Wandler, Zeitschrift für Literatur, Heft 18: Harald RuppertZurück zur Titel & Inhalt von Heft 18,
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Harald RuppertmaulhaltenDie Wohnung war Karins Werk. Klaus sah zuerst ins Schlafzimmer, dann bedeutete er Achim, ruhig zu sein. Klaus fühlte sich nicht wohl in der Wohnung. Er war stolz auf sie, aber erst wenn Gäste kamen, fühlte er sich selbst heimisch darin. Achim paßte in diese Wohnung. Er paßte zu Karin. Die beiden hätten heiraten sollen, dachte er. Es hatte etwas Endgültiges, wie Achim seinen Mantel an die Garderobe hängte. Aha, dachte Klaus. Famous blue raincoat. Willkommen. Hier bist du zuhaus. Klaus belauerte Achim. Wozu. Sich selbst empfand Klaus als Geständigen. Achim war einfach alles: Schwätzer, Zuhörer, Geständnisentlocker. Klaus wollte ein Schweiger sein. Was war Karin. Eine Schreiberin? Sie mußte es sein, denn Klaus konnte nicht zuhören. Achim zog seine Schuhe aus und hielt sich dabei an der Garderobe fest. Entschlossen nüchtern. Klaus schlich ins Schlafzimmer und holte Bettzeug. Er überzog die Wohnzimmercouch damit. Du bist hier. Das war Karin. Im Morgenmantel stand sie in der Schlafzimmertür. Wen hatte sie gemeint. Entschuldige. Ich wollte dich nicht wecken, sagte Klaus. Hallo Achim, sagte sie. Getrunken? Achim grinste. Zuviel, meinte er. Wie geht´s dir, Frau meines Freundes? Entschuldige: Indianersprache. Kindheitstrauma. Achim lächelte. Sein Gesicht, seine Hände. Nur er hatte diese Geste. Vertraut. Angenehm. Erzähl mal, sagte die. Klaus ging ins Bad und legte eine frische Zahnbürste zurecht. Er hörte die beiden in der Küche reden. Wasser kochte, Teebeutel lagen bereit, als er dazustieß. Achim saß im Schneidersitz auf einem Stuhl vor dem alten Eichentisch. Junggeblieben. Setz dich richtig hin und strapazier deinen Anzug nicht, sagte Klaus. Sie lachten. Drei Studenten, dachte Klaus, und war froh, daß er sich dazurechnete. Achim war wie ein offenes Fenster, durch das frische Luft strömte. Sie konnten reden, Karin und Klaus. Nicht miteinander, aber über Achim. Er erzählte von seinen Erlebnissen, Klaus sah Karin an, und sie wußten: Es ist gut. Jetzt in diesem Moment. Was ist morgen. Armer Achim, dachte Klaus. Wenn du wüßtest, wie gut du tust, in deinem blöden Schneidersitz. Karin saß auf der Arbeitsplatte neben dem Herd, mit verrutschtem Morgenrock bis über die Knie. Sie achtete nicht darauf. Abwechselnd sah sie von Klaus zu Achim. Klaus betrachtete Karin und lauschte Achim. Schon lange fand er sie nicht mehr so appetitlich wie jetzt. Wenn nur Achim heute nacht mit im Schlafzimmer sein könnte. Alles wäre gut, dachte Klaus. Schreib mir einen Liebesbrief für sie, und unterschreib mit deinem Namen. Von dir hängt alles ab, mein Freund. Karin erzählte Achim, daß sie vielleicht bald Gelegenheit bekommen sollte, einen Teil ihrer Gedichte zu veröffentlichen. Klaus war überrascht. Karin sah ihn nur kurz an. Da war er wieder, ihr Nicht-Blick. Klaus war wie vor den Kopf geschlagen. Karin, die veröffentlichte Frau. In der Buchhandlung dann die Fragen, in welcher Ecke das Intimleben der Karin Scheffold zu suchen sei. Wenn alles gut ging, wurde das ganze ein Verkaufsflop. Wer kaufte schon Lyrik, außer ihm? Aber es beunruhigte ihn doch. Erfolg war nicht ausgeschlossen. Karin Scheffold. Das klang nicht unlyrischer als Rose Ausländer. Und viel besser als Ilse Aichinger. Am meisten hatte er Angst davor, ihre Gedichte lesen zu müssen. Da führte kein Weg vorbei, wenn sie erst einmal gedruckt wurden. Die Rezension in der örtlichen Tageszeitung. Lokalgrößen müssen gefeiert werden. O Karin, was hast du angerichtet. Achim war begeistert. Er wisse gar nicht, daß Karin schreibt. Er müsse das unbedingt lesen. Was Klaus davon halte, und diesmal schlug er ihm tatsächlich auf die Schulter, daß es knallte. Klaus glaubte zu träumen. Er wünschte sich weg. Freut mich für dich, sagte er in Karins Richtung. Ihm war schlecht. Er wollte ihr übers Haar streichen und sagen: Karin, dein Innenleben ist mir peinlich. Karin und Achim. Achim und Karin. Er begriff, daß sein Freund ihm nicht unbedingt eine Hilfe war. Er witterte Opposition, Achim konnte zur Gefahr werden, so mit Karin zusammen. Zwei gegen einen. Achim war in Hochstimmung. Los, du