Wandler, Zeitschrift für Literatur, Nr.20: Wolfgang Jenne

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Wolfgang Jenne

Die Spur

Unvermittelt verließ ich den Weg, ging zwischen den Bäumen in eine Richtung, auch als der Wald dichter wurde. Die kahlen Sträucher zeigten aus der Erde heraus, waren Hände mit dünnen Fingern. Der Schnee bildete eine Decke über dem gefrorenen Boden, lag glatt, unversehrt. Von der Seite her näherte sich die Spur eines Menschen, verlief weiter in der Richtung, in der ich ging, und ich betrat die Spur. Die Abstände der Eindrücke waren ungleich, als sei hier ein Hinkender gegangen. Mein Schritt änderte sich, und auch ich bewegte mich in dieser Art. Es war unangenehm, doch ich verließ die Spur nicht. Am Waldrand lief sie in ein blauweißes Feld hinein, einem massigen Kirchturm zu, der ein helmförmiges Dach hatte. Auf dem Feld lag eine tote, schwarze Katze, gekrümmt. Da endete die Spur, ich sah nur noch den verwehten Schnee. Und obwohl die Spur nicht mehr da war, hatte ich für eine kurze Zeit noch den hinkenden Gang.

 

 

Die Statue

Das kleine Gebäude hatte nur einen einzigen Raum. In seiner Mitte stand die weiße Marmorstatue, eine in Stein gemeißelte Frau. Sie lehnte an einem Sarg aus schwarzem Basalt, wachte bei dem Toten. Ihr Gewand ließ die Arme frei und verlief in schmalen Falten den Körper entlang hinab zu den bloßen, zierlichen Füßen.

Rasch trat ich von der Tür weg, ging zwischen Buchsbaumhecken durch ein Labyrinth von Wegen zu blühenden Rhododendren, kleinen Rosenbäumen und zu einem See, schwarz und von hellen Wasserlilien umgeben, ging vorüber an dunklen Pappeln, durchflogen von wolligen Blüten, weit in ein dunkelgrünes Gebüsch hinein und kam an seinem Ende zu einem Beet von farbigen Blumen. Da stand ich wieder vor dem kleinen Gebäude, sah innen im gemilderten Licht die marmorne Frau.

Besuch

Ich saß in dem einsam stehenden Haus und sah durch die Jalousie hinaus in die helle Umgebung. Drei Pinien standen bewegungslos nebeneinander, die Luft ruhte über der Erde, es war still. Auf dem Weg zwischen den Feldern näherte sich ein schwarzes Auto. Ein dunkler Vogel flog seitwärts weg in den grauweißen Himmel. Die im Licht der Sonne aufleuchtenden Scheinwerfer wurden immer größer, und allmählich hörte ich das leise Geräusch des Motors. Der Wagen fuhr in den Garten, er gehörte P. Die blitzenden Scheiben blendeten mich, ich konnte den Fahrer nicht erkennen. Hinter dem Haus verstummte das Geräusch. Ich wartete, doch die Klingel blieb still. Man hörte die Standuhr. Langsam wechselte ich ins andere Zimmer. Hinter dem feinen Netz der Tüllgardine sah ich den Wagen, innen saß P. und schaute vor sich hin. Ich verließ das Haus, ging nach hinten, näherte mich. Da wendete P. den Kopf, stieg aus dem dunklen Gehäuse, sah für einen Augenblick zur Seite, drehte sich, schritt auf mich zu und reichte mir die Hand.

Wolfgang Jenne , geb. 1934 in Stuttgart, Studium der Mathematik und Physik, lebt in Stuttgart. Prosasammlungen und Romane im Dillmann Verlag, zuletzt 1995: "Orte" und "Kaspar Hauser". Veröffentlichungen in Anthologien und Literaturzeitschriften.

 


 

Wandler, Zeitschrift für Literatur, Heft 20

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