Wandler, Zeitschrift für Literatur, Nr.19: Dietmar SieversZurück zur Titelseite und zum Inhalt
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Dietmar Sievers Die Brüsewitz-Maschine Tobie hatte mich in die Stadt geschickt, um ein Ersatzteil zu kaufen. Im Schaufenster des Ramschers lagen staubige Leiterplatten. Nachdem ich drinnen bei einem gelangweilten Burschen meine Bestellung aufgegeben hatte, wühlte ich noch ein wenig in dem aufgehäuften Elektronikschrott. Eine Tonbandkassette geriet mir in die Hand, die in einer Kunststoffschachtel mit der Aufschrift ORWO-Digitalkassette steckte. In einer nostalgischen Anwandlung kaufte ich das Ding. Tobie und ich waren Haarmaler, die in schlecht bezahlter Heimarbeit den Gestalten in computeranimierten Medienprodukten die Haare in Unordnung brachten. Glatte Körper und Flächen darzustellen, war für die Supercomputer kein Problem, nur komplizierte natürliche Strukturen wie Wälder, Wiesen oder eben Haarschöpfe bedurften immer noch menschlicher Nacharbeit. Am Nachmittag legte ich die ORWO-Kassette in mein Kassettendeck ein, das erwartete Schnarren war zu hören. Auf den Rechner überspielt, zeigte sich ein rätselhaftes Programm. Es schien eine Art Computervirus zu sein, mit Elementen eines urtümlichen Grafikprogramms. Dann tauchten Textstellen auf, in denen von einem Herrn Brüsewitz die Rede war. In der zentralen Personendatenbank gab es keinen Brüsewitz. Nach endloser Fummelarbeit am Bildschirm ging ich gegen Morgen noch einmal hinaus. Tobie hockte viel in der Abfüllstation, einer Kneipe für Computerknechte und andere Nachtarbeiter. Das Lokal öffnete erst um drei Uhr früh für seine übergewichtige, blasse Kundschaft mit den fast ständig geröteten Augen. Tobie und ich tauschten manchmal Jobs aus. Eines Nachts hatte er eine Frau mit in die Abfüllstation geschleppt. Sie hieß Lotte und war eine sympathische Schuhzeichnerin. Schuhwerk wurde überdurchschnittlich oft verschmutzt oder beschädigt, besonders in aktionsbetonten Filmen. Die Schlappen reflektierten dann Licht völlig unberechenbar und mußten von Hand nachgebessert werden. Lotte war groß, etwa dreißig Jahre alt und hatte bernsteinfarbene Augen. Ein kariertes Herrenhemd, enge schwarze Jeans und Gesundheitssandalen bestimmten ihr Äußeres. Sie schienen schon eine Weile zusammen zu wohnen, denn außer zynischen Bemerkungen über das Zeug, was jede Nacht über ihre Bildschirme flimmerte, hatten sie sich kaum noch etwas zu sagen. "Abschalten müßte man den ganzen Dreck.", sagte Lotte und rührte in ihrem Drink. "Sagt euch der Name Brüsewitz etwas?", fragte ich. "Hat der sich nicht ich der DDR-Zeit in Zeitz mit Benzin übergossen und verbrannt?", antwortete Lotte. "Was sollte man damals in Zeitz auch anderes tun?", meinte Tobie müde. Die Tür öffnete sich und einige gut gekleidete Herren drängten herein. "Die Mittelstands-Schwadron!", flüsterte Lotte. Plötzlich war Tobie verschwunden, mußte innerhalb weniger Sekunden zum Hintereingang gehuscht sein. "Die machen Jagd auf Tobie, wegen seiner Vereinsmeierei.", erklärte Lotte und sah mich Hilfe suchend mit ihren geröteten Bernsteinaugen an. Tobie war vor kurzem zum Kassierer des Vereins zur Förderung des Zahlungsunwillens gewählt worden, ein undankbarer Posten, denn kaum jemand zahlte pünktlich seine Mitgliedsbeiträge. Der Verein hatte Gesellschaftsveränderung auf seine Fahnen geschrieben und meinte diese zu erreichen, wenn nur niemand seine Rechnungen bezahlte. Damit hatten sie schon einige notleidende Mittelständler in den Ruin getrieben, die sich nun zusammenrotteten. Als ich gegen Morgen nach Hause kam, saß Tobie vor meinem Bildschirm und klapperte auf der Tastatur. "Du willst doch nicht etwa von meiner Station aus Hackereien machen?", fragte ich beunruhigt. "Fremde Konten leer räumen oder Programme sabotieren?" Doch Tobie beruhigte mich, die Statuten seines Vereins würden ihm jegliche Gesetzesverstöße verbieten: "Kriminalität stabilisiert das System, denn das System ist
kriminell.". Er lümmelte sich im Drehstuhl und gähnte. Dann
baute er in meiner Badewanne aus Decken und Bekleidungsstücken ein