Berufsjugendlicher, wirf die Töpfe durchs Fenster und tanz auf dem Tisch, grollte Klaus still. Noch sei alles nicht sicher, hörte er Karins Stimme wie aus der Ferne und sah, wie sie Achim anstrahlte. Wovon hängt es denn ab? Klaus mußte sich zusammenraffen, um sie zu fragen. Lieber hätte er den Vorschlag gemacht, Achim das Bett zu überlassen, um auf der Couch schlafen zu können. Die Entscheidung liegt bei Frommelt, vom Makros-Verlag. Du müßtest ihn kennen. Er hat vor ein paar Wochen diese Vortragsreihe über die Tradition des griechischen Theaters organisiert, sagte sie. Klaus dämmerte es. Groß in der Zeitung hatte das gestanden. Der hatte alle möglichen Geistesgrößen herangezogen. Als ob ein kleiner VHS-Professor nicht gereicht hätte, war Klaus durch den Kopf gegangen. Er mußte mit diesem Menschen reden. Vielleicht konnte er erreichen, daß eine Veröffentlichung der Gedichte verhindert wurde. Daß Frommelt ihm vom ersten Augenblick an unsympathisch war, erleichterte ihm die Sache. Wenn er sich überwinden mußte, um mit ihm zu reden, hatte er das Gefühl, daß er seiner Frau einen Gefallen tat. Frommelt stieg aus dem Bus. Gekonnt an einer Lache vorbei, setzte er mit traumwandlerischer Sicherheit den Fuß auf den Boden. Jetzt könnte ich ihn überfahren, dachte Klaus einen Moment, als Frommelt, ohne nach dem Verkehr zu sehen, über die Straße ging. Waren fünf Minuten genug, oder sollte er ihn länger warten lassen? Der Anruf vom Nachmittag geisterte durch Klaus´ Gehirn. Besser zehn Minuten. Aber vielleicht wartete der ja gar nicht. Wahrscheinlich hatte die Bar noch einen Ausgang auf der Rückseite, Klaus wußte es nicht. Zwei Minuten hielt er es noch aus, dann stieg er aus dem Wagen und ging eilig auf die Bar zu. Den Mantel legte er an der Garderobe ab. Man konnte ihn nicht sehen vom Inneren der Bar. Das war ihm recht. Alles in Ordnung, Krawatte korrekt und trockene Hände. Er ging hinein. Frommelt thronte nicht, er saß. Es dauerte einen Moment, bis Klaus ihn ausgemacht hatte. Er las. Die Werbebeilage der Tageszeitung. Klaus fixierte ihn von weitem. So siehst du aus, für dich allein. Er spürte, wie er sich entspannte. Einen Moment blieb er stehen. Frommelt hatte ihn noch immer nicht gesehen. Gerade hoben sich seine Brauen. Gleichzeitig drängten sie sich zu einer breiten Bürste zusammen. Schnäppchen, dachte Klaus. Er trat näher. Guten Tag, Scheffold ist mein Name. Bin ich richtig, sind wir verabredet? Überrascht sah Frommelt auf. Es gelang ihm nicht gleich, den Prospekt zusammenzufalten. So lange hatte er es in der Hand gehalten, daß das Papier feucht an den Fingern klebte. Habe ich mich getäuscht, dachte Klaus und sah sich um. Da griff der Zeitungsleser seine Hand: Freut mich. Bestellt habe ich noch nicht. Eine warme Hand hatte er. Klaus war überrascht. Den mochte er. Fehlte dem vielleicht sonst noch etwas außer der Bestimmtheit, hatte er vielleicht eine verkrüppelte Hand, oder war ein Bein zu kurz? Klaus konnte nichts entdecken. Trotzdem fühlte er sich selbstsicher. Mit dem konnte man reden, das spürte er. Soll ich Ihnen auch ein Bier bestellen, fragte Frommelt und hob bereits eine Hand in die Höhe, um eine Bedienung heranzuwinken. Die kam nicht. Man wartete. Klaus genoß es, daß er vor Frommelt die Geduld verlor. Mit festen Schritten ging er an die Theke und bestellte. Daß dies der gleiche war, mit dem er telefoniert hatte, brachte er nicht auf die Reihe. Vielleicht würde der sogar Geld annehmen, wenn man ihm gut zuredete. Mit den Gläsern in der Hand kam Klaus zurück. Frommelt hatte den Aschenbecher auf einen Nebentisch gestellt. Oder rauchen Sie?, fragte er Klaus. Ihn würden diese klobigen Dinger einfach stören. Das sei für ihn wie die ausgezogenen Schuhe fremder Leute. Unappetitlich. Außerdem nähmen sie soviel Platz in Anspruch. Klaus stimmte zu. Herr Frommelt hat mich über alles unterrichtet und gebeten, ihn heute Abend zu vertreten, sagte der Leser. Allerdings nur bis die Oper zu Ende sei. Überraschend sei er am Nachmittag zu Karten gekommen. Seit Monaten habe Frommelt sich bemüht, zwei Karten zu erstehen. Und da er gute Beziehungen zum Intendanten pflege, habe es überraschend doch noch geklappt. Herr Scheffold sei leider nicht mehr zu erreichen gewesen, und auch