Wandler, Zeitschrift für Literatur, Nr.19: POSITIONZurück zur Titelseite und zum Inhalt
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POSITION Theo Breuer Beseelt sein & Erkenntnis suchen Zum Glück für die Lyrik & die Lyriker häufen sich
in letzter Zeit die Stimmen, die vehement ein Sich-Besinnen auf Qualität,
Originalität, Konzentration, Auseinandersetzung, Engagement und Leidenschaft
in der Dichtung fordern. Dabei beziehen sich die Autoren sowohl auf äußere
und innere, formale und inhaltliche Merkmale. Besonders zu unterstützen
ist in diesem Zusammenhang die Forderung nach Belesenheit und (Aus)Bildung
des Dichters: der Schreiber irrt, der da glaubt, moderne Lyrik sei schon,
wenn Verszeilen abgeteilt, Reimschemata vermieden oder kluge Gedanken,
kombiniert mit interessanten Bildern, mehr oder weniger willkürlich
zeilenspringend (die innere Gesetzmäßigkeit des Freiverses ignorierend)
aufs Papier gebracht. Noch mehr irrt der, der bei Lyrik an Wahn, Rausch,
Trunkenheit, Schwermut, Überdruß und dergleichen Phänomene
denkt. Nein, Lyrik ist immer Inspiration und Plan, Phantasie und Kalkül,
Traum und (lyrische!) Logik, Melancholie und Konzept, Kreativität
und Vorstellung, Zerrissenheit und Konstruktivität, Besessen- und
Bewußtheit: Der Dichter ist beim Schreiben oft so kühl-distanziert
wie ein professionell arbeitender Kriminaler, und wer sich beim Schreibprozeß
nicht kritisch über die eigene Schulter zu schauen gelernt hat, sollte
zwar weiterschreiben - wie schön, wenn es Millionen täten! -,
aber darauf verzichten, Öffentlichkeit zu suchen - denn eigentlich
gibt es bereits Gedichtbücher genug, womit wir beim Hauptthema wären:
Auseinandersetzung mit Lyrik braucht, kann, darf doch vom Lyriker nicht
gefordert werden! Wer nicht selbst den leidenschaftlichen Drang nach Erkenntnis
auf dem Gebiet verspürt, wo er Fachmann sein möchte, hat den
subjektiven Glauben an die Berufung zum Lyriker (zum Schaden der Lyrik)
offenbar nicht einer radikalen Prüfung unterworfen; nehmen wir doch
die Schreibarbeit wenigstens so ernst wie die Tätigkeit des Mechanikers,
dessen Werkstatt wir unser Automobil unter der Voraussetzung anvertrauen,
daß er auf dem neuesten Kenntnisstand und sie bestens ausgerüstet
ist! Kennzeichen des redlichen lyrischen Fachmannes, der seine Texte Lesern
als Kommunikationsangebot zur Verfügung stellt: Er ist literarisch
und literaturtheoretisch auf dem laufenden - indem er sich beispielsweise
einen fortwährenden (exemplarischen) Überblick über die
großen und kleinen Fachzeitschriften, Fachbücher, Anthologien
und Lyrikbände verschafft -, bildet sich sprachlich / rhetorisch
ständig und selbstverständlich weiter, verzichtet auf die Niederschrift
eigener Texte zugunsten der Lektüre von beispielsweise Novalis,
Hölderlin, Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé,
Benn, Seferis oder PoeGedichten, (dunkel anmutenden) Lichtquellen
von Dichtern, von denen wir wissen, wie bewußt (und wie modern) sie
ihre Verse gesetzt haben. Und ein Charles Bukowski (dessen Epigonen doch
alle wissen müssen, welch ein Bücherwurm er von klein auf war!)
