Wandler, Zeitschrift für Literatur, Heft 18: Harald Taglinger

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Harald Taglinger

Die aufgeblasene Frau

Kurz hinter dem Blumengarten, unterhalb vom Haus, begannen die unregelmäßigen Holzstöße des nachbarlichen Bauernhofs. Die angemoosten Fichtenstämme waren in Viertel zertrümmert und mannshoch aufgeschichtet worden. Dahinter stank eine gemauerte Grube voller Rinderpisse. Die dampfte in jeden kalten Morgen hinein. So frisch kam sie aus dem Stall herausgeronnen.

Als ich klein war, lag daneben eines Tages ein großer, blau angelaufener Fleischball, aus dem zwei Arme und zwei Beine staken. Mein Kamerad stand tränenverschmiert dahinter, die Nachbarn standen dahinter, das Amt stand dahinter und die Polizei schrieb auf einen Zettel. Großmutter hatte sich etwas von der Pisse abschöpfen wollen. Sie hatte die Balken über der dampfenden Grube abgedeckt. Das war anstrengend, sie hatte nach Luft geschnappt und statt dessen eine Gasblase eingeatmet, die unter dem Grubenverdeck lauerte. Da war sie ohnmächtig geworden, kopfüber in die Grube gestürzt und darin ertrunken. Jämmerlich, sagten die Leute später.

Ihre zerplatzten Lungen hatten im letzten Krampf das Gas aufgenommen. Sie gaben es nun mit einem leisen Zischen vorsichtig wieder ab. Es wich ihr wie Leben aus allen Körperöffnungen. Trotzdem blieb sie ein Ball, mit dem ich aber nicht hätte spielen mögen.

Als ich einen zaghaften Schritt auf ihr Zischen zuging, konnte ich neben den zitternden Beinen des Bauern und der stämmigen Amtsgewalt des Polizisten hindurchspitzen. Es war alles so neu für mich. Es war, als würde meine Blase an meinem Bauch saugen. Und das war angenehm.

Ich hatte vorher noch nie einen Strumpfhalter an einem Frauenbein gesehen. Jetzt folgten meine Augen dem sumpfigen Nylonfetzen, der sich aus verdreckten Filzhausschuhen heraushob und nach oben schlängelte. Die Kleider der blau angelaufenen Frau hatten sich gelöst, als der Bauer in seiner Verzweiflung die Frau ruckartig aus der braunen Masse gezogen hatte. Und zwischen verklebten Unterrockfetzen und den verkrampften Fingern, die ihr zwischen den Beinen lagen, durchzogen feine, dickere und knotige dunkelrote Linien die nackten und gespreizten Beine. Es sah aus wie eine Landkarte, aber ich traute mich nicht zu lachen. Man würde mich sonst weit nach hinten stellen. Ich hatte so etwas nie vorher gesehen. Meinen Blick konzentrierte ich auf einen der beiden Strumpfhalter, der bis zum Bersten gedehnt war und begriff seinen Sinn nicht. Es schien mir so unnötig, daß ihr Fleisch aus den Strümpfen herausquoll. Es war doch tot.

Was wohl zwischen den Strümpfen, unterhalb der Baumwolle war? Die Menschen waren nicht wichtig. Mich interessierte auch ihr kobaltblaues Gesicht mit der verrutschten Zahnprothese wenig. Ich konnte nämlich nicht begreifen, was mich an das Stück Haut so kettete, das zwischen dem Strumpfhalter und den undefinierbaren, feingerippten Baumwollfetzen hervorschimmerte.

Andeutungsweise hatten ich von Haaren gehört, die sich angeblich dort verbergen sollten. Nicht an mir, ich hatte nachgesehen. Aber mein Kamerad hatte es mir erzählt. Und jetzt stand er da und heulte wie ein Hund. Jetzt, wo er es mir endlich zeigen konnte. Neben mir begann der Bauer zu schreien und toben. Sie hingegen, sie lag ruhig da und tropfte.

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Wandler, Zeitschrift für Literatur, Heft 18

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