seine Frau habe den Hörer nicht abgenommen. Ansonsten hätte der Chef vorgeschlagen, die Sache um zwei Stunden zu verschieben. So habe aber er einspringen müssen. Windisch sei sein Name. Klaus könne die Umstände doch sicherlich verstehen. Klaus verstand. Und entschuldigte. Einen Handlanger hatte Frommelt ihm geschickt. Er schäumte innerlich, und darüber freute er sich grimmig. Dann hatte er das Gefühl, zu erblassen. Die hatten bei ihm angerufen. Wenn nun Karin da gewesen wäre. Wie hätte er sich da rausgewunden. Ihre Gedichte hatte er noch nie gelobt. Er kannte sie ja überhaupt nicht. Und wo sie die aufbewahrte wußte er zwar, aber es wäre ihm lieber gewesen, sie hätte sie vor ihm versteckt. Wie hätte sie reagiert, wenn er nun bei ihrem Verleger anrief. Klaus spielte mit dem Stiel seines Bierglases. Hinauf und herunter glitten seine Hände. Eine Zigarette. Oder wenigstens ein Raucher mit einer Zigarette. Ernstlich überlegte er, ob er nicht den einsamen Raucher vom Nebentisch einladen sollte, bei ihnen Platz zu nehmen. Traurige Unruhe strahlte der aus. Windisch schaute schüchtern über die Ränder seiner Brille. Der würde sich verschlucken, sobald die härteren Sachen kamen. Klaus war stolz auf seinen kultivierten Alkoholkonsum. Am liebsten waren ihm die modrigen Weine Spaniens. Zu Beginn hatte er sie vor allem deswegen gekauft, weil er die Etiketten nicht lesen konnte. Erst Ahnungslosigkeit garantierte uneingeschränkten Genuß. Inzwischen aalte er sich aber in ihrem aasigen Geschmack. Da war etwas tot, und das schmeckte man. Man stirbt, dachte er dann, und über einen braunroten Fleck verschütteten Weines auf den Polstern konnte er lächeln. Er spürte, wie ihm der Wein in die Augen stieg, bis er dann überzuschwappen schien und alles Geflüster des Tages unter sich begrub. Wie wäre es mit einem Castillo, sagte er nach einem Blick auf die Karte. Windischs Brauen zogen sich zusammen. Außer Sonderangeboten kennt der nichts, dachte Klaus. Windischs Augenbrauen gefielen ihm nicht. Da lag Härte drin, und Härte fand er unvereinbar mit diesem Gesicht. Auch der starke Bartwuchs, den er haben mußte, kam Klaus seltsam vor. Nimm dich in acht vor den Schmalgesichtigen. Den Sehnig-Überlegenen. Die Lehre aus vierzig Jahren. Klaus hätte sich gewünscht, selbst ein schmales Gesicht zu haben. Eine Adlernase, die imstande war, dem Gesprächspartner die Augen auszuhacken. Er fand sich unschön, vor allem von den Brustwarzen an aufwärts. Er hatte einen Busen, eine richtige Brust, fand er. Dabei war er nicht dick. Karin hatte immer gesagt, er habe einen knackigen Arsch. Das sei ihr aufgefallen. Heute fällt ihr nichts mehr auf, dachte Klaus. Entblößte Fleischmassen in verführerisch drapierten Leintüchern konnten sie nicht mehr locken. Daß dir nicht kalt ist, hatte sie das letzte mal gesagt, als er, scheinbar absichtslos, seinen nackten Hintern aus der Bettwäsche reckte. Orgie, hatte es in ihm geschrien, Orgie, Füllhorn und Dunkelheit. Besonders häßlich fand er sich, als er diesen pickligen Ausschlag hatte, zwischen Kinn und Bauchnabel. Einen Hobel hatte er sich vorgestellt, einen richtigen Schreinerhobel, wie er über ihn hinwegfahren würde, daß der Eiter spritzte, Hauptsache weg mit dem Zeug, und verdient hätte er den Schmerz, denn er war häßlich, und daß das nicht zum Himmel schrie war noch sein Glück. Gehirnmase sollte das sein, das da aus dir herausquillt, mit jedem Pickel ein Stückchen Schwachsinn mehr, gequetschte Intelligenz in zusammengeknüllten Papiertüchern. Dann hätte alles sein Gutes gehabt, aber so war er zum Hautarzt gegangen, und nach fünf Wochen war der Ausschlag verschwunden und mit ihm Karins Aufmerksamkeit. Er fand sie nekrophil, und das war ihm unheimlich. Wie alt mochte dieser Frommelt sein, mit Halbleichen trieb sie´s wohl am liebsten, so wie er sie einschätzte. Beinahe zärtlich hatte sie gefragt, soll ich dich einreiben, und als er sich nicht getraut hatte, ja zu sagen, fing sie einfach von ganz alleine an, ihn mit der verordneten Salbe zu massieren. Allmählich war sie tiefer geglitten, und er saß da, genießend, schämte sich seiner Pickel im hellen Lampenlicht. Im Rollstuhl müßte ich sitzen, dachte Klaus. Verletzte Körper zogen sie an. Wahrscheinlich war es gar nicht sein