Nest, wo er bald ungehemmt schnarchte. Am nächsten Tag mußte ich lange an einer Szene arbeiten, in der langhaarige Badenixen eine Bootsfahrt unternahmen. Tobie getraute sich immer noch nicht auf die Straße, er sah fern und beschäftigte sich mit dem uralten Programm, das ich beim Ramscher gekauft hatte: "Das ist ein ganz bösartiges Systemgegner-Programm." Als die Nachrichten vermeldeten, daß der Verein zur Förderung des Zahlungsunwillens verboten worden sei und seine Mitglieder wegen schwerer Wirtschaftsvergehen gesucht würden, glaubte sich Tobie nicht mehr an das Kriminalitätsverbot seiner Statuten gebunden. Er überlegte laut, wie der elektronische Systemgegner ans Netz anzuschließen sei: "... nur über ein Relais, das ihn bei Bedarf sofort abtrennt." Denn Computer und Programme wurden von den Konzernen immer wieder automatisch ausspioniert. Tobie bastelte ein unförmiges Gerät aus Elektronikschrott und alten Postrelais, daß er nach drei Tagen in Betrieb setze. Kuriose Gestalten huschten da über den Bildschirm und gaben Politparolen von sich. Dann ging er eines Nachmittags weg, nachdem er mir aufgetragen hatte, mich um Lotte zu kümmern. Die schöne Schuhzeichnerin hauste in den Trümmern von Tobies Wohnung, die bei einer Vergeltungsaktion der MittelstandsSchwadron zu Bruch gegangen war. Sie umarmte mich stumm und weinte mir den Hals naß. Die Nägel an ihren weichen Händen waren schwarz lackiert und kurz gefeilt. Ich flickte notdürftig die zerbrochenen Fenster und schleppte einen Karton mit Elektroniktrümmern zur Entsorgung. In der Nacht probierte ich die Brüsewitz-Maschine aus. Falter flatterten gegen das Licht auf dem Balkon, während auf meinem Monitor eine Comicfigur zum Leben erwachte. Die Umrisse einer wohlproportionierten jungen Frau unter einer Art eiserner Maske. Haare hatte sie keine, die waren Tobie wohl zuwider gewesen. Statt Augen blitzten schmale schwarze Sehschlitze gelegentlich böse auf und als Mund dienten drei runde Löcher. Fräulein Brüsewitz verfügte über die beneidenswerte Fähigkeit, Feuerbälle aus der hohlen Hand schleudern zu können. Laß mich raus, signalisierten mir ihre schwarz behandschuhten Arme auf dem Bildschirm. Lotte kam und trug einen ausgebleichten Tarnanzug zu chicen Turnschuhen. Angesichts der Lumpen in meiner Badewanne weinte sie wieder und raufte sich die dunkelblonden Locken. Tobie war inzwischen nach einer brutalen Verfolgungsjagd gefaßt und zu lebenslanger Zwangsarbeit in den Siliziumminen des Hardware-Konzerns verurteilt worden. Lotte warf sich aufschluchzend in meine Badewanne. "Weine nicht, ich zeige dir etwas Lustiges.", sagte ich und wies auf die Brüsewitz-Maschine. "Warum läßt du sie nicht raus?", fragte Lotte, nachdem sie die Comicfigur auf dem ansonsten völlig weißen Bildschirm eine Weile beobachtet hatte. Ich gab die Relais frei und sofort klinkte sich die Maschine ins Netz ein. Fräulein Brüsewitz besuchte zunächst ein virtuelles Nachrichtenstudio, wo sie die Dekoration in Schutt und Asche legte und pseudopolitische Parolen von sich gab. Nachdem dieser Kanal abgeschaltet worden war, wandte sie sich der elektronischen Einkaufsmeile zu. Da sie die Zahlungsunwilligkeit ihres Schöpfers in sich trug, gab es jede Menge Ärger und Schaden. Bis zum Abend mußten fast die Hälfte der vierhundert Medienanbieter abschalten, weil Fräulein Brüsewitz bei ihnen randaliert hatte. Das Relais hatte Tobies Bastelei längst wieder vom Netz getrennt, doch die blechköpfige Berserkerin tobte heftiger denn je. Nur Spielhandlungen mit langhaarigen Schönheiten schien sie zu meiden. Lotte munterte das Geschehen auf den Bildschirmen auf, während ich eilig Tobies Entwürfe in meinen Speichern löschen mußte. Inzwischen hatten die Netzfirmen eine fieberhafte Suche nach den Urhebern des elektronischen Aufruhrs begonnen. Am Morgen danach fand Lotte einen gut dotierten Job bei den Aufräumarbeiten im Datenraum. Ich legte mich noch einmal hin, wurde aber bald durch Lärm an meiner Tür aufgeschreckt. Zwei aggressive Herren von der MittelstandsSchwadron klingelten Sturm und drohten, meine Tür einzutreten. "Nicht schlagen!", bat ich und öffnete ihnen. Die Herren ließen sich beruhigen und nahmen zu einer Tasse Tee auf meinem Sofa Platz. Sie lauschten aufmerksam meinen Erklärungen und fanden dann, was geschehen sei, könnte man nicht