Wandler, Zeitschrift für Literatur, Heft 18: Andreas WeberZurück zur Titel & Inhalt von Heft 18,
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Andreas Weber, "Ich wurde am 24. Dezember 1961 in Horn/Nö geboren, studierte in Wien Germanistik und Geschichte. Als Werkstudent finanzierte ich mir mein Studium durch Arbeit in verschiedenen Berufen: Fabriksarbeit im In-und Ausland, Rotkreuz Mitgliederwerbung in der BRD, Gasleitungsmonteur, in der Werbebranche und zuletzt als Journalist. Derzeit unterrichte ich neben dem Schreiben und der Arbeit an dem Film (Drehbuch, Regie, Prod. MEDARDUS -Film/Wien) "Der Speckjäger - Ein Film über den Schriftsteller und Schriftsetzer Hermann Gail" (16 mm, 45 min, Farbe) halbtags in einem Berufsvorbereitungskurs für Jugendliche in Wels/Oberösterreich. Film: "Dear Fritz - Ein Film über den Schriftsteller Fritz Habeck" (30 min/16mm/SW, Idee, Buch, Realisation, Prod.: NAVIGATOR -Film, 1995) Herausgeber des Buches: "Gedanken in der Nacht"/Fritz Habeck (Erzählungen 1948-1958, Bibliothek der Provinz, 1995); Veröffentlichungen: "Der Springer" (Erzählung) in: Die Rampe, 2/95 im ORF/Rundfunk/Ö1, in der Reihe Beispiele, 26. 1. 1996, 11.40 - 12.00, Sprecher: Fritz v. Friedl , im ORF/Rundfunk/Ö2, in Literatur in NÖ, 5. 2. 1996, 16.35 - 19.59; "Rudolf Atzbacher" (Erzählung) in: Facetten ´95/Literarisches Jahrbuch der Stadt Linz; "Hunger" (Erzählung) in: Zenit, 4/95 ,in: Hillinger, 12/95); "Nachtspiel" (Erzählung) in: Lichtungen, 1/1996; "Amerika" (Erzählung) in: Die Rampe, 2/1996; "Nachtspiel - Acht Erzählungen in einer Landschaft", Verlag Bibliothek der Provinz , 1996, In diesem Buch enthalten ist auch die Erzählung Sheila; Im Herbst 1996 erscheint "Der Speckjäger - Ein Essay über Begegnungen mit dem Schriftsteller und Schriftsetzer Hermann Gail im Verlag Literaturedition Niederösterreich. Hans Weigel - Literaturstipendium 1996." Andreas WeberSheilaOnce upon a time and a very good time it was there was a moocow coming down along the road and this moocow that was coming down along the road met a nicens little boy named baby tuckoo... James Joyce: "Portrait of the Artist" "Du kannst die Hauptfigur einer Geschichte über einen Schriftsteller nicht Hemingstein nennen", sagte ein Freund, den ich diese Geschichte lesen ließ, "das sieht nach einer mißglückten Überhöhung aus". Ich gab ihm recht, denn auch mir erschien dieser Name immer erfunden, als sollte etwas angedeutet werden, das am Ende keine Überraschung mehr sein konnte. Doch Engelbert Hemingstein wohnte bis vor zwei Jahren in der Porzellangasse dreißig, im neunten Bezirk Wiens, sein Name stand zwischen Hemetsberger und Hemmel nur einmal im Telefonbuch, ohne Angabe eines Berufs. Daß er Schriftsteller war, hatte ich nur durch Zufall herausgefunden, denn er selbst hätte das nie gesagt. Vielmehr hatte er mir gegenüber sein Schreiben letztlich "zugegeben", nachdem ich ihn als Mitherausgeber einer von ihm kontaktierten Literaturzeitschrift dabei "ertappt" hatte. Da ich dann eben wußte, daß er sich erst nach einer "bedeutenden" Veröffentlichung zu seiner Schriftstellerei "bekennen" würde, worauf er "wie besessen" hinarbeitete, sprachen wir umso mehr über sein Schreiben, dabei nächtelang in einem Kaffeehaus in der Porzellangasse sitzend. Dort saßen wir auch bei unserem letzten Gespräch vor zwei Jahren, vier Tage vor seiner Abreise nach Australien. Er gab mir eine Adresse in Canberra, wo er an der Universität eine Stelle als Lektor für Deutsche Literatur gefunden hatte. Bei diesem letzten Gespräch erzählte er mir von philosophischen Studien während eines einige Zeit zurückliegenden "englischen Schopenhauer-Jahres" und sagte zuletzt, daß er mit dem Schreiben aufgehört habe, da er als Schriftsteller an keinem Geringeren als Hemingway gescheitert sei, sozusagen an dessen Spottnamen, wobei er lachte, ohne diese Äußerung weiter zu erklären. Vor einem halben Jahr stieß ich bei der Arbeit an einer Reportage in einer zwei Jahre alten Kulturzeitschrift auf die Erzählung "Sheila" von Robert Jordan. Ich kenne diesen Autor nicht. Da ich geglaubt habe, den Mann hinter dem Namen zu kennen, habe ich die wenigen Seiten nach Canberra geschickt. Der Umschlag ist ungeöffnet zurückgekommen, niemand lebt an der Adresse, hier ist die Geschichte: 1 Der österreichische Schriftsteller Engelbert Hemingstein, ein schwärmerischer und zur Sentimentalität neigender Mensch, hatte bereits die Mitte seines zweiunddreißigsten Lebensjahres erreicht, ohne durch die Veröffentlichung eines literarischen Werkes hervorgetreten zu sein. Nachdem er über zwölf Jahre lang ohne jeden Druck vor sich hingeschrieben hatte, begann er eines Tages an der Nichtveröffentlichung seines Werkes zu leiden. Er nahm daher eine auf ein Jahr befristete Stelle als Deutsch-Hilfslehrer am College von Ilfracombe an, um losgelöst von allen Verpflichtungen seinen ersten Roman zu schreiben, was ihm in Österreich, wegen der Nähe der im Roman zu beschreibenden österreichischen Lebensläufe und Zustände nicht möglich gewesen wäre, auch wenn dieser bereits bis in alle philosophischen Spitzfindigkeiten und erzähltechnischen Einzelheiten durchdachte, eigentlich vollendete