Hintern gewesen, der ihr aufgefallen war, sondern seine Häßlichkeit, von den Brustwarzen an aufwärts. Ihre Neigung faszinierte ihn und machte ihm Angst. Daß sie ihn nur begehrte, wenn er körperlich in schlechter Verfassung war, beunruhigte ihn. Nichts war schlimmer, als zu wollen und nicht zu können. Trotzdem genoß er die Erregung. Leider war er lange nicht mehr krank gewesen. Simulieren galt nicht. Karins Gespür war untrüglich. Hack dir eine Hand ab, dachte er, und jede Nacht wird zum Fest. Dann hätte sie endlich ihren Makel und er seinen Spaß. Der Wein kam. Windisch nahm einen Schluck und verzog das Gesicht. Natürlich, dachte Klaus. Aber diese Augenbrauen. Die paßten einfach nicht. Das waren die Brauen von einem, der sich ein Monokel ins Auge klemmte. Eine Soldatenbraue. Die Braue eines Generals in Reiterhosen. Herrisch war die. Daß da wieder einmal etwas sein mußte, das nicht ins Gesamtbild paßte. Einen Trinkspruch, bitte, einen Trinkspruch, forderte Windisch. So einer war das. Ein Ich-habe-einen-guten-Grund-Trinker. Feiern wir, sagte er. Trinken wir auf die Gedichte ihrer Frau. Beinahe wütend stieß Klaus sein Glas gegen das seines Gegenübers. Man trank. Windisch kaum. Klaus halb leer. Wie sollte er das nur anfangen, das Gespräch bei den Gedichten zu halten, ohne auf deren Inhalt eingehen zu müssen. Das war ein Glücksfall für Karin, daß sie Herrn Frommelt kennengelernt hat, sagte Klaus. Freue dich, du Heuchler. Lächle. Quetsch ihn aus. Über Frommelt mußte er mehr wissen. Wie kam es, daß gerade Karin zu dem Kontakte knüpfen konnte. Trink und gestehe, Windisch, Wetterfähnchen. Häng dich in meinen Wind, oder ich mach dich blau. Ein solches Talent wie Ihre Frau, sagte Windisch, mußte einfach entdeckt werden. Klaus fand das überhaupt nicht, nickte aber. So etwas Zerscherbtes sei in ihren Gedichten. Lächeln von Klaus. Das hatte er befürchtet. Ob Klaus schon wisse, wie man den Band nennen wolle, Tagesbitter solle er heißen. Daß der nicht warten konnte. Klaus wollte das nicht hören. "Arbeitstitel?", fragte er, in der Hoffnung da sei noch was zu machen. Windisch schüttelte den Kopf. Der Titel sei beinahe sicher. Tagesbitter also. Wahrscheinlich mit einem Punkt dahinter. Der Endgültigkeit wegen. Was sollte man da sagen. Klaus nickte. Schön. Windisch winkte der Bedienung. Wo denn hier die Toilette sei. Langsam stand er auf, der Gefragte wies ihm die Richtung. Von den paar Schlückchen, sagte er noch, dann bewegte er sich langsam auf die Toilette zu. Seine Brieftasche ließ er liegen. Warum auch nicht. Die Geste des Beauftragten: Heute zahlt der Verlag. Klaus konnte nicht widerstehen. Es gab nichts mehr auszurichten. Nichts, gar nichts hatte er herausgefunden. Dafür wollte er sich trösten. Und wenn er nur Windischs unnütze Kontonummer erfuhr. Oder sein Paßbild. Ihm war alles recht. Klaus öffnete das Kleingeldfach. Scheine waren darin, quadratisch zusammengefaltet. Kleinkrämer, dachte Klaus. Das Scheinfach dagegen war leer. Viel verdiente er wohl nicht. Ein Päckchen von Frommelts Adresskarten fand er. Er riß sich eine ab. Eigene hatte Windisch nicht bei sich. Und den hatte man geschickt. Klaus sah sich bestätigt. Er zog ein Bild heraus. Wohl die Frau. Nett sah sie aus, lange Spaghettihaare und ein bißchen traurig. Klaus mochte sie. Und auch Windisch mochte er, weil der nichts zu sagen hatte. Der Ausweis. Windisch war zwei Jahre jünger als Klaus. Besonders für die besonderen Kennzeichen interessierte er sich. Keine, stand da. Enttäuschend. Er steckte den Ausweis ins Fach zurück. Der läuft bald ab, mein Lieber. Einigermaßen befriedigt legte Klaus die Börse an ihren Platz zurück. Er nahm sich die Visitenkarte. Frommelt wohnte im Villenviertel. Bei den Neubauten. Klaus kannte die Gegend. Neuschwansteinhäuser. Wo blieb Windisch nur. Klaus sah sich um. Hier war er noch nie gewesen. Immer nur vorbeigegangen. Daß Frommelt diese Bar vorgeschlagen hatte, wunderte ihn. Neureich sah hier keiner aus. Eher Windisch-Typen. Klaus fand, daß er selbst zum Kreis der Gäste passe. Hier hingen keine Spiegel an der Wand. Ein sicheres Zeichen dafür, daß hier keine Yuppies verkehrten. Die wollten sich sehen. Klaus nicht. Er fand diese Spiegel-Manie unmöglich. Ständig mußte er sich selbst