Wandler, Zeitschrift für Literatur, Nr.20: Karlheinz Barwasser

Zurück zur Titel & Inhalt von Heft 20, zur Wandler Startseite

Karlheinz Barwasser

Fluchtbilder*

aus einem Zyklus über Krankheit und Ausgrenzung


1

I Der Beginn eines Bildes, die Farbe Rot als

Grund. Das skizzierte Haus, die grob ein-

gemessenen Bereiche: flüchtig aufgeteilte

Sektoren: hier hält jemand seinen Löffel,

da jemand seinen Teller verborgen. Der

Ton nicht kalt und nicht heiß, etwas von

Rührung, etwas von Entgleisung. Noch muß

kein Schicksal hingenommen werden, weil

ein wenig Anarchie erst in

II hinzukommt, wo das Bild schon schwerer

an der Farbe trägt, präziser die Mauern, die

Verstecke fein berechnet, zwei, drei dicke

Striche zum Dach hin, eine dunkle Unruhe als

Zeitbegriff: verfrachtet zum Rand: hier schmäht

der Betrachter. Das Rot so, daß der Anfang nur

von hinten beginnen könnte: und geht wieder

vorbei und will nichts gesehen haben. Das Haus

wird brennen und erst in

III gelöscht werden, wenn das erzeugte Licht

nachgelassen und die Bewohner zur Räson

gebracht hat: wo Rot Löffel und Teller belegt,

abtropft zum Rand: Schuld wird zugewiesen,

Schuld wird abgewiesen. Da steht man und schaut

und wundert sich: zitterndrote Wellen, sonst wird

nichts vernommen, kein Schlag, kein Schrei, wenn in

(...)

IV das Bild zuende geht. Die morschen Glieder und

beschlagenen Stimmen übermalt, die Farbe Rot als

Deckung: fort das Filigrane, nur noch tragende Wände.

Das neuerrichtete Haus: kein Ort auf Dauer für die

Bewohner, keiner für Gäste. Wucherndes Rot, ganz

denaturiert, verhimmelte Stille. Nichts mehr von Zufall.


2

Das Gas. Ein Kellerfenster, eine zerbissene

Faust, dahinter der Kohleberg. Aber die Faust.

Das Foto sagt nichts mehr über Rufen und

Wimmern: nur ein paar welke Blätter, die

vor dem Kellerfenster in dieser Straße liegen.

Erst sieht man die Blätter, dann Kohlen im

Hintergrund: der eine Körper liegt ganz

offen, der andere verdeckt. Noch die Faust, von

einer Ratte angefressen, weiß der Hausmeister.

Sie sehen ein Foto, wie Sie nie ein Foto gesehen

haben, und Sie wissen nicht, was in diesem Foto

vorkommt: in dem alles anders ist als in allen

bisher gesehenen Fotos. Schauen Sie nicht an die

Decke. Berichten Sie, was Sie sehen. Riechen Sie.


3

Wie eine offenbare Sinnlosigkeit: wenn zwei

Ohren in nichts hineinhören: und der Kopf hält

es nicht aus, daß etwas nichts ist und gibt einen

Walfisch in die Leerräume, einen Schlag von

Mayonnaise, den elfigen Stengel eines Knaben.

Ohne Ortszuweisung: wie wenn die Phantasie eine

Konstruktion ergänzen müßte: zur ausladenden

letzten Umarmung, darin fleischloses Ejakulat.

Wie eine Adaption: wenn nichts durch weniger

ersetzt wird: und verlassene Zwischenräume voll-

enden die Leere: wenn Transparenz die erbärmlichste

aller Trugformen bliebe, ein Voyeur Farbe behielte.

Sterben als ein aufgeschnittener Berg Weißbrot, das

tatsächlich vollkommenste aller irdischen Kunstwerke.


4

Fotograf, Gelehrter, Spitzbube: auf

der Suche nach dem Maßstab für die

Funktionfähigkeit des Systems: des

Malers Röntgenbild: schuppige Unter-

armknochen, ein Rippenturm, ein

Leberlappen. Anfänge, begriffen.

Körperdecke aufklappen, das Herz der

Geschichte fassen, Körperdecke zuklappen.

Knopf und Kragen dran: wo keine Geschichte

sich mehr leicht umsetzen läßt, bleibt der

Mantel am Haken zurück: ein Nukleinsäure-

segment hat sich verabschiedet im genetischen

Bau. Der Vernichtungsgedanke, flucht der Fotograf.

Ersticht den Maler, zieht sich an: wo manchmal

noch ein Bild für die Ewigkeit geschaffen wird.

(...)