Roman nur mehr aus seinem Gedächtnis abgeschrieben werden mußte. Der Schriftsteller betrat eine Woche vor Schulbeginn die für ihn bereitgestellte Wohnung und stellte sofort den Schreibtisch an das große Fenster seines Wohnzimmers. Er setzte sich an den Tisch und sah auf den Bristol Channel, nach Wales hinüber und nach Westen, auf den Atlantik hinaus. Am nächsten Tag stellte er sich in seiner Schule vor, wo er erfuhr, daß er jeden Montag und Dienstag am North-Devon College im zehn Meilen entfernten Barnstaple arbeiten würde. Nach dem Vorstellungsgespräch kaufte er sich in Ilfracombe eine elektrische Schreibmaschine und eilte nach Hause. Am Fenster zum Meer sitzend, schrieb er nach wenigen Stunden so, wie er sich die Niederschrift seines Romanes vorgestellt hatte. Manchmal ging er, über Details der Niederschrift nachdenkend, die Steilküste entlang. 2 Am dritten Samstag nach seiner Ankunft in England saß er in der Nähe von Baggy Point auf einer Felskante am Rand des Meeres. Unter ihm, in den hunderte Meter senkrecht ins Meer abfallenden Felsen, bewegten sich Kletterer, die dem mit der Flut steigenden Meer davonkletterten. Die anrollenden, am Fels schäumend zerberstenden und über Steinbrocken am Fuß der Wände zurückfließenden Wellen schienen schneller zu steigen als die Sportler. Plötzlich sah er auf seine Uhr und merkte, daß er einige Stunden lang auf der Felskante gesessen war. Er hebt den Blick, sieht auf das Meer hinaus, und ihm ist, als hätte er etwas übersehen. Er weiß nicht, ob es wichtig gewesen wäre, er weiß nur, daß es eine zeitlang in ihm gewesen ist. Als suchte er danach, sieht er hinaus, als könnte er am Horizont etwas sehen, das ihm eine Idee vom Aussehen dessen gibt, was er übersehen hat. Als wäre jemand, den er nicht wahrgenommen hat, den er jetzt vermißt, aufgestanden und hinaus gegangen. Beim Anblick der Weite vergaß er sein Unbehagen, noch bevor seine Gedanken es erfaßten. Er stand auf und ging weiter die Küste entlang. Außerhalb von Croyde stand ein zweistöckiges Holzhaus auf einer Anhöhe am Ende einer Sandstraße. Die weiße Farbe des Hauses blätterte an vielen Stellen ab, im Erdgeschoß der Pension befand sich ein Cafe. Er mietete sich ein Zimmer für die Nacht, setzte sich auf die Terrasse und sah in die sich weit nach Westen dehnende weiße Bucht hinunter. Drei Wellenreiter bemühten sich, auf der Spitze der davonrollenden Kämme die Wellen des kalten Meerwassers entlangzugleiten. Er trank Mineralwasser und sah zu, wie die Sonne unterging. Er ging ein paar Schritte von der Terrasse hinunter und setzte sich auf eine überdachte Schaukel, deren Federn quietschten, wenn er sich bewegte, weshalb er regungslos dasaß. Später kamen zwei deutsche Studenten, mit denen er im Sand des Strandes Fußball spielte, bis es völlig dunkel war. Sie sprachen danach noch eine Weile miteinander. Als sie ihn fragten, ob er in ihrem Auto bis nach Ilfracombe mitfahren wolle, lehnte er das Angebot dankend ab, fügte hinzu, er erwarte den Besuch seiner Freundin, die aus London mit ihrem Auto anreise. Als die zwei abfuhren, stand er winkend da, erstaunt über seine Lüge. Dann setzte er sich auf die Terrasse, saß alleine in der Dunkelheit. In Croyde leuchteten nur wenige Lichter. Er sah auf die erleuchteten Fenster eines im Bristol Channel vorbeifahrenden Schiffes und fühlte sich wohl. Eine Windlaterne stand vor ihm auf dem Holztisch, es war bereits sehr kalt geworden. Er umfaßte die warme Tasse mit seinen Handflächen, schlürfte Tee, hörte dem Rauschen der Brandung in der Nacht zu. Er blies die Laterne aus und blieb noch lange in der Finsternis sitzen. Dann ging er leise durch die Stille des Hauses zu seinem Bett hinauf. Am nächsten Morgen wanderte er die Küste entlang zurück nach Ilfracombe, wo er gegen Mittag ankam. In seiner Wohnung setzte er sich an seinen Schreibtisch und sah auf das Meer. Engelbert hatte keine Lust dazu, seine elektrische Schreibmaschine einzuschalten. Er wußte nicht, was er an diesem Sonntagnachmittag tun sollte, und fühlte sich zum ersten Mal seit seiner Ankunft in England "in der Fremde". Dort fühlte er sich wohl. Engelbert verließ seine Wohnung und ging durch den Ort. Er setzte sich auf die niedrige Hafenmauer am Ende der Pier, die am Rande des Hafens ins Meer hinausführt, und sah über den Bristol Channel nach Wales hinüber, nach Westen auf den Atlantik hinaus. Ein Fischkutter lief aus. 3 Sheila kam jeden Dienstag in Engelberts zehn Minuten dauernde Konversationsübung. Wenn sie mit ihm sprach, klang ihre Stimme aufgeregt, dabei sah sie ihm während des Redens unentwegt in die Augen. Manchmal verpaßte er sie, denn ihre zehn Minuten folgten auf seine Kaffeepause. Wenn er zu spät kam, war sie jedes Mal schon weggegangen. Manchmal sprachen sie dafür fast eine Stunde miteinander, wenn die folgenden Schülerinnen nicht kamen. Wenn sie einmal ausblieb, freute er sich über ihre Entschuldigung, die sie ihm immer von ihrer Freundin Louise ausrichten ließ. Sie war die einzige, die sich für ihr Fernbleiben entschuldigte. Einmal ließ sie ihm von Louise schon am Montag schöne Grüße ausrichten, obwohl sie am Dienstag kam. Sie redeten selten über die Themen des