überprüfen, wenn er sein Spiegelbild vor sich hatte. Dabei hatte er gemerkt, daß er unmöglich aussah, wenn er aus einem Bierglas trank. Außerdem stellte er beschämt fest, daß zu seinem großen Kopf nichts besser paßte als ein Bierglas. Vor allem Weizengläser waren schlimm. In solchen Spiegel-Cafes trank er nur noch Wein. Klaus in der Totalen. Nichts war schlimmer. Schon wieder war sein Glas leer. Diesmal bestellte er eine ganze Flasche. Zum selbst Öffnen, sagte er der Bedienung. In Gaststätten machte es ihm besondere Freude, die Flasche selbst zu entkorken. Das gab ihm das Gefühl, nicht nur Gast, sondern Gastgeber zu sein. Selbst wenn er nicht selbst bezahlte, wollte er die Flaschen öffnen. Den wesentlichen Schritt zur Gelassenheit, die erst mit Alkohol möglich war, den wollte er vollbringen. Wie wohl mein Rundrücken aussieht, dachte er. Daß diese Spiegel einen immer dazu verführten, hineinzuschauen. Jetzt hätte er einen gebraucht. Mängel sah man darin. Sonst nichts. Die Flasche kam und er entkorkte. Er schenkte ein. Dann drehte er den Korken aus dem Korkenzieher und legte ihn neben die Flasche. Die Feinheiten, sagte der leise vor sich hin. Er dachte: das Alter. Er war nicht alt. Jeans trug er, und Hemden ohne Karos. Alt war er nicht. Nur die Stimmen im Kopf wurden langsam lauter. Seit zwei Tagen schwiegen sie. Keine Zitate. Kein ungelebtes Leben. Je mehr er las, desto mehr zitierte er. Je mehr er las, desto weniger erlebte er. Lesen war sein Weg, um über die Runden zu kommen. Das wußte er, das genoß er. Sein Wissen war sein Schild. Tot zwar, aber kräftig. In letzter Zeit litt er darunter. Mehr und mehr Bücher las er übers Schweigen. Gedichte, die sich entzogen. Die weniger und weniger wurden. Durchgehend numeriert, fortschreitende Variationen des gleichen Themas, verschwindend. Der Fortgang des Vorgangs verschluckte die Worte. Die Information konzentrierte sich. Das Gedicht in einem Wort, das war das Endziel. Die Identifikation wäre an ihr Ende gekommen. Das bin nicht ich, das ist ES. Der ästhetische Vorgang nämlich. Lesen um des Entzugs willen. Um nicht mehr verstehen zu wollen, darum lese ich. Denn nicht ich bin das Gelesene, sondern ES. Am Ende steht das Schweigen, und ausgelöscht bin ich. Radiert, ohne zu kaschieren. Und darunter ein lautes JA!. Windisch kam. Endlich. Lächelnd und störend. Eine Bresche schlage ich. Ich, Windisch, im Namen meines Auftraggebers. Sprich mit mir, und sündige nicht. Denn ich bin das Wort. Und jetzt machs Maul auf. Klaus schenkte ihm ein. Windisch wand sich. Aber er trank. Das war die Hauptsache, fand Klaus. Würstchen, dachte er liebevoll. Verschätz dich nicht, beschwor er sich bemüht. Du bist betrunkener als er. Sehr gepflegte Toilette, sagte Windisch. So, machte Klaus. Frommelt würde kommen, und was sollte er sagen. Aus Windisch bekam er nichts heraus. Sie müssen eine sehr aufgeklärte Ehe führen, sagte Windisch. -Wie kommen sie darauf? Klaus horchte auf. Karin sollte er das einmal sagen. Die wußte das gar nicht.- Nun, bis heute Vormittag war mir gar nicht klar, daß es überhaupt einen Herrn Scheffold gibt. Und ich habe schon einige Male mit Ihrer Frau gesprochen. Beruflich. Windisch hatte noch nie von ihm gehört. Klaus atmete auf. Lange konnte der noch nicht hier sein. Zumindest hatte er keine Ahnung von seiner Niederlage in der Tagespresse. Erleichtert war er, und ihm war mulmig. -Karin trifft ihre Entscheidungen gern allein. Und ich lasse sie, sagte er. Klaus zwickte sich in den Oberschenkel. Falle zu. Das wars. Das Buch kommt raus. Wahre den Schein. -Wissen Sie, wie ich sie nenne, lieber Windisch? Marianne. Die Marianne der Franzosen, Sie wissen schon. Weil Karin genau so ist. Flagge raus, und ab durch die Mitte. So war sie schon immer. Aber sie erzählt mir alles. Und umgekehrt. Nur so geht´s weiter, sagte Klaus, und dachte an die traurige kleine Frau in Windischs Börse.