mehr ändern. Dann verlangten sie von mir, ich sollte zwei Detektive in den Datenraum einschleusen, um Fräulein Brüsewitz verfolgen zu können. Das war fast unmöglich, denn mittlerweile schnüffelten die Suchprogramme beinahe im Millisekundenabstand alle ans Netz angeschlossenen Rechner aus. Trotzdem nötigten die Mittelständler mich, die Brüsewitz-Maschine in ein bunkerartiges Gebäude am Stadtrand zu bringen, in dem die Schwadron ihr Hauptquartier hatte. Entwürfe für die Detektive hatten sie schon gemacht, athletische Typen in eleganten Anzügen, die meinen beiden Besuchern sehr ähnlich sahen. Da ich die Programmierung des Fräulein Brüsewitz ungefähr kannte, schrieb ich die beiden Detektivprogramme so, daß sie die blechköpfige Berserkerin nicht ernsthaft verletzen konnten. Die Animation war kein Problem, nur das Einspeisen ins Netz. Wir schickten die Detektive per Datenpaket vom Mittelstandsbunker aus in einen entlegenen Teil des virtuellen Welt, doch die Suchprogramme hatten unseren realen Standort schon herausgefunden. Ich verabschiedete mich hastig und floh zu Fuß in die Stadt. Die Administration ließ einen unglaublich brutalen Luftangriff auf den Mittelstandsbunker fliegen, doch es war schon zu spät. Die Detektive entpackten sich selbsttätig und nahmen die Spur des Fräulein Brüsewitz auf. Bei chaotischen Verfolgungsjagden wurden nun auch die Spielfilmkanäle in Mitleidenschaft gezogen. Sogar meine langhaarigen Badenixen mußten abgeschaltet werden. Zeitweise waren mehr als drei Viertel des Netzes außer Betrieb.
Trotzdem hingen die Menschen an den Bildschirmen und verfolgten das Tun
der drei virtuellen Chaoten mit starkem Interesse. Lady Brüsewitz
wurde liebevoll Brüsi genannt. Inzwischen trug sie schrille Perücken
und hatte sich bernsteingelbe Augen bei einer japanischen Spezialfirma
gekauft. Auch einen sinnlichen Kußmund hatte sie von unbekannten
Verehrern bekommen. Die beiden Detektive waren bald ähnlich beliebt
wie Lady Brüsewitz, taten sie doch nur ihre Pflicht und die auch noch
erfolglos. Die reale Mittelstands-Schwadron hingegen wurde verboten und
ihre Mitglieder verschwanden in den Siliziumminen. In der Abfüllstation wartete ich auf meine Verhaftung, goß mir am hellen Vormittag ein hartes Getränk nach dem anderen ein. Ich sah mich schon an eine Schubkarre geschmiedet durch die Siliziumminen ziehen. Auf dem Bildschirm über der Theke konnte ich Brüsis Zerstörungsfeldzug verfolgen, die gerade in einer Tierarztserie aufräumte. "Du hast genug.", sagte der Barkeeper und nahm mir die Flasche weg. Lotte kam zum zweiten Frühstück. Sie kaute ein Croissant und ich versuchte sie zu überreden, etwas Alkoholisches zu bestellen. Müßte ich doch jetzt auf Vorrat saufen, für all die Jahre in den Siliziumminen. "Das ist sehr unwahrscheinlich.", befand Lotte. Sie arbeitete gerade bei der Reparatur eines Nachrichtenkanals und wußte aus erster Hand, daß die Administration beabsichtigte, Lady Brüsewitz zur Chaotenbeauftragten des Landes mit eigenem Haushalt zu ernennen. Und die beiden namenlosen Detektive sollten Krimiserien bekommen, in denen sie bis zum natürlichen Ende ihrer Popularität wirken könnten. Lotte mußte wieder an die Arbeit und ließ mich ratlos in der schwammigen Welt meines Rauschs zurück. Ihre schrille Perücke verriet sie: große schwarze Mähne über einem metallisch glatten Schädel. Die etwas zu großen Augen schimmerten bernsteinfarben und der Mund war viel zu flach. "Hallo Brüsi", sagte ich und machte eine einladende Handbewegung. Sie setzte sich, doch ihr Gesicht blieb ohne Regung. "Tobie wartet auf dich. In den Siliziumminen.", sagte ich. "Ich werde eine Begnadigung für ihn bei der Kabinettssitzung ansprechen", beschied sie mit metallischer Stimme. "Werden wir jetzt schon von Blechköpfen regiert?", stänkerte ich mit schwerer Zunge. "Erinnere dich an Tobies Worte", antwortete sie, "Kriminalität stabilisiert das System. Und ihr habt dafür gerade ein unwiderlegliches Beispiel geliefert. Denk mal darüber nach!". Doch ich sah nur noch ein stumpfes schwammiges Schwarz von allen Seiten
auf mich zukommen, in dem mir zuletzt ein glattes Frauengesicht verschwörerisch
zuzwinkerte.
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