wußte genauso, was damals er tat, als er seine Lyrik von Rhetorik
und sonstigen Feinheiten befreite: In seinen guten Gedichten spürt
man das kalkulierte Vorgehen wie die Hundeschnauze an der Backe - cool
konzipierte Lässigkeit, authentisch, originell, beeindruckend. Ja,
die Kenntnis rhetorischer Figuren (verschiedener Versmaße, Gedichtformen
u.s.w.) ist absolut notwendig - das wußte Bukowski - gerade wenn
dieser Lyriker ganz darauf verzichten, bewußt eine völlig andere
Richtung einschlagen, seine Lyrik von diesem als einengend und manieriert
empfundenen "Ballast" befreien will. Drei Bücher seien an
dieser Stelle hervorgehoben, denen ich wesentliche lyrische Kenntnisse
& Erkenntnisse verdanke: DAS GROSSE DEUTSCHE GEDICHTBUCH (hrsg. von
K. O. Conrady), DIE STRUKTUR DER MODERNEN LYRIK (Hugo Friedrich) und WOZU
LYRIK HEUTE (Hilde Domin). --- Lyriker zu sein bedeutet, eine neue Welt
präsentieren zu können, die eben ganz anders ist als die Welt,
die wir (fälschlicherweise?) die "Realität" nennen
und ganz anders als die lyrische Sprach- und Formwelt bereits bekannter
Dichter. - Traum, Phantasie, Erlebnis, Gedanke, Stimmung und Sprache sind
grenzenlose Landschaften, deren Modellierung und Bearbeitung (Zertrümmerung,
Chiffrierung, Montage ...) die künstlerische Tätigkeit des
Lyrikers schlechthin ist. Lyrisches Schreiben ist beseeltes, bewußtes
Tun - grundsätzlich jedem Menschen offen, der Lyrik liebt (und tatsächlich
über die notwendigen Begabungen verfügt). Und wer Lyrik liebt,
wird sie lesen, lesen, lesen (welcher Liebhaber wollte denn nicht diesem
geliebten geheimnisvollen, erhabenen Wesen bei jeder sich bietenden Gelegenheit
begegnen?) - und seine Texte nicht eher aus der Schublade hervorholen,
bis er seine Begabung wirklich erkannt und in seinen Texten (seiner Sprache)
die gewisse Besonderheit entdeckt zu haben glaubt, wie er sie nirgendwo
anders entdeckt hat - denn (um nur zwei Beispiele zu nennen) visuelle &
konkrete Poesie + "experimentelle" Lyrik wurden auch schon von
Barockdichtern verfaßt, und nie war die Lyrik moderner als im 19.
Jahrhundert. Grenzenlos bleiben trotzdem die gleichsam magischen Möglichkeiten
der Sprache (endlos kombinierbar mit zahllosen Formen, Themen und Inhalten)
in der Lyrik - bis hin ins Unendliche: Und dennoch (deswegen?) wird sie
letztlich immer fragmentarisch bleiben. - Findet die Mehrzahl der Lyriker
zu den Grundvoraussetzungen modernlyrischer Denk- und Schaffensweise zurück
- weg also vom privatistisch-larmoyanten Ich hin zum verfaßten lyrischen
Ich, dessen entpersönlichten Charakter nicht nur T. S. Eliot so sehr
betonte? (Ein Krolow, ein Fritz, ein Kunert sind wohl Garanten dafür,
daß die moderne Lyrik mit ihrer Assoziations-, Suggestions- und Symbolkraft
nicht kleinzukriegen ist: Oho!) Erleben wir - also - schon bald wieder
ein neues blaues Lyrikwunder? Das wäre allerdings --- wunderbar ... Theo Breuer, geboren 1959, aus Sistig/Eifel ist Herausgeber der mail-art-Edition
YE und des FALTBLATTs. Im Herbst 97 erscheint: "White Box - Kosmographische
Collagen" in der "Das fröhliche Wohnzimmer Edition".
(Bestellungen leiten wir gerne weiter. Bitte bis 1.8.97 an die Wandler-Vertriebsadresse
schicken.) .. Wandler, Zeitschrift für Literatur, Heft 19Zurück zum Anfang der Seite, zu Titel & Inhalt von Heft 19, zur Wandler Startseite
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