- Kennen Sie den Satz von Henriette Goldschmidt: Wir haben wohl Väter der Stadt, aber wo sind die Mütter? Und genauso ließe es sich über die Literatur sagen, finde ich, wo sind da die Frauen, und deshalb freue ich mich, daß meine Frau schreibt. Windisch nickte eifrig, ein Gesinnungsgenosse, und Klaus dachte weiter an die kleine traurige Frau, die jetzt vor dem Fernseher saß. Das machte ihm das Lügen leicht, zu wissen, daß Windisch wohl auch log mit seinem Nicken. Man trank auf die Emanzipation der Frau. Die Frauen seien die besseren Menschen, da waren sich beide einig. Klaus fühlte sich zunehmend wohl in seiner Haut. So fand er sich dezent und sympathisch. Als Rechtgeber. Klaus lehnte sich in seinen Stuhl, gab seinen Rundrücken nach. Er stützte mit der Hand den Kopf ab, den Ellbogen auf der Lehne des Stuhls. Wohlig ließ er die andere auf den Tisch fallen. Es patschte, weich und kühl. Was war das. Windischs Hand? Der hatte bereits aufgehört zu sprechen. Erschrocken zogen beide ihre Hände zurück. Betretene Stille. Klaus streckte, unmerklich, seinen schiefen Rücken durch. Keine Blöße geben, war alles, was er dachte. Mit einem satten Klatschen, das außerdem ein wenig feucht klang, hatte er seine Hand auf die von Windisch fallen lassen. Was sollte der denken. Entschuldigung, Entschuldigung, dachte er fahrig und beschwichtigend, dann sagte er: Oh! Windisch zwinkerte. Weshalb nur. Dann redete er weiter. Über die Rolle der Frau als Inspiration für den Dichter. Klaus richtete sich auf. Da müsse er widersprechen, sagte er, distanzieren müsse er sich von der Behauptung Windischs, mit der Sublimierung der Frau zum reinen, fleischlosen Geist, mit ihrer Überhöhung ins Göttliche habe ihre Emanzipierung begonnen. Alles andere als feministisch sei das doch gewesen. Reines Mittel zu unheiligen Zwecken. Denn was wollten sie denn, die Herren, ins Heu, und die Dämchen auch, da solle man sich doch nichts vormachen. Da würden die Rosenknospen eben wieder zu Brüsten, und gestöhnt würde dann, aber orntlich, und das sei dann die Hauptsache, von wegen Geist und so. Geist ist die Sinnlichkeit des sexuell Verhinderten, Windisch, deshalb schreibt der Mann, und weil ihn irgendwas zwickt an Stellen, wo bloß mal jemand schütteln müßte, dann wär´s schon wieder besser. Und bei den Schriftstellerinnen genauso, Windisch. Weil sie irgendwann genug haben von ihren Männern mit fetten Bäuchen, die jeden Samstag wabblig auf ihnen liegen, aber andere sind eben nicht zu kriegen, deshalb bleibt's beim Samstagswabbel, und weil's so ist und nicht anders, darum schreibt die Frau des Mittelstands. Ganz allgemein: Weil eben beide einen anderen wollen oder einer nicht mehr kann, deshalb gibt es Bücher. Windisch schwieg. Dann lachte er. Ein Spaßmacher sei er, der Herr Scheffold. Prost. Auf den Komödianten, daß er noch lange Späße mache und nicht anfange Bücher zu schreiben, denn dann wisse man ja was los sei, haha. Klaus fand sich maulig nach seiner platten Tirade. Aber auch froh, daß er die Sache mit der Hand durch seinen Widerspruch ausgebügelt hatte. Er hörte nicht mehr auf das, was Windisch sagte. Windisch riß eine Papierserviette zu einer Spirale und sprach weiter. Klaus überlegte, wie er sich davonstehlen konnte. Ihm wurde übel bei dem Gedanken, vor Frommelt ebenso weiterlügen zu müssen. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis er käme. Statt Trenchcoat würde er einen Frack tragen, aber sicher sah an ihm alles gut aus, im Gegensatz zu Klaus. Er fühlte sich nie wohl in seiner Kleidung, egal, was er trug. Er gefiel sich nicht in seinen Klamotten, die er aus den Siebzigern herübergerettet hatte, Ententreter und lange, weite Hemden. Aber auch seinen Smoking mochte er nicht. Die Schultern waren zu sehr ausgepolstert, und so hatte er das Gefühl, daß er keinen Hals hatte. Aus der Jacke ragte gleich der heruntergesunkene Kopf, und Klaus sah verkniffen und unbeweglich aus. Bin ich denn so, fragte er sich. Nur sein verschlissener Frottee-Bademantel paßte zu ihm, den mochte er wirklich. Karin hatte ihn eingemottet, in der Hoffnung, der penetrante Geruch würde nicht die Motten, sondern Klaus abschrecken. Ihn wegzuwerfen, traute sie sich nicht. Die Ärmel sind zu kurz. Siehst du das denn nicht, maulte sie. Mit mir ist kein Staat zu machen, sagte Klaus dann nur, und freute sich, die Hände in den gelbgestreiften Taschen. Dann schlug Karin die Tür zu. Ein Ritual. Der Privatmensch in der Badewanne, so sah er sich. Lottrig und ohne Ideologie. Letzte Woche war Karin das letzte mal so aus dem Zimmer gestürmt. Rumms, und jetzt schreibt sie ein Gedicht, hatte Klaus gedacht. Für