Deutschunterrichtes, sondern meist erzählte sie ihm von ihrer Familie, ihren Freunden, ihrer Freizeit. Oft errötete sie dabei, sie nickte heftig, während er redete. Manchmal sah er sie nicht an, wenn sie sprach, sondern er neigte seinen Kopf zu ihr hin, drehte sein Gesicht dabei weg von ihr und hörte nur auf den Klang ihrer Mädchenstimme. Nachdem sie schon sieben Mal gekommen war, saßen sie einander an einem Dienstag Ende Oktober in der mit deutschsprachigen Büchern und Zeitschriften vollgestopften Kammer gegenüber. Engelbert notierte einen ihrer typischen Ausdrucksfehler in sein auf den Knieen liegendes Heft. Als er aufblickte, in ihre Augen, sah er, wie schön sie war. Sie sprachen danach lange miteinander. Immer wieder fragte er sie nach Alltäglichkeiten, die ihm auf einmal so bedeutsam erschienen, daß er beinahe nicht danach zu fragen wagte. Unvermittelt fragte sie nach Engelberts Geschwistern, fragte, wie es dort, wo er herkomme, aussehe, was er studiert hätte, erzählte, daß sie schon oft zum Schifahren in Österreich gewesen wäre, sagte, daß sie ihn schon oft in Barnstaple alleine im Cafe sitzen gesehen hätte, und dann, daß sie nach dem College ein Jahr in Österreich als Au-Pair-Mädchen leben wolle, ob er ihr helfen könne, einen Job in Wien zu finden. Als er am Nachmittag dieses Tages aus dem Schulgebäude trat, sah er sie vor sich gehen. Er beschleunigte seine Schritte, lief fast und holte sie ein. Sie gingen gemeinsam auf der gewundenen Straße vom Hügel in die Stadt hinunter, vorbei an den wartenden Schulbussen, aus denen grimassierende Gesichter blickten. Kichernde Schulmädchen liefen an ihnen vorbei. Sie erzählte ihm, daß sie jedes Wochende mit ihren Freundinnen ausgehe, in Pubs und Musikklubs fahre, daß sie und ihre Freundinnen sich das Geld für den Benzin teilten. Er fragte sie, ob das ihr Auto gewesen wäre, in dem er sie vor kurzem gesehen hätte. Sie lachte und sagte, daß sie wegen dieses Autos Donnerstag nachmittags und Samstag vormittags im Supermarkt Woolworth arbeiten müsse, wo sie aber schon "Macht" über andere Verkäuferinnen hätte; sie fahre übrigens oft nach Ilfracombe, weil der Mutter einer Freundin dort ein Pub, der Marlboro Club, gehöre, ob er auch ab und zu dorthin ginge, und er log, sagte, daß er fast täglich dorthin ginge. Engelbert bemerkte, daß sie nie von einem Freund sprach. Sie gingen auf der langen Backsteinbrücke über den Taw. Auf der anderen Seite des Flußes bog er nicht zu seiner Bushaltestelle ab, sondern ging immer weiter mit ihr, bis sie vor dem Büro einer Lokalzeitung stehenblieb und sagte, daß sie hier hineinmüsse. Weil er ihr keine Möglichkeit geben wollte, seine Einladung zu einer Tasse Kaffee abzulehnen, verabschiedete er sich. Am Abend dieses Tages lag er in seinem Bett auf dem Rücken und sah in die Finsternis. Er stand auf, setzte sich nackt an seinen Schreibtisch und sah auf das nächtliche Meer hinaus. Er dachte an Sheila und den Klang ihrer Stimme, an ihr Schweigen und das Lächeln in ihrem Gesicht, wenn sie zu Boden sah und nickte. Er schloß die Augen, doch er konnte sich ihren Körper nicht nackt vorstellen, weil etwas in ihm ihre nackte Haut nicht deutlich werden ließ. Sein Gesicht war ihr so nahe, daß er ihre Haut mit seinen Wimpern streichelte, wenn er seine Augen öffnete und schloß, doch er sah sie nicht nackt, weil er ihr zu nahe war. 4 Am nächsten Morgen blieb Engelbert nach dem Erwachen lange mit geschlossenen Augen im Bett liegen. Dann blickte er an die Decke und stellte sich vor, wie er und Sheila einander alleine auf einem Küstenpfad gegenüberstehen ...wie er ihre Wange streichelt, sagt, daß er sie küssen wolle, und sie zu Boden sieht, dabei ihre Hand hebt und mit ihren Fingern über seine Lippen streicht, dann stand er auf, hüllte sich in eine Decke, ging barfuß in seine kalte Küche, machte sich Kaffee, briet Schinken, Eier, Tomaten und brachte das Essen ans Bett ...es regnet, sie sehen vom Schlafzimmer aus aufs Meer und stehen erst zu Mittag auf ... er lernt ihre Eltern kennen ... geht mit ihrem Vater auf den Fußballplatz, am Sonntag sitzt er mit ihr und ihrer Familie im Restaurant Northern Country beim Essen ... sie kommt nach Österreich auf Urlaub, studiert dann in Reading Deutsch und Französisch ... er unterrichtet in Österreich ... sie schreiben ein Jahr lang Briefe, treffen einander in den Weihnachtsferien ... sie gehen alleine am 24. Dezember um Mitternacht durch London ... stehen vor Hay`s Gallery am Ufer der Thames und sehen zum Museumsschiff HMS Belfast hinüber, es schneit, sie sehen in den Nachthimmel, den herabfallenden Schneeflocken entgegen, sie schließen die Augen, drehen die Köpfe nach oben und spüren die Schneeflocken auf ihrer Haut zergehen ... sie sind alleine in der Winternacht, halten einander fest, sehen einander an und beschließen, daß sie heiraten werden ... im nächsten Jahr bekommt er eine Stelle als Lektor an der Universität Reading, sie leben zusammen, sie schließt ihr Studium ab, dann sprechen sie mit ihren Eltern über ihre gemeinsamen Pläne ...er findet eine Stelle als Professor für Deutsch und Geschichte an einem Gymnasium in Wien ... sie wird schwanger, alle seine Freunde