Wandler, Zs. für Literatur, Nr.18: Rezension: K. Barwasser: Mutterkorn

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REZENSION

Und weiter sterben die Mütter

Karlheinz Barwasser: Mutterkorn. München: A1-Verlag, 1996. ISBN 3-927743-25-9; 152 Seiten, DM 28.

(VS) Über Trauer zu schreiben, den persönlichen Verlust eine nahen Menschen literarisch zu verarbeiten ist ein Bedürfnis, das sich in der deutschen Literaturgeschichte weit zurück verfolgen läßt. Schon Johannes von Saaz hat um 1400 den Ackermann von Böhmen in ein Streitgespräch mit dem Tod treten lassen, weil seine Frau unerwartet verstorben war.

Heute taugt der Sensemannn als Allegorie des Todes nur noch in seiner ironisch verfremdeten Form (s. Woody Allen: Die letzte Nacht des Boris Gruschenko). In zeitgenössischen Erzählungen über den Tod stehen vielmehr das zurückliegende Leben des Verstorbenen im gesellschaftlichen Kontext und die von Trauer verzerrten Empfindungen des Erzählers im Vordergrund.

Aus dem Bedürfnis der literarischen Verarbeitung des Todes erwächst Sprachkraft, der Tod und die eigene Trauer werden artifiziell zu fassen versucht. In einer Atmosphäre zwischen Realität, Vision und Traum, im unwirklichen Leben in Trauer werden ganz persönliche, manchmal intime Gedanken sichtbar, Gefühle und Träume, selbst da, wo es, wie etwa in Peter Handkes Wunschloses Unglück, darum geht, gegen die eigenen Gefühle anzuschreiben und diese hinter einer aufgesetzten Chronistenmaske zu verstecken.

Andere Autoren erschlagen ihre LeserInnen mit dem Ich ihrer deutlich authentischen Texten. Ganz der eigenen Trauer verpflichtet, fallen alle Grenzen des Konventionellen, des 'Schicklichen', da entladen sich Emotionen, da liegt die 'Seele' bloß. "Vergebt mir. Ich ficke meine Mutter.", heißt es in einer zentralen Traumsequenz in Ludwig Fels' Der Himmel war eine große Gegenwart. Und man hat schon so intensiv mit dem Ich-Erzähler-Autor gelitten, hat sich mit ihm dem Wechselspiel von Symbiose und Individuation hingegeben, daß man seine Haßliebe nachvollziehen kann und auch diesen Traum vom Inzest als Wunsch nach Erhalt des Verlorenen begreift. Die Mutter ist tot, unwiederbringlich. Verstehe das jemand!

Und weiter sterben die Mütter. Der neueste Beitrag zur vielfältigen Trauerliteratur stammt wohl von Karlheinz Barwasser. Ähnlich wie Ludwig Fels beschreibt er in Mutterkorn die Haßliebe des Sohnes zur Mutter, und was dabei an Sprachkraft und Erzählfluß herauskommt, steht dem bekannteren Fels in nichts nach.

Georg Wander, der Erzähler in Mutterkorn, erhält von seiner Schwester telefonisch die Nachricht vom plötzlichen Tod seiner Mutter, zu der er seit Jahren keinen Kontakt mehr hatte. Der "Roman" (s. Klappentext), der eine Erzählung ist, gibt die mit der Todesnachricht einsetzenden Erinnerungen des Ich-Erzählers wieder: die ungezählten Kochlöffel, die die Mutter auf dem Rücken des Sohnes zerschlug, die sonntäglichen Züchtigungen des Vaters, die verletzenden Peinlichkeiten, mit denen die Mutter den erwachsenen Sohn in der Öffentlichkeit bloßstellte. Und immer wieder klingt der Satz der Mutter in den Ohren des Sohnes, wie eine Drohung begleitet er den Erzähler: "Daß du mich bloß liebst, Sohn!"

Eine solche Mutter müßte jeder Sohn hassen, zeigte sie in ihrer Erbärmlichkeit nicht die Unfähigkeit zu lieben. Und von dieser Ambivalenz zwischen Haß und der Suche nach Verständnis lebt die Erzählung Barwassers. Eigentlich ist ja alles klar: Der Sohn hat die Trennung von der Mutter seit Jahren vollzogen; alles, was er mit ihrem Tod noch verarbeiten könnte, müßte zu einer Abrechnung mit der Verstorbenen geraten - ähnlich wie Christoph Meckel in Suchbild mit seinem verstorbenen Vater und dessen Haltung im Nationalsozialismus abrechnet. Daß Mutterkorn keine Abrechnung ist, liegt an den Ähnlichkeiten zwischen Mutter und Sohn, die hintergründig in der Erzählung deutlich werden. Und so wird auch in Mutterkorn, wie in Fels' Der Himmel war eine große Gegenwart das Wechselspiel zwischen verschworener Einigkeit und abgrundtiefer Verachtung deutlich. Barwasser beläßt es nicht bei Inzest-Phantasien, er seziert den Mutterkörper, nimmt ihn auseinander Stück für Stück, um ihn dann wieder zusammensetzen zu können: die Mutter wird ausgestopft!

Barwasser findet für das Innerste seiner Sohn-Figur eine Sprache, die mitreißt. Wie Nebensächliches wird die Erinnerung in Nebensätze verpackt, die die Endgültigkeit eines Schlußpunktes scheut. Noch nach der Lektüre bleibt die Vorstellung, der Text bestünde aus einem einzigen temporalen Nebensatz: Ich erinnere mich, wie... In diesem Sprachfluß wird auch die Lebensgeschichte des Erzählers wie nebensächlich mitgeliefert: der schwule Sohn kündigt seinen Fotografenjob, kommt wegen Geldbetrügereien für drei Jahre ins Gefängnis und versucht sich als Schriftsteller. Die verlogene Schäbigkeit, die Barwasser in Mutterkorn beschreibt, hat ihren Sitz im Leben. Verkneifen wir uns die Frage nach der Authentizität der Erzählung.

Der Autor erhielt 1992 das Literaturstipendium der Landeshauptstadt München für diese Erzählung. Die ersten vier Kapitel sind in WANDLER Nr. 11 abgedruckt.

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Wandler, Zeitschrift für Literatur, Heft 18

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