Teufel, mit ihr die Vögel, und Laura schlug solange auf Weisschläger ein, bis sie erschöpft war. Laura wird immer schöner. Sie braucht nur die Arme auszustrecken oder tief einzuatmen, und schon picken die Vögel an ihrer Haut oder schlüpfen in ihren Kopf. Sie reden dort mit tausend Stimmen, und Laura hört ihnen zu. "Einmal werde ich sie verstehen", sagte sie gestern und lächelte Weisschläger an. Laura wird immer schöner. Über den Häusern kreisen Vögel, reichen einander die Flügel und verschmelzen in engem Flug. Sie werfen Leinen aus, das hört Weisschläger am klatschenden Geräusch, wenn ihre Enden auf die Straße fallen. Laura wird immer schöner. Heute am Morgen, als Weisschläger noch schlief, ist sie gegangen. Ein Vogel war in ihr Herz geschlüpft und sang ein Lied. So leise, daß Laura das Rascheln von jedem Laut hörte, die Stille zwischen den Worten. Dann stieg sie auf das Fensterbrett und sprang. Nicht auf die Straße stürzte sie, sondern sie flog direkt zu den Vögeln hinauf. Laura wird immer schöner. In der Zwischenzeit ist Nachmittag geworden. Weisschläger steht am offenen Fenster. Eine grelle Sonne setzt schwarze Flecken in seine Augen, während hoch über der Stadt Laura mit den Vögeln kreist. Sie verschmelzen im engen Flug, steigen höher und höher, bis sie vom flirrenden Licht der Sonne aufgesogen werden. Laura wird immer schöner. Weisschläger stützt sich auf den Küchentisch und blickt aus dem Fenster, aus dem Radio erklingt laute Musik, so daß er die Stimme Lauras nicht hören kann, die ihm zuruft, daß er ohne Gefahr springen soll. Jetzt. Sofort.
Wandler, Zeitschrift für Literatur, Heft 20
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