lachen, weil er Kinder immer wortreich ausgeschlossen hat, seine Eltern freuen sich über das nicht mehr erwartete Enkelkind. Engelbert sah sein Leben mit Sheila nur mehr einen einzigen Satz, der jederzeit gesagt werden konnte, entfernt. Er stand auf, zog sich an und fuhr nach Barnstaple, um Sheila zu treffen und ihr diesen Satz zu sagen. Er wußte nicht, wo sie wohnte, ging einen Nachmittag lang durch die Straßen, kam dabei aber immer wieder am Geschäftsgebäude der Lokalzeitung vorbei und fuhr am Abend wieder mit dem Bus zurück nach Ilfracombe. Er blätterte im Telefonbuch, fand ihre Nummer und schrieb sie in sein Adreßbuch. Er wagte es nicht, sie anzurufen, aber er fuhr auch an allen folgenden Tagen nach Barnstaple, um Sheila zu treffen, las in dem Cafe an der Straße durch die Fußgängerzone, gedankenlos, weil er alle paar Augenblicke hinaussah, schrieb Sätze vor sich hin, stundenlang, auf Blätter, die er beim Gehen auf dem Tisch am Fenster des Cafes liegen ließ. Er saß auf einer Bank am Ufer des Taw und sah von seinem Buch auf. Ein Mädchen kam über die Brücke. Er zwang sich weiterzulesen, obwohl auch sie ihn an Sheila erinnerte. Er sah ihr nach. Wenig später erhob er sich und ging in die Richtung des Mädchens, das er schon lange nicht mehr sah. Am nächsten Dienstag, beim letzten Treffen vor den Semesterferien, bat sie ihn, ihr einen Brief, in dem sie sich um eine Stelle als Au-Pair-Mädchen bewarb, ins Deutsche zu übersetzen. Sogleich fragte er sie nach ihrer Adresse, um ihr umgehend, jeder Tag zähle bei einer solchen Sache, die Übersetzung und weitere Informationen senden zu können. In den Semesterferien schickte er ihr die übersetzte Bewerbung und Adressen, die er ihr auch in die Schule mitbringen hätte können; an der unaufdringlichen Nachdrücklichkeit der wenigen Zeilen des Begleitbriefes hatte er lange gefeilt. Als Postskriptum fügte er eine Einladung hinzu, falls sie zufällig in der Gegend sei, doch bei ihm anzurufen, weshalb hier auch seine Telefonnummer stehe. Auch nachdem er ihr Bewerbungsschreiben ins Deutsche übersetzt hatte, las er an jedem der zehn Tage die von ihrer Hand geschriebenen Sätze. Sheila bedankte sich gleich am Beginn ihres ersten Gesprächs nach den Ferien für seine Hilfe und sagte dann, daß sie sich gestern abend mit ihrem Freund ausgesprochen hätte, daß jetzt wieder alles in Ordnung sei. Sie lächelte, errötete und sah zu Boden. Er blickte sie an, nickte, froh darüber, daß sie endlich wieder einander gegenübersaßen. 5 Engelbert betrat am Donnerstag nach den Ferien nachmittags das Großkaufhaus Woolworth in der Mitte des Einkaufszentrums Green Lanes, wo Sheila für ihren kleinen weißen Wagen arbeitete. Aus den Augenwinkeln heraus sah er sie sofort. Sie errötete, als sie ihn sah, beugte sich tief in eine Mappe, hob diese hoch und verschwand hinter den Regalen der Spielwarenabteilung. Er ging ihr nach, tat, als suche er etwas. Sie kramte sinnlos in Regalen, versuchte dabei, ihr Gesicht hinter dem Oberkörper einer neben ihr auf dem Boden knieenden Kollegin, die über Sheilas seltsames Benehmen kicherte, zu verbergen. Hemingstein stand da und sah hinüber zu den Mädchen. Zwei zitternde Häschen, denen ein lüsterner Wolf seine rot ragende Erektion entgegenreckt. Er errötete und sah zu Boden. Ihm war, als sähen ihn Leute an, als drehten sich Fremde nach ihm um. Engelbert erinnerte sich daran, daß er Sheila als ihr Gatte aus all dem heraus nach Europa, sie als Retter aus ihrer südwestenglischen Enge in die Welt hinausführen wollte, weil sie etwas Besonderes, viel zu schön für Woolworth in Barnstaple war. Er drehte sich um und hörte, wie die beiden die Schachtel, aus der sie Dinge herausgekramt hatten, packten und kichernd, sich zwischen den Regalen duckend, durch die Halle des Kaufhauses in den Hintergrund davonliefen. Er sah um sich und bemerkte, daß er vor einem Stand mit Kinderkleidung stand. Ihm fiel ein, daß sie nach fünf Jahren Deutschunterricht nicht fähig war, einfache Sätze und Phrasen fehlerlos auszusprechen. Er blickte auf seine Uhr, tat, als wäre ihm gerade ein wichtiger Termin eingefallen, und ging schnell aus dem Kaufhaus hinaus. 6 Sheila kam nicht mehr in Engelberts Konversationsübung. Sie entschuldigte sich nicht mehr, grüßte ihn nicht, sah zu Boden, wenn sie einander begegneten. Sheilas Freundin Louise sagte voller Spott und Vorwurf, daß er wohl am besten wisse, warum sie nicht mehr kommen könne. Die Mädchen aus Sheilas Klasse sahen weg, wenn er sie grüßte, die Buben grinsten. Eines Tages rief ihm einer nach, ob er ihm auch so einen netten Liebesbrief schreiben würde, hinter Engelberts Rücken wurde laut gelacht. Als er einige Zeit nach der Begegnung bei Woolworth über den Vorplatz auf den Eingang der Schule zuging, sah er, wie Sheila auf der Plattform vor dem Schuleingang einen Jungen umarmte. Beide warteten, bis er vorbeigegangen war. Dann grüßte Sheila ihn das erste Mal seit Wochen, rief ihm laut ihren Gruß nach, lachte. Hemingstein blieb stehen und drehte sich um. Er stand da, den beiden gegenüber, sah Sheila an, dann ihren Freund, sie hielten einander an den Händen, der Junge grinste. Dann wandten sie sich ab und liefen lachend