Klaus, mit einem Blümchen dran. Lotterleber. So könnte es vielleicht heißen. Lotter für seinen Bademantel, und Leber für seinen Alkoholkonsum. Gesammelte Scheidungsgründe, erster Band. Bald würden sie erscheinen. Frommelt würde kleine Altersflecken am Handrücken haben. Vom Denken, vom Rauchen und von der Weisheit. Moses hatte Altersflecken gehabt, da war sich Klaus sicher. Manche wurden alt geboren. Und weise. Jesus, Moses und der liebe Frommelt, sonst fiel ihm keiner ein. Er mußte raus, bevor Frommelt kam. Klaus überlegte, wie er sich davonstehlen konnte. Sollte er der Bedienung Geld geben, damit die ihn ans Telefon rief. Dringend sei es, die Frau, und dann schnell umgedreht, bevor Windisch den Hörer wollte, um sie zu begrüßen. Schließlich kannte man sich. Die drei oder vier Stufen zur Toilette hinabstolpern und einen gebrochenen Knöchel simulieren, schied aus. Windisch würde ihn prompt zur Notaufnahme fahren. Oder sollte er den Fuß gegen den Türrahmen stoßen, nicht so schlimm, wahrscheinlich gebrochen, aber fahren kann ich noch, danke. Der Bremszeh ist heil geblieben, haha. Windisch saugte an einem Eiskaffee. Um wieder klar denken zu können, wie er sagte. Natürlich. Der Chef nahte. Klaus verstand das. Karin würde alles erfahren. Das wurde ihm erst jetzt klar. Sie würde wissen, was er mit diesem Treffen bezweckt hatte. Auch wenn Windisch keine Ahnung hatte, aus welchen Gründen Klaus heute hergekommen war. Karin wußte fast immer alles, was Klaus verheimlichen wollte. Und nur, daß sie das meiste davon verheimlichte, machte sie erträglich. Befriedigung bei Klaus, wenn sie etwas nicht wußte. Ein Sieg. Er sah sie, mit dem Hörer in der Hand, ach was, und, was Sie nicht sagen, ist das wahr. Wenn sie dann auflegte, würde sie an Scheidung denken. Nicht für Klaus, für Klaus nicht, würde in der Widmung stehen, und seine Niederlage wäre vollkommen. Das wäre schrecklich. Das wäre schlimm. Wissen Sie schon, wie die geplante Ausgabe aussehen soll?, fragte er Windisch. Der wendete den Blick von seinem Strohhalm. Als Taschenbuch wolle man es herausbringen, weil das billiger sei. Mit einer festen Ausgabe befürchte man, sich in die Nesseln zu setzen. Auflage zunächst dreitausend. Ansprechend solle der Buchdeckel sein, ohne kostspielig zu wirken. Das passe nicht zu den Gedichten. Aber ein Foto von Karin solle auf die Rückseite des Einbands. Das wirke verkaufsfördernd, und schließlich sei sie äußerst fotogen. Klaus widersprach. Karin sei ihm teuer, und deshalb wünsche er eine gebundene Ausgabe, ihm persönlich würde dunkelblaues Leinen zusagen, aber die ganze Sache liege natürlich bei Karin, ihr Buch sei es, aber ihm würde auch ein Reliefrand auf dem Titel gefallen, eingestanzt, und in diesem Rahmen dann den Titel. Ob es den Käufer nicht neugierig machen würde, wenn der Name der Autorin erst auf Seite drei erscheine. Nur Tagesbitter also auf dem Buchdeckel, sonst nichts. Und ein Lesebändchen sei natürlich obligatorisch. Letzten Endes wolle er klarstellen, daß mit diesen Mehrkosten, die über das geplante Konzept hinausgingen, natürlich keineswegs der Verlag belastet werden solle. Er würde sie selbst übernehmen, und so könne ein schön aufgemachtes Buch zu einem günstigen Preis auf die Ladentische kommen. Windisch nickte. Es gefiel ihm. Klaus war erleichtert. Nur eines, gab Windisch zu bedenken. Bei der Gestaltung des Buckdeckels müsse man natürlich Rücksicht auf die Gestaltung der Programmreihe nehmen. Nichts spräche dagegen, Karins Band das Design der etablierteren Lyrikbände des Verlags zu geben, aber dann müsse freilich auch der Name auf dem Buchdeckel erscheinen. Da gäbe es keine Ausnahmen. Aber Scheffold neben Brückner, das ließe sich wohl machen. Klaus nickte. Wenigstens das befürchtete Foto ließe sich so vermeiden. Und Karin würde ihm um den Hals fallen, wenn sie das nächste mal beim Verlag anrief. Ganz sicher würde sie ihn wieder einen Bibliomanen nennen, diesmal mit einer feuchten Zunge an seinem Ohr. Er stellte sich die Widmung vor: Für Klaus. Kursiv, in Großbuchstaben. Verdammt! Auf den Fersen humpelte Klaus die Stufen hinauf. Windisch
eilte heran. Es geht schon, sagte er einer dazukommenden Bedienung.
Er fasste Klaus´ Handgelenk und half ihm so die Stufen empor.