5

Strom, blauspannend: im ersten Foto hängen

Gänse mit langgestreckten Hälsen an einer

Oberleitung. Des Fotografen Finger weist nach

rechts auf den Karton mit dem toten Baby im

zweiten Foto: chamois matt, gezackter Rand,

verblichen. Träume sind schneller als jeder

Wechsel von Schatten zu heller Fläche.

Als würden Kennzeichnung des Orts und

Benennung der Umstände keine Rolle mehr

spielen: schon der dritte Abzug, die unvoll-

kommene Wahl des Ausschnitts: eine magere

Hand, die erst Stein zu Stroh schlägt und dann

den Toten berührt, das Erlebnis diesem Körper

entfremdet: das vierte und letzte Foto: überbelichtet.


6

Mehr das Stück, das zuerst auffällt: der

getupfte Fleck, in den man kurz die gute

Seite seiner Geschichte legt. Weniger das

andere, unauffälligere Stück: aus Vorsatz

gediegen sachlich, eine ebne Fläche als

Schutzschild vor einer Struktur, die zur

Poesie führen und alle Not nach innen

kehren könnte. Ein Brei aus wenigen

Farben, der sich dem scharfen Blick zum

Rand hin entzieht, in der unauffälligen

Form die erregende Gestaltung: zur

Identifikation der viel zu frühen

Jahre als der nicht schlechteste Stoff.

Noch weniger die obere Hälfte: die

trefflich bunte Tarnung der alltäglichen

Grausamkeit. Und in der Mitte, vielleicht

aus Verwirrung, das Loch: dahinter der

Humus aus Tapete, Putz und Beton und

keinen Deut weiter, durch das Leinen

massakriert als ein später Reim auf das

Leben. Wenn eine spezielle Hartnäckigkeit

der Betrachtung Anteil an der Wirkung

erzielt, eine konzentrierte Aufnahme das

Gefühl erzeugt, daß sich umso weniger

zeigt, je genauer man schaut: als blicke

man vorwärts, wo alles begraben liegt.

Überrannt, weiß der Maler, dabei die wohl

einfachste Technik: Messer, Spachtel und gute

Farbe: Zunge, Auge und Ohr, etwas Erfahrung von

morgen, das wachsende Gras von gestern, jene

Mischung, wie jedes Arschloch weiß. Mit dem

demütigsten Dank an ein begnadetes Vorleben.


7

Die schmutzigen Farbassonanzen: wie

Musik, an deren Takten wir uns krank

hören: dahinter rumort die Fläche (so kirre

macht das Fieber): viel zu entdecken mit

jener Portion Begierde, die Einfalt und

Unendlichkeit verquickt. Regierender Wahn.

Welche Gelegenheit, das fixierte Objekt mit

bizarrer Phantasie aus seinem Bedeutungs-

rahmen herauszuholen. Mit Blick zwischen

Plus und Minus, auf Haut darin und Haut

davor: trächtige Nullsumme. Virenexplosion.

(...)

8

1. Betrachtung. Eingangs bestürzend: die auffallend

integrierte Krankheitsgeschichte: okkultes Blut im

Stuhl, wässriger Durchfall (dann und wann), die

Flecken auf der Haut, morgens ein Gefühl von

schwindender Sehkraft (das kommt und geht).

Wird Abstand gemessen, werden die Schritte zum

Hintergrund gezählt: da steht noch der Stuhl, auf

dem er saß: mit gekreuzten Beinen, die Hände auf

die Oberschenkel gestützt, vergeistigt in die

Tragik der Umstände. Gab ihm der Künstler jeden

Morgen einen neuen Himmel, die allerletzte

Privatheit: ein Kaleidoskop der Auflösung.

2. Betrachtung. Eine Simulation: die an den

Symptomen vorbeilaufende Spur: hier wurde mit

nackter DNS geimpft: verklärendes Scharmützel mit

der Wahrnehmung, weil nur noch kastriertes

Konstrukt. Wenn man sich die Nerven blank und

das Hirn in Glut sieht, wo alles sich aufhebt.

Mag die neue Sicht die Konsequenz besiegeln: im

vergeblichen Versuch, Stationen in Materie zu

übersetzen, bleibt Schicksal namenlos. Und

freigesprochen von Schuld, schlägt sich der

Maler die Angst vom Hals: mit Blutkruste an

der Wand und aus der Umrahmung gestürztem

Herzschlag. Und dem wechselnden Himmel als

Programm, wo Verlust die gute Erbsubstanz sichert.

(...)

9

Hat ein Despot sich selber erstellt: in

Massen, doch mit feinem Strich. Golddekor.

Schließt davor ein Schuldiger die Augen und

füllt die Löcher in seinem Kopf: bleibt nicht

mehr auf dem Weg und nicht mehr in der

Zeit. Die Pflicht ist gebogen, er krümmt

sich nicht. Hüpft sich stramm auf einem Bein.