an Hemingstein vorbei in das Foyer der Schule, wo die anderen aus ihrer Klasse, hinter Plakatständern und Bücherregalen verborgen, diese Szene kichernd beobachtet hatten. Als er am Nachmittag nach dem Unterricht das Lehrerzimmer betrat, sahen ihn die Mitglieder des Lehrkörpers anders an als sonst, doch niemand sagte ein Wort. Engelbert setzte sich alleine in seine Konversationskammer. Er stellte seinen Stuhl an das Fenster und sah auf Barnstaple hinunter. "Nichts ist geschehen", sagte er laut. Er lehnte sich zurück und schloß die Augen. Nach einer Weile nahm er ein Blatt Papier und begann, einen Brief an Sheila zu schreiben, daß seine Annäherung nur eine schriftstellerische Idee gewesen wäre, daß sie ohne die fleischlichen Notwendigkeiten einer gewöhnlichen Liebesbeziehung ausgekommen wären, daß es einfach schön gewesen wäre, mit ihr auf einer der Bänke neben der Bushaltestelle am Ufer des Flusses zu sitzen und die untergehende Sonne über den Taw wandern zu sehen. Engelbert hielt inne, las, was er geschrieben hatte, und griff sich an den Kopf. Er faltete das Blatt, zerriß es sooft als möglich und ließ die Schnitzel aus seiner Hand in den Papierkorb rieseln. Er stand auf, nahm seine Tasche, eilte aus der Schule, ging auf der gewundenen Straße über den Hügel hinunter. Engelbert setzte sich auf eine der Bänke neben der Bushaltestelle am Ufer des Flusses, saß im warmen Frühlingswind am Taw, sah zu, wie mit der Flut das Wasser im Flußbett stieg, wie die breiten, dunkelroten Brückenpfeiler aus Backstein im Wasser verschwanden. Er ließ einen Bus nach dem anderen fahren, blieb alleine auf der Bank sitzen, während die Sonne über ihm nach Westen wanderte. Er saß noch lange in der Dunkelheit und fuhr mit dem letzten Bus durch die Nacht zurück nach Ilfracombe. Er erwachte am nächsten Tag, als es noch dunkel war, stand auf, zog sich an und ging in der ersten Dämmerung durch den Ort hinunter zur Küste. Auf der Anhöhe hinter dem Pavillion Theatre blieb er stehen, stieg über die steinerne Brüstung, ging vor bis an die Kante der hohen Felsklippen und ließ sich auf seinen Fersen nieder. 7 Engelbert sah im Morgengrauen auf das Meer und dachte an Wien, wo er immer nur die Anfänge seiner Romane und Erzählungen oder Schlüsse, Szenen, Skizzen schnell hingeschrieben hat, voller Erwartung und Freude, weil er jede einzelne Seite seiner Bücher gesehen, in ihnen geblättert hat. Doch wenn er sich näherbeugt, um die Sätze aus seinen Büchern abzuschreiben, starrte er auf die vollgeschmierten Blätter seiner Notizhefte, auf die er immer wieder gespannt gewesen ist, als ob da etwas stehen könnte, das schon durch sein Aufschreiben zu einer Geschichte geworden ist. Dann hat er weiter in seinen Notizheften geschrieben, sich hingesetzt, gleichgültig wo, und täglich Material gesammelt für jene große Geschichte, mit der er literarisch hervortreten würde, den endgültigen Beginn jener Nieder schrift täglich verschiebend. Manchmal hat er begonnen, eine kleine Geschichte zu schreiben, jedes Mal etwas, das auf dem Papier immer weniger gewesen ist, anders, als er sich das Geschriebene vorgestellt hat, so als hätte es jemand anderer geschrieben, immer etwas in seiner Belanglosigkeit Abgeschlossenes, dessen Niederschrift ihn selbst so sehr gelangweilt hat, daß er das Schreiben nach wenigen Seiten abgebrochen, sich eingeredet hat, daß er auch diese Sätze für die große Geschichte aufsparen müsse, für den Roman, den er mit einundzwanzig Jahren entworfen hat, dessen Material er unter einem Wort aus dem ersten Satz des Werkes in seine Notizhefte eingetragen hat, das Stichwort und den Entwurf immer wieder geändert hat, nie ein Wort mehr geschrieben, als er für das Gefühl, ein Schriftsteller zu sein, benötigt hat. Daran zu zweifeln, hat er nie Gelegenheit gefunden, weil viele Leute ihn schon immer für einen Schriftsteller gehalten haben, weil immer er alle mit seinen Geschichten unterhalten hat. Danach, auf dem Heimweg, hat er sich auf das Alleinsein mit dem Weiß des Papiers, auf die Stille im warmen Schein seiner Schreibtischlampe gefreut, doch dann sind die in der Stille seines Schreibtisches auf das Weiß des Papiers geschriebenen Sätze seiner mündlichen Erzählungen zu Geschichten geworden, die ihn beim Schreiben so gelangweilt haben, daß er nach wenigen Seiten damit aufgehört hat. Ohne das Gelächter der Zuhörer, ist er nie zu einer Geschichte fähig gewesen. Durch sein Alleinsein ist plötzlich immer etwas in ihm gewesen, das alles Wesentliche nicht an sich vorbei auf das Weiß des Papiers gelassen hat. Einmal hat ihn eine unbekannte Frau auf der Straße angesprochen, in ein Cafe eingeladen, ist ihm gegenüber gesessen und hat über seine "schriftstellerische Erscheinung" gesprochen, seine Hände in ihre Hände genommen, gesagt: "Schreiben Sie". Engelbert erhob sich, stieg in den Felsen hinauf zu einer der in den Stein gehauenen Bänke, setzte sich und verschränkte die Arme vor der Brust. Mit hängendem Kopf, als schliefe er im Stein, hörte er das Rauschen der Brandung und konnte sich plötzlich nichts in seinem Leben vorstellen, worüber er hätte weinen können, so wie er, alleine in der Finsternis des Kinosaals sitzend, oft den Tränen nahe gekommen ist. Er lehnte sich zurück an den Felsen und öffnete die Augen. 