Kalte Hand, dachte Klaus. Vielleicht konnte das heute noch was
werden mit Karin. Sie müßte die Hände in Eiswasser
halten. Aber wie konnte man ihr das begreiflich machen. Sie wußte
immer alles, aber begreifen konnte sie nichts. Eine Überraschung
habe ich für dich, Karin, und dann würde er ihr alles
erzählen, humpelnd, und auch einen kaputten Zeh. Irgendwie
mußte er sie schon anlocken. Ob ein Zeh da reichte? Aber
zusammen mit der Dankbarkeit... Enttäuscht merkte Klaus,
wie Windisch den Griff lockerte und dann ganz losließ, als
sie den Tisch erreicht hatten. Warum konnte Karin nicht so kalte
Hände haben. Maschinell und zwingend. Irgendwie ehrlich.
Auch er selbst hatte nur selten kalte Hände. Geradezu widerlich
warm fand er sich. Dschunglig. In der Badewanne würde er
in Windeseile zuwachsen, dachte er manchmal. So tropisch warm
war er. Nur ein Tag im Wasser, und erste Algen würden sich
bilden, ein leichtes Grün im Wasser. Probier das bloß
nie aus, sagte er sich. Er duschte lieber. Sicherlich war Frommelt
kalt. Ein Intellektueller eben. Aus diesem Grund tranken die ständig
Cappuccino. Um warm zu werden und überlegen auszusehen. Peitschenfinger,
dachte Klaus. Aus welchem Buch stammte dieser Ausdruck doch gleich.
Es fiel ihm nicht ein. Dann leuchtete die Quelle in ihm auf. Peitschenfinger-Nosferatu-Frommelt.
Eine Reihung, prompt und treffend. Er stellte sich vor, wie Frommelt
seine kalten Finger um die Cappuccino-Tasse wickelte. Gelbgefärbt
vom Nikotin, ein Kontrast zum weißen Porzellan. Er würde
nippen, nicht trinken. Und den Milchbart unauffällig ablecken,
bevor er die Tasse wieder absetzte, ohne daß man es sehen
konnte. Wenn überhaupt ein Milchbart entstehen konnte bei
dieser Trinkweise. Klaus war anders. Beherrschte Gier. Karin war
der Kaffee immer zu heiß. Auch der Cappuccino. Sie war empfindlich.
Klaus hatte seine Tasse geleert, wenn sie ihren ersten Schluck
nahm. Dabei bemühte er sich, langsam zu trinken. Er trank
langsam. Aber zu schnell für Karin. Da wurde Genuß
zur Qual. Daß man das Beste, den Milchschaum, nicht für
den Schluß aufheben konnte, wurmte ihn. Man müßte
den Kaffee wegtrinken können, ohne vorher den Schaum abschlürfen
zu müssen. Einen Strohhalm bitte, dachte er jedesmal, und
es wäre ihm egal gewesen, schlürfend mit einem Plastikröhrchen
dazusitzen. Aber ein breiter Trinkhalm müßte es sein,
damit viel hindurchpaßt, möglichst alles auf einmal.
Und Karin dürfte nicht mit am Tisch sitzen. Kaffee ohne Karin,
das war das Glück. Überhaupt schien ihm das der Hauptunterschied
zwischen sich und den Intellektuellen zu sein. Ein Intellektueller
trank und dachte. Klaus trank und trank. Sollte Frommelt doch
allein denken. Klaus würde hinaushumpeln, bevor der kam und
dachte, und humpelnd würde Klaus wissen, daß er davonrannte.
Windisch sah besorgt aus. Ob er Herrn Scheffold zum Arzt fahren
sollte, aber Klaus sagte danke nein, aber das Gefühl, daß
etwas gebrochen sei, habe er schon, wohl der kleine Zeh, und wenn
Windisch so nett sei, in der Zeitung nachzuschlagen, welcher Arzt
heute Notdienst habe, würde er schon selbst hinfahren. Windisch
nahm seine Zeitung, blätterte, nannte schließlich eine
Adresse und sah ratlos aus. Winzig. Schuldig. Klaus wurde unruhig.
Frommelt konnte jeden Moment auftauchen. Wenn nicht gerade der
Ring des Nibelungen gegeben wurde, jedenfalls. Windisch sah schuldbewußt
drein. Sagen sollte der etwas, damit Klaus endlich gehen konnte.
Windisch schwieg. Saß da und sah drein. Irgendwie leer inzwischen,
fand Klaus. Er bewegte den verletzten Fuß und verzog schmerzlich
das Gesicht. Vielleicht würde Windisch ja nun etwas sagen.
Kann ich Sie noch bis zum Auto bringen, fragte Windisch. Aber
schnell, dachte Klaus und sagte: Selbstverständlich, danke.
Windisch hatte gebeten. Nicht ob er soll; ob er darf, hatte er
gefragt. Schnell zog Klaus seinen Mantel an, als er, Windischs
Hilfe mit einem Nicken akzeptierend, bei der Garderobe ankam.
Ich habe nicht bezahlt, sagte er der Form halber. Das übernehme
ich, sagte Windisch. Firmengeld, dachte Klaus noch einmal, und
bedankte sich. Aber er bestehe darauf, auch Windisch einmal einladen
zu dürfen. Man ging hinaus, Klaus auf Windisch gestützt,
leicht humpelnd und schnell, wobei Windisch beinahe gezogen wurde.
.. Wandler, Zeitschrift für Literatur, Heft 18Zurück zum Anfang der Seite, zur Titel & Inhalt von Heft 18, zur Wandler Startseite |