Sitzt davor ein Schuldiger und ergibt sich

nicht: steigt auf den Stuhl und schüttelt die

Luft. Nimmt Maß und weitet sich, applaudiert

seiner Kür. Klappt zusammen und zieht sich

hin. Streckt noch den Nacken zum Gewehr.

Hat Kunst jeden Versuch überdauert. Ein

Selbstbildnis in Serienproduktion: davor ein

Schuldiger, noch rot vor Wut. Dann gekocht.


10

Wie Gebet, das Gebet im ovalen Bild macht

ihn verrückt: keine Fußlänge reicht mehr an

die Absperrung: sein Sterben kommt ganz

schamlos zu Bild, wo er Simulant ist, weil

gefaßt. Die Fontanelle zweimal geschlossen.

Den Kopf dreieckig, mit breiter Stirn: so

zeigt sie sich in Farbe: mantis religiosa.

Pumpende Ader, links, schon halb in der

Vignette. (Der verkotzte Lungenbeutel auf

dem gewachsten Museumsboden, aus einem

anderen Bild geworfen, ist nichts gegen

diese Mordgeschichte!) Im Oval wußte der

Schöpfer Bescheid und machte den Augen-

blick zur Sache des kollektiven Verlangens.

Mord im Weichzeichner: Natur blank, nur

Blut, das den Sprung vorbereitet, knappstes

Signal: Kranke, Kränkere, es flüchtet sich nicht.

mantis religiosa: die Fangarme eingeklappt wie

ein Taschenmesser, Cyanbeigabe, der Wirkung

wegen: erscheinen die zum Gebet erhobenen

Arme. Mitte klar: unverwischter Stellungskrieg.

Und daraus der Biß, der nur zu ahnen ist, nicht

weniger führt den Dialog: präsentiert in feinem

Pastell. Nicht Leprom, nicht Wunde, auch kein

Schuß: im Oval wußte der Schöpfer Bescheid.

Die Fontanelle dreimal geschlossen, den Krebs

fast besiegt: nicht verhüllt von Intuition oder

verwegener Umsetzung. Er schnallt den Gürtel

an, zieht in den Krieg und übt das Beten neu.


11

Jeder Strich steht hier fester als der

längste Atem: endlich, daß man über

sich selbst lernt. Die aufgehobenen

Grenzen bringt die Welt allein zurück.

Auch der Absturz steht wieder jeden

Tag frei oder eine andere gemeine

Regung: kein in Farbe geflossenes

Melodram, das dagegen ankäme, auch

nicht gegen zirkulierende Gerüchte.

Gelogen, gestohlen für nichts: jede

Fügung behält die Ränder, die ihr

stehen: Haut wiegt weiter, da hilft

kein gelegter Brand und jeder

Atemzug wäre zu kurz, als daß der

Gedanke für immer öffentlich würde.

Schicklich wird begraben und für alle

Ewigkeit festgehalten: Substanz

verschoben, haltbar gemacht, eben

richtig historisch. Kein Gedanke offen.


12

Zum Ende zwei Gläser Wein: zum Ende der

Beispiele. Er könnte jetzt Musik hören oder

seinen Zustand präziser bekleiden: zwei, drei

letzte Operationsnähte, Schlauch in Nase und

Mund, Nottaufe, um die Würde herzustellen.

Nah liegt der Schlaf: Durchkommen wiegt

Messer und Brot, geordnet im Rahmen bis zuletzt.

Und, natürlich, eine korrekte Haltung, neue

Schuhe und ein stilles Herz. Kredit beantragt.






Karlheinz Barwasser, geb. 1950, aufgewachsen im Rheinland, lebt seit 1987 als Schriftsteller in München. Lyrik, Prosa, Roman, Kulturkritik, Hörspiel, Feature, Regiearbeit. Herausgeber und Hersteller von Pcetera - die interaktive Multimedia-Ausgabe für Literatur auf CD-ROM.
Bücher, zuletzt: Das Ypsilon der verdrehten Achsel, Gedichte, München 1992; Richtungen, Gedichte, München 1995; Mutterkorn, Roman, München 1996.
Hörspiele, zuletzt: The Skies Over Bagdad, Autorenproduktion, DLR, Berlin 1995 & 1996; ÜberGänge, BR, München 1996.
Literarische Auszeichnungen, u. a. Arbeitsstipendium für Literatur des Landes Nordrhein-Westfalen, 1986; Literaturstipendium der Landeshauptstadt München, 1992; 2. Förderungspreis Lyrikpreis Meran, 1996.

..

Wandler, Zeitschrift für Literatur, Heft 20

Zurück zum Anfang der Seite, zur Titel & Inhalt von Heft 20, zur Wandler Startseite