8 Engelbert stand auf, stieg hinunter auf den asphaltierten Weg, ging weiter entlang der Küste und blieb stehen. Ihm war, als könnte er durch das Stehenbleiben seine Geschichte anhalten. Er drehte sich um und sah zurück, auf den Asphalt, das Meer. Er erinnerte sich an Personen seiner Vergangenheit, Gesichter, Stimmen, Gesten, Stille, in der zusammenhanglose Sätze erklangen. Später, an seinen Schreibtisch sitzend, sah er auf den Stoß der in England von ihm beschriebenen Blätter. Er begann sie zu lesen und sah ein, daß er keine Worte für das Bedeutsame in der Alltäglichkeit seiner Existenz gefunden hatte. Jeder Satz, mit dem er versucht hatte, sein Leben zu beschreiben, erschien ihm aus irgendeinem der vielen schon gelesenen Romane abgeschrieben. Die Erinnerung an seine Vergangenheit hatte mit dem Geschriebenen nichts zu tun, irgendeinen Zusammenhang dieser Zeilen mit seiner Gegenwart gab es nicht. Die beschriebenen Höhepunkte seines Lebens erschienen ihm beim Lesen als belanglose Einzelheiten, die im Weiß des Papiers auseinanderzutreiben schienen. Er blätterte zurück und las den ersten Satz seines Romans: "Ich bin immer früh aufgestanden, ohne zu wissen warum" . Engelbert verschürte den Stoß beschriebener Blätter und legte ihn zum Altpapier. 9 Am nächsten Tag kaufte er sich Laufschuhe und lief die Küste entlang. Am Freitag fuhr er nach Exeter, wo er sich mit anderen Hilfslehrern aus Österreich traf. Sie nahmen den Bus nach London, wo sie ins Theater, ins Kino und in das Stadion an der White Hart Lane zu einem Fußballspiel von Tottenham Hotspur gingen. Er fuhr alleine zurück nach Devon. Im Bus lernte er eine Engländerin kennen, die er nach zwei Stunden, in der letzten Reihe sitzend, küßte. Sie stiegen in Plymouth aus, trafen einander am Abend, gingen nicht wie ausgemacht ins Kino, sondern in eine Imbißstube und danach zu ihr, wo sie miteinander schliefen. Danach lag er neben der nackten Frau auf dem Rücken und starrte in die Dunkelheit des fremden Raumes. Er hörte das fremde Atmen neben sich, die Frau drängte sich im Schlaf näher an ihn. Er spürte die Wärme ihres Körpers und hörte dem Regen zu, der in Schauern gegen das Fenster prasselte. Er erinnerte sich, wie er vor über einem Jahr im Morgengrauen eine Frau getroffen hat, die barfuß auf dem Rand des Marmorbeckens eines Springbrunnens gesessen ist, alleine inmitten eines weiten Platzes. Sie hat ihn angelächelt, er ist stehen geblieben, wenig später hat diese reiche Geschäftsfrau ihn geheiratet. Sie hat sofort sein Schreiben und seine Gedanken zu Schopenhauer bewundert, doch er hat der Bewunderung von Anfang an mißtraut. Nach einem halben Jahr ihrer Ehe sind sie in ihrem teuren Auto durch die nächtliche Stadt gefahren, heim aus dem Krankenhaus, wo er sie nach einer Abtreibung abgeholt hat. Sie hat sich an ihn gedrückt und gesagt, daß heute der glücklichste Tag ihres Lebens sei, eine solche Befreiung habe sie noch nie vorher gespürt. Er hat sie verstanden und sich dafür geschämt. Eines Tages, nackt auf ihrem nackten Körper liegend, ist er durch die lauten Schreie seiner Frau erschrocken aufgefahren, hat den Blick gehoben, ihre Füße auf seinen Schultern gesehen, links und rechts ihre Knöchel wahrgenommen und plötzlich Fußschweiß gerochen, zart, nur eine feine Geruchsspur. Er hat sich schnell von ihrem Leib heruntergewunden, sich auf dem Bett sitzend noch einmal umgedreht, sie mit noch hochgereckten Beinen daliegen gesehen. Seine Ehe ist ihm plötzlich unangemessen erschienen. Am nächsten Tag, acht Monate nach der Heirat, hat er die Scheidung eingereicht und beschlossen, mit seinem Schreiben ernst zu machen. Engelbert fühlte Tränen in seine Augen steigen. Er starrte in die Nacht, hörte den Regen und hätte gerne darüber geweint, daß er den autobiographischen Roman seines Lebens nicht schreiben würde, weil ihm das Aufschreiben dieses Lebens unangemessen erschien, ebenso wie das Weinen über diese bedeutungslose Tatsache. Er empfand etwas wie Nachsicht gegenüber seiner selbstmitleidigen Sentimentalität, nach einer Weile Erleichterung über das Verklingen dieser Regungen verspürend, schlief er ein. 10 Zwei Tage später saß er mit John Foster, einem Literaturlehrer aus dem North Devon College, in Carwardians Tea & Coffee Shop in Barnstaple. John, der so oft als möglich nach Wien fuhr und in seiner Freizeit Deutsch lernte, hatte ihn am Vortag noch nach zehn Uhr am Abend angerufen, da er etwas Sensationelles herausgefunden hätte, etwas, das Engelbert sicher noch nicht über sich wisse. John trank aus seiner Schale "Wiener Kaffee", grinste, die Mitteilung hinauszögernd, und sagte dann, daß Ernest Hemingway, den John, und wie er nach ihren Gesprächen ja wisse auch Engelbert, für den größten Schriftsteller aller Zeiten hielt, in seiner Jugend von Klassenkameraden, die ihn ärgern wollten, Hemingstein gerufen worden wäre. Engelbert Hemingstein schluckte, sprachlos, dann lachte er und sagte, daß er Hemingways Spottnamen natürlich kenne. Nach einer Weile sagte Engelbert, daß er früher genau deswegen sogar geschrieben hätte. Nicht etwa ein besonders gut gelungener Aufsatz oder der aufmunternde Zuspruch eines fortschrittlichen Lehrers hätten ihn auf die Idee zu schreiben gebracht. Er hätte als Kind zwar immer mit vor Begeisterung glühenden Ohren gelesen, doch das wäre es nicht gewesen, nein, auf die Idee selbst zu schreiben, in diesen engen Zusammenhang mit der Literatur, hätte ihn die Namensgleichheit mit Ernest Hemingways Scherznamen gebracht. Auf diese Tatsache wäre er zufällig gestoßen, als er für ein Referat in der fünften Klasse des Gymnasiums eine Hemingway- Biographie lesen mußte, sein Schreiben sei ein Zufall gewesen. Zuletzt sagte er lachend, daß er immerhin wenigstens Literatur studiert hätte. 11 Engelberts Vertrag mit den zwei Schulen endete am 30. Juni. Er flog am 1. Juli nach Österreich zurück, trat im Herbst nicht in den Schuldienst ein, sondern begann eine Buchhändlerlehre in Linz, die er wegen seines absolvierten Germanistikstudiums nach einem Jahr abgeschlossen hatte. Er fand neue Freunde, die ihn Bert nannten und mit denen er eine verkaufsorientierte Literaturzeitschrift herausgab. Drei Jahre nach seinem Jahr in England, kurz vor seinem fünfunddreißigsten Geburtstag, eröffnete er eine eigene Buchhandlung. Ein Jahr später heiratete er eine acht Jahre jüngere Verkäuferin, die in ihrem Leben genau zehn Bücher gelesen hatte. Ein Jahr nach seiner Heirat kam ein Sohn, ein weiteres Jahr später eine Tochter zur Welt. Bert taufte seinene Sohn Nikolaus, um ihn Nick, so wie den Nick Adams der Stories von Ernest Hemingway, rufen zu können, seine Tochter hieß Pilar, nach einer Frauenfigur aus Hemingways Roman "Wem die Stunde schlägt". Es amüsierte ihn, daß niemand die Hemingwayzusammenhänge erkannte. Bei Spaziergängen mit seiner Famile, seinen Eltern und Schwiegereltern, an Sonntagnachmittagen auf der Promenade entlang der Donau, wenn er mit den Seinen bei Kaffee und Kuchen beisammen saß, hatte er immer öfter das Gefühl, einer feindlichen Welt mehr gegeben als von ihr bekommen zu haben. Er eröffnete eine Filiale seiner Buchhandlung in Enns, wenig später eine in Steyr und war plötzlich wohlhabend. 12 Beim Umzug aus seiner Linzer Stadtwohnung in ein Haus im Vorort Pichling fand Bert am Boden einer Kiste eine Mappe, nahm sie heraus, blies den Staub vom Deckel und öffnete sie. Er hatte diese mehr als zweihundert Seiten damals in England mit der Hand geschrieben und vergessen. Er setzte sich in ein Cafe und las von Phil McCoist und Bea Roxburgh, einem Tischler namens Smith, vom Rainbow Corner Cafe, dem Österreicher Franz Kern und Rosanna, Mark Shepherd, Captain Beefmaster, Menschen, die er gekannt hatte, denen er Geschichten angedichtet hatte, an deren Gesichter er sich aber nicht mehr erinnern konnte. Ihm gefiel, was er geschrieben hatte, zuletzt las er eine Geschichte über das Mädchen Sheila. Eine Woche später flog er nach England. Am Abend traf er mit einem Leihwagen in Ilfracombe ein, mietete ein Zimmer im Collingwood-Hotel, was im Oktober außerhalb der Tourismus-Saison auch ohne Voranmeldung möglich war, und ging früh schlafen. Am nächsten Vormittag spazierte er durch den Ort. Hinter den Theken der Pubs, in den Cafes und an den Kassen der Geschäfte blickte er in das eine oder andere bekannte Gesicht. Dann traf er Sheila. Sie stand mit einem Säugling auf dem Arm und einem etwa zehnjährigen Jungen an der Hand auf dem Gehsteig vor Boots, dem Pharmazie-Diskont in der High-Street. Sie erkannten einander sofort. Ein Mann in blauer Arbeitskleidung kam mit einem etwa vierjährigen Mädchen aus dem Geschäft. Sie hatte Neil, ihren Freund von damals, nicht einmal ein Jahr nach der Schule wegen Robert, ihrem Ältesten, geheiratet und war deshalb nie ins Ausland oder an die Universität gegangen, sondern war nach einer einjährigen Kinderpause im Kaufhaus Woolworth geblieben, hatte dann allerdings eine volle Arbeitswoche lang gearbeitet, bis sie vor etwa zwei Jahren von Barnstaple nach Ilfracombe gezogen waren, weil ihr Mann es sich beruflich verbessern konnte. Ihr Deutsch sei leider nicht mehr vorhanden, deshalb hätte sie gleich Englisch gesprochen, sie lachte. Neil verabschiedete sich freundlich grüßend, weil er wieder zur Arbeit mußte. Er arbeitete als Maurer bei einer örtlichen Baufirma und hatte es schon zum Polier gebracht, hatte schon, sie sagte das Wort lachend auf deutsch, "Macht" über einige Leute. Trotz seines guten Gehaltes würde sie aber wieder arbeiten, sobald die Kinder sie nicht mehr so dringend bräuchten, schließlich wolle sie ja nicht zu Hause hinter dem Herd versauern. Da Neil die nächsten zwei Wochen auf einer Baustelle auswärts arbeitete, schlug Sheila vor, daß sie einander treffen, sie würde die Kinder zu den Schwiegereltern geben. Sie verabredeten sich für acht Uhr im George & Dragon, doch Sheila trat schon um Viertel nach sieben, ohne zu klopfen, in Berts Hotelzimmer. Sie trug schweres Parfum und war geschminkt. Sie redeten nicht viel miteinander, sondern, so als hätten sie das ausgemacht, zogen sie einander aus und gingen miteinander ins Bett. Sie dachten nicht daran auszugehen, sondern sie schliefen immer wieder miteinander und taten alle Dinge, die sie von ihren Ehepartnern nie verlangen würden. Es gelang ihnen, einander an jedem der zehn Tage von Berts Aufenthalt zu treffen, manchmal nur für eine Stunde, manchmal zwei Mal am Tag. Sie hatten einander nicht viel zu erzählen, sondern sie schliefen so oft als möglich miteinander, bei Sheilas Freundin Louise, in Stundenhotels, im Auto, bis ihnen beiden die Lust vergangen war. Am letzten Tag, nachdem sie das letzte Mal miteinander im Auto geschlafen hatten, zogen sie sich an, ohne einander anzusehen. Sie fuhren schweigend auf der Küstenstraße von Lynmouth nach Ilfracombe zurück. Er hielt den Wagen einige Straßen von ihrem Haus entfernt. Sie wußten beide nicht, was sie sagen sollten, lachten und sagten, daß sie nicht wüßten, was sie sagen sollten. Dann holte Sheila tief Luft und sagte in einem Ton, als gestehe sie ein Geheimnis, daß sie sich oft gefragt habe, was gewesen wäre, wenn sie damals an jenem Nachmittag im Supermarkt nicht so feig gewesen wäre, tatsächlich hätte sie damals nichts so sehr gewollt, als sich mit ihm zu treffen. Bert erinnerte sich sofort an die Szene, die sie meinte. Er lachte und sagte, daß alles sicher anders gekommen wäre, wenn sie nicht so feig gewesen wäre. Plötzlich sagte sie, daß sie hierher gehöre, daß sie immer hierher gehört hätte. Sie tauschten die Adressen aus, sie würde ihn bei ihrem nächsten Österreichurlaub sicher besuchen, wenn sie wieder eigenes Geld hätte, würde sie alleine oder mit Louise auf Urlaub fahren. Bert gab ihr die Adresse seiner aufgelassenen Linzer Stadtwohnung. Sie küßten einander nicht, sondern gaben einander wortlos die Hand. Sie stieg schnell aus, ohne ihn anzusehen, und ging davon, ohne sich umzudrehen. Er sah im Rückspiegel, wie sie um die Ecke verschwand, und fuhr los. 13 Er parkte das Auto vor dem Hotel, ging zur Busstation und fuhr wie vor zwölf Jahren mit einem der kleinen gelb-roten Busse der Red-Bus-Company nach Barnstaple. Er ging durch den Ort, in die Markthalle des Pannier Market, wo die Bauern aus der Umgebung ihre Güter anboten, manche schon ihre Stände einpackten, und er sah wieder den Eierverkäufer, der auf seinem Kopf eine Stoffmütze in der Form einer auf seinem Kopf brütenden Henne trug. Er ging hinüber in das Einkaufszentrum Green Lanes, trank bei Roberts in der Mitte zwischen allen Geschäften einen Kaffee. Auf einem kleinen Springbrunnenplatz am Ende eines der langen überdachten Gänge zupfte ein Mann auf seiner elektrisch verstärkten Harfe "Spanish Eyes", zu Orchestermusik, die von einem mitlaufenden Tonband kam. Eine Frau verkaufte daneben auf einem Stand CDs und Musikcasetten. Applaus plätscherte gelegentlich heran, manche blickten im Vorbeigehen auf in den Gängen stehende Plakate, Fausto Franco, "International Harpist", wenige Leute waren stehengeblieben. Bert ging zurück zur Busstation und setzte sich neben dem Queen Anne`s Walk auf eine Bank am Ufer des Taw. Er sah hinüber zur Long Bridge und hinauf zum North Devon College. Der Abend begann zu dämmern, der Fluß führte wegen der Ebbe wenig Wasser. Enten saßen dichtgedrängt auf den schlammigen Sandbänken in der Mitte zwischen den Ufern. Die orangerot untergehende Sonne warf rote Lichtreflexe auf die Wasseroberfläche, während sie auf den Hügelkamm im Westen zuwanderte. In der Ferne bewegten sich drei Reiter im Flußbett entlang des langsam vom Meer her einströmenden Wassers über den schlammigen Sand auf den Horizont zu. Die Luft trieb verdunstend über der Wasseroberfläche hinaus, die Konturen der Hügel verloren ihre Schärfe. Plötzlich begann Bert zu weinen. Er sah Sheila mit ihren Kindern dastehen, erwachsen, wartend, ihrem Gatten stolz ihren Bekannten aus Europa vorstellend. Er sah sie als Schülerin vor sich, sah Sheila, wie sie nackt auf ihm saß, ihm ihr Hinterteil entgegenreckte, und er erinnerte sich an den Moment, als er zu ihr aufsah, in ihre Augen, und sah, wie schön sie war. Engelbert weinte im Sonnenuntergang am Taw sitzend und stellte sich das Verbluten so wie sein Weinen vor. Er empfand ein solches Alleinsein wie noch nie zuvor, weinte, bis er dieses Gefühl plötzlich hingenommen hatte, beinahe erleichtert. Er wischte mit seinen Fingern die Tränen weg, führte die Hand an seine Lippen und schmeckte das Salz auf seiner Zunge. 14 Bert saß von fünf bis elf auf der Bank am Fluß und fuhr mit dem letzten Bus zurück nach Ilfracombe. Wie vor zwölf Jahren fuhr der Bus um zehn nach elf, voll mit schwitzend schnatternden Teenagern, die aus der Diskothek "Kaos" kamen. Er saß wieder in der hintersten Reihe. Er packte, fuhr mit dem Auto nach Exeter und nahm den Nachtzug nach London. Da er auf dem Flugplatz eine Stunde auf seinen Abflug warten mußte, ging er zu einer Telefonzelle und wählte die Telefonnummer, die Sheila ihm gegeben hatte. Er wählte ein zweites Mal, weil er dachte, sich verwählt zu haben. Doch auch beim zweiten Mal meldete sich, "North Devon College, Sekretariat". Er schmunzelte, hängte den Hörer ein und drehte sich
um, hielt inne. Plötzlich fühlte der österreichische
Buchhändler Engelbert Hemingstein eine große Freiheit.
.. Wandler, Zeitschrift für Literatur, Heft 18Zurück zum Anfang der Seite, zur Titel & Inhalt von Heft 